Westeuropa (Einführungsdossier)

Europa wächst zusam­men — das wird nir­gends so deut­lich wie in der Infra­struk­tur. Heute kann man Europa von Nord nach Süden — von Däne­mark (und bald auch vom Nord­kap) bis an die Süd­spitze Ital­iens durch­queren, ohne ein einziges mal die Autostraße ver­lassen zu müssen oder gar ein­er Gren­zkon­trolle unter­wor­fen zu sein. Seit dem Jahrtausen­wech­sel arbeit­et die EU daran, mit stan­dar­d­isiert­er Tech­nik für Loko­mo­tiv­en, abges­timmten Fahrplä­nen, gemein­samen Sicher­heit­srichtlin­ien und ein­er zen­tralen Auf­sichts­be­hörde den Güter­verkehr auf den Eisen­bahn­net­zen inner­halb der EU ein­fach­er und schneller zu machen. Die neuen Hochgeschwindigkeitsstreck­en der europäis­chen Eisen­bah­nen wer­den miteinan­der verknüpft. Das europäis­che Hochgeschwindigkeit­snetz (HGV) wird von Spanien bis Polen und Schwe­den, von Großbri­tan­nien bis Ital­ien und Rumänien die europäis­chen Zen­tren ver­net­zten. Es erlaubt ab Juni 2007, mit dem ICE oder dem TGV von Paris aus in nur 6 Stun­den München zu erre­ichen. Mit 320 km/h wer­den sowohl der franzö­sis­che TGV wie auch der ICE 3 von Siemens gemein­sam zwis­chen Deutsch­land und Frankre­ich verkehren und die Fahrtzeit zwis­chen Paris und Stuttgart oder Frank­furt auf weniger als 4 Stun­den reduzieren. Die gemein­same Betreiberge­sellschaft von Deutsch­er Bahn und SNCF wird die bish­er nationalen Beschränkun­gen auf den Pres­tigeträchti­gen HGV-Zügen aufheben. Dieses Pro­jekt hat nicht nur Sig­nal­wirkung für den Export — von Argen­tinien bis Chi­na wer­den Mil­liar­den-Auss­chrei­bun­gen für neuen Hochgeschwindigkeitsverkehr auf Schienen erwartet, bei denen sich Japan und Europa in schar­fer Konkur­renz gegenüber ste­hen. Der Europäis­che HGV führt zum ver­stärk­ten Zusam­menwach­sen Europas. Manche Fran­zosen ver­legten aus steuer­lichen Grün­den ihren Wohn­sitz nach Bel­gien oder Eng­land — denn das Zen­trum von Paris ist mit der Hochgeschwindigkeits­bahn von Brüs­sel oder Lon­don aus fast genau­so schnell zu erre­ichen wie mit dem Auto, wenn man aus ein­er der Vororte kommt und sich durch die ver­stopften Straßen zur “rush hour” quälen muss.

Ein weit­eres Beispiel des “Zusam­menwach­sens” ist die Energiev­er­sorgung. Rund um die Nord­see entste­hen gigan­tis­che Wind­kraftan­la­gen. Alleine der vom Energiekonz­ern Vat­ten­fall im Ärmelka­nal vor Eng­lands Küste in Betrieb genommene Hochsee-Wind­park “Thanet” wird 100 Win­dräder zur Erzeu­gung von 300-Megawatt auf eine Fläche von 35 Quadratk­ilo­me­tern aufnehmen. Ähn­liche Anla­gen sind an der gesamten Nord­seeküste von Schot­t­land bis nach Däne­mark geplant. Knapp 50 km vor Borkum hat E.on ein Dutzend Win­dan­la­gen ins Meer geset­zt — jed­er einzelne Turm in der Größe des Köl­ner Doms. Vor der Insel Sylt wird von Vatt­ten­fall und den Stadtwerken München (SWM) eine Anlage mit 89 Wind­kraftan­la­gen für bis zu 400 Megawatt Pro­duk­tion errrichtet. Diese Anla­gen sollen miteinan­der ver­bun­den wer­den — und mit nor­wegis­chen Wasserkraftwerken ein Ver­bund­netz bilden, das in schwachen Abnah­mezeit­en erlaubt, Wass­er in die hoch gele­ge­nen nor­wegis­chen Wasser­spe­ich­er zurück zu pumpen.  Rund 1,5 Mrd. Euro kosten die Unter­seek­a­bel zwis­chen Deutsch­land und Nor­we­gen. “Seatec” selb­st — mit rund 6.000 km Unter­seek­a­beln und einem Inves­tionsvol­u­men von rund 30 Mrd. € — ist das Pen­dant zu “Desertec”,  das nach einem Investi­tionsvol­u­men von weit­eren 50 Mrd. € Son­nen­strom aus den Wüsten Nordafrikas nach Europa leit­en soll. Das europäis­che Ver­bund­netz lin­dert die Abhängigkeit von Energieim­porten nach Europa und ver­hil­ft gle­ichzeit­ig dazu, die natür­lichen Ressourcen der europäis­chen Staat­en zu verknüpfen und opti­mal zu kombinieren. 

Mit der zum 1. Jan­u­ar 2007 zuge­sagten Auf­nahme von Bul­gar­ien und Rumänien als “Mit­glieder Nr. 26 und 27” ist Europa bis an das Schwarze Meer vorg­erückt. Die Auf­nahme erfol­gte ohne große Begeis­terung — so erfüllen die bei­den Län­der noch nicht alle europäis­chen Stan­dards etwa im Hin­blick auf Kor­rup­tion, Rechtsstaatlichkeit oder die Lebens­mit­telqual­ität und Flugsicherheit.

Den­noch sehen viele — trotz Armut und Rück­ständigkeit — langfristig einen wirtschaftlichen Gewinn in der Erweiterung. So ist die Wach­s­tum­srate (auch der früheren Auf­nah­melän­der wie Slowe­nien, Polen oder der baltischen Staat­en) über­durch­schnit­tlich hoch, weil die Anpas­sung der ehe­mals sow­jetisch geprägten Plan­wirtschaft an west­liche Stan­dards einen enor­men Investi­tion­ss­chub bei rel­a­tiv niedri­gen Löh­nen und Gehäl­tern aus­gelöst hat. Nicht nur west­liche Fir­men investieren wegen der niedri­gen Pro­duk­tion­skosten — mehr als 10.000 britis­che Rent­ner sollen alleine bis zum Auf­nah­metag bere­its Häuser und Grund­stücke in Bul­gar­ien erwor­ben haben, um den Lebens­abend am Meer oder in den Bergen zu genießen. Der Auf­schwung der “europäis­chen Tiger­staat­en” befeuert auch die Wirtschaft in den etablierten Mitgliedsländern.

Weit­ere Aspi­ran­ten klopfen an die Türe. Dabei ist der “Dauerkan­di­dat” Türkei genau­so zu nen­nen wie die Balka­nstaat­en, die wohl in Zukun­ft den Reigen der EU-Mit­glied­schaft abschließen wer­den. Mit Kroa­t­ien (4,4 Mio. Ein­wohn­er, BIP/Einwohner 6.972,- Euro in 2007) und der Türkei (74 Mio. Ein­wohn­er, BIP/Einwohner 4.245 Euro in 2007) wer­den bere­its Beitrittsver­hand­lun­gen geführt — die im Falle der Türkei aber ins­beson­dere durch die Sit­u­a­tion in Nordzypern und den Umgang mit den Kur­den belastet sind. Maze­donien (2 Mio. Ein­wohn­er, BIP/Einwohner 2.431 € in 2007) ste­hen entsprechende Beitrittsver­hand­lun­gen noch bevor. Mit Alban­ien (3,6 Mio. Ein­wohn­er, BIP/Einwohner 1.836,- € in 2007) beste­ht seit Juni 2006 ein Assozi­ierungsabkom­men, eben­so — seit Okto­ber 2007 — mit Mon­tene­gro (0,6 Mio. Ein­wohn­er, BIP/Einwohner 2.638,- Euro in 2007). Das Assizi­ierungsabkom­men mit Bosnien-Herzeg­woina (4,6 Mio. Ein­wohn­er, BIP/Einwohner 2,095,- € in 2007) ist seit 2006 aus­ge­han­delt — aber immer noch nicht unterze­ich­net. Ser­bi­en — dem let­zen Nach­folges­taat des ehe­ma­li­gen Jugoslaw­ien (9,4 Mio. Ein­wohn­er, BIP/Einwohner 2.460,- Euro in 2007) ist ein Assozi­ierungsabkom­men in Aus­sicht gestellt. Dies führt zur Frage, auf welch­er Basis die EU neue Mit­glieder aufn­immt. So wurde bish­er die Zusam­me­nar­beit mit Ser­bi­en durch eine man­gel­nde Zusam­me­nar­beit mit dem “Kriegsver­brecher­tri­bunal”, dem Gericht­shof in Den Haag, und der Entwick­lung im Kosovp belastet. Und auch in Bosnien-Herze­gow­ina block­ieren sich die ser­bis­che und bosnis­che Volks­gruppe gegen­seit­ig wenn es um die Über­win­dung der Bürg­erkriegsprob­leme aus dem zer­fal­l­en­den Jugoslaw­ien und die Weit­er­en­twick­lung des Staates geht.

Mit­glied­schaft auf­grund von Werte­grund­sätzen
Europa als Wertege­mein­schaft 
Die EU ist nicht – wie die Nation­al­staat­en – ter­ri­to­r­i­al definiert. Dies erlaubt die Auf­nahme immer neuer Staat­en, wobei die Kri­te­rien für die Auf­nahme weniger auf geo­graphis­chen Kri­te­rien beruht (son­st wären die Balka­nstaat­en wie Alban­ien, Kroa­t­ien oder Ser­bi­en schon Mit­glieder, ohne einen entsprechen­den Anpas­sung­sprozess zu durch­laufen) son­dern auf konkreten Werte­grund­sätzen. Die Kan­di­dat­en – Europa wirbt nicht um Mit­glieder, es ist eine Entschei­dung der Nation­al­staat­en, der EU beitreten zu wollen – müssen einen bes­timmten Wertekat­a­log erfüllen, über län­gere Zeit erfüllen, um aufgenom­men wer­den zu können.

  • Wirtschaftlich muss der Kan­di­dat über eine funk­tion­ierende Mark­twirtschaft ver­fü­gen, die dem Wet­tbe­werb­s­druck inner­halb der EU gewach­sen sein muss. Dies wird anhand konkreter Anforderun­gen wie der Lohnen­twick­lung, den Staat­shaushalt, Wech­selkurs- und Zinssta­bil­ität, Lib­er­al­isierun­gen und Pri­vatisierun­gen beurteilt.

  • Für den Beitritt in den gemein­samen Währungsver­bund, die €uro-Über­nahme, wur­den in Maas­tricht fünf wichtige Kri­te­rien fest­gelegt, eine min­destens zwei­jährige Zuge­hörigkeit zum EWS II mit nur noch gerin­gen Schwankungs­bre­it­en der nationalen Währung zum Euro, Ober­gren­zen für den staatlichen Schulden­stand (nicht über 60 Prozent der Wirtschaft­sleis­tung), Neu­ver­schul­dung (nicht höher als 3,0 Prozent des Brut­toin­land­spro­duk­tes), eine Infla­tion­srate (nicht mehr als 1,5 Punk­te höher als der Schnitt der drei preis­sta­bil­sten Län­der im Euro­raum, derzeit also von max­i­mal 2,6 Prozent), Als weit­eres Kri­teri­um darf der langfristige Kap­i­tal­mark­tzins höch­stens zwei Prozent­punk­te über dem Durch­schnitt der drei preis­sta­bil­sten Euro-Län­der liegen. Dies ergibt einen Maas­tricht-Ziel­w­ert von derzeit 6 Prozent.

  • Poli­tisch muss der Beitrittskan­di­dat über sta­bile und funk­tions­fähige Insti­tu­tio­nen als Garantie für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Men­schen­rechte und den Schutz von Min­der­heit­en ver­fü­gen. Die EU-Grun­drechtschar­ta (Amts­blatt der Europäis­chen Gemein­schaft ABl‑C 364/8 vom 18.12.2000) garantiert nicht nur einen umfassenden Schutz der Men­schen­rechte (Men­schen­würde) son­dern ist ein europaweit gel­tender umfan­gre­ich­er Kanon von Frei­heits- und Gle­ich­heit­srecht­en, vom Grun­drecht auf Sol­i­dar­ität (Koali­tions­frei­heit) und Arbeit­nehmer­schutz, Gesund­heits- und Umweltschutz und von Bürg­er­recht­en sowie dem Recht auf wirk­samen Rechtss­chutz vor unpartei­is­chen Gericht­en. Der hier vorgegebene Stan­dard ist so hoch, dass Aus­nah­me­jus­tiz — (www.amnesty.ch) wie in Guan­tanamo — (www.amnesty.ch) nach europäis­chem Rechtsver­ständ­nis abso­lut unzuläs­sig wären — oder, um es anders zu for­mulieren: die USA während der Regierungszeit von Präsi­dent Bush jr. wür­den dem Anspruch an den Wertekodex, den Europa für seine Mit­glieder zugrunde legt, nicht genügen.

  • Rechtlich müssen sämtliche bis zur Auf­nahme gel­tenden gemein­samen Vorschriften im nationalen Recht des Beitrittskan­di­dat­en umge­set­zt wer­den. Dies schließt aus­drück­lich das Beken­nt­nis zu Men­schen­recht­en (Europäis­che Men­schen­recht­skon­ven­tion – EMPK — incl. der gemein­samen Äch­tung der Todesstrafe) und den Schutz vor Diskri­m­inierung (Anti-Diskri­m­inierungsrichtlin­ie) mit ein (Aquis — Kri­teri­um).

Diese drei (vier) nor­ma­tiv fest­gelegten Kri­te­rien­bere­iche schließen über den poli­tis­chen Bere­ich “Men­schen­rechte und Schutz vor Min­der­heit­en” einen ethis­chen Grund­kon­sens ein, der sich aus dem nor­ma­tiv­en Kri­te­rienkat­a­log nur indi­rekt erschließt.

Die wichtig­sten drei Kri­te­rien — das Poli­tis­che, Wirtschaftliche und Rechtliche Kri­teri­um — müssen erfüllt sein, wie der Europäis­che Rat 1997 deut­lich machte, um die Voraus­set­zung für Mit­glied­schaftsver­hand­lun­gen (!) zu erfüllen.

Die Mit­glied­schaft selb­st  wird von einem weit­eren Punkt abhängig gemacht — der Acquis com­mu­nau­taire , der Über­nahme des Rechts und der Poli­tik der EU, sowie das Ein­ver­ständ­nis mit den Zie­len der Poli­tis­chen Union und der Wirtschafts- und Währungsgemeinschaft.