Westeuropa (Einführungsdossier)

Zukun­ft der Nation­al­staat­en — zunehmende poli­tis­che Region­al­isierung?
Der Zweck der Nation­al­staat­en ist die exk­lu­sive Kon­trolle des eige­nen Ter­ri­to­ri­ums, und die Obhut für die Men­schen inner­halb dessen Gren­zen, der eine Sicherung von Wohlfahrt und Woh­lerge­hen im Wet­tbe­werb mit anderen Staat­en umfassen. Ein Großteil dieser Auf­gaben wird zunehmend von europäis­chen Orga­nen wahrgenommen.Wirtschafts- und Wet­tbe­werb­spoli­tik, Außen‑, Verteidigungs‑, Innen‑, Jus­tiz- und Umweltschutzpoli­tik – in allen diesen Bere­ichen zeich­net sich eine zunehmende Koop­er­a­tion und Kom­pe­ten­zver­lagerung auf europäis­che Ebene ab, ganz ein­fach deshalb, weil mit Koop­er­a­tion die Prob­leme wesentlich bess­er und kostengün­stiger gelöst wer­den kön­nen als bei nationaler Kleinkrämerei. Rund ein Drit­tel aller nationalen Geset­ze – im wirtschaftlichen Bere­ich sog­ar 2/3 – wer­den heute in Brüs­sel konzip­iert. Europäis­che Regelun­gen treten an die Stelle der deutschen DIN-Nor­men, ein deutsch­er Min­is­ter soll im Schnitt rund die Hälfte sein­er Arbeit­szeit in Gemein­schafts­gremien der EU ver­brin­gen. Nationale Unab­hängigkeit von Europa – das sind eigentlich nur noch drei Bere­iche:-
die Dinge, die mit der Sprache zu tun haben, also vor allem der „Kul­turbere­ich“ —  
die Dinge, die unter das „Sub­sidiar­ität­sprinzip“ fall­en (so viel Europa wie nötig, so wenig Europa wie möglich) – also alles, was nation­al, region­al oder örtlich geregelt wer­den kann (z.B. Laden­schlusszeit­en und Schul­for­men) und -
Fra­gen der Sozialpoli­tik (die Sozial­hil­fe wird je nach Leben­shal­tungskosten unter­schiedlich fest­ge­set­zt wer­den). Aber auch hier sind Gren­zen geset­zt:-
Mit dem Maas­trichter Ver­trag von 1992 beka­men die 222 europäis­chen Regio­nen eine offizielle Stimme in Europa, zugle­ich wurde die Posi­tion des Europäis­chen Par­la­ments weit­er gestärkt – was zu ein­er weit­eren Schwächung der Kom­pe­tenz der Nation­al­staat­en führte. -
Der Kul­tus­bere­ich gehört in Deutsch­land zum Hoheits­bere­ich der Län­der, und wie in Deutsch­land erstarken auch in anderen europäis­chen Län­dern die Regio­nen, die sich unter Bezug auf das Sub­sidiar­ität­sprinzip immer mehr Kom­pe­ten­zen erkämpfen möcht­en. In Südtirol und Nordi­tal­ien, von Schot­t­land über  Flan­dern bis nach Kor­si­ka und vom Basken­land bis zum schwedis­chen Lap­p­land begin­nen sich einzelne Regio­nen Europas zu regen und ver­suchen, zumin­d­est kul­turell weit­ge­hende Autonomie zu erlan­gen. Zum Teil (Maze­donien) wird sog­ar die Bil­dung eigen­er Staat­en kräftig vor­angetrieben, die dann den Beitritt in den Europäis­chen Klub anstreben.Nach den Basken – deren Sprache mit kein­er anderen europäis­chen Sprache ver­wandt ist – haben inzwis­chen auch die Kat­alonien ihre Anerken­nung als eigene Nation erhal­ten
(vgl. den Artikel im „Eura­sis­chen Mag­a­zin“ (Das spanis­che Kat­alonien darf sich jet­zt als eigene Nation beze­ich­nen)), und der Prozess der Region­al­isierung schre­it­et fort (vgl. Die Gren­zen der Natio­nen und Nation­al­staat­en — (http://web.fu-berlin.de)). 

Forschung und Lehre:
Entschei­dend für die Stel­lung eines Lan­des oder ein­er Staaten­gruppe im glob­alen Wet­tbe­werb ist die Fähigkeit, in ver­schiede­nen Mark­t­seg­menten eine Spitzen­stel­lung einzunehmen und jew­eils neueste und mod­ern­ste Tech­nolo­gie exportieren zu kön­nen. Ein Indiz für diese Fähigkeit ist die Zahl der Paten­tan­mel­dun­gen sowie der erteil­ten Patente. Auch hier nimmt Europa — weit vor den USA — weltweit eine führende Rolle ein. Nach ein­er Zusam­men­stel­lung der FAZ vom 19.04.2007 stellt sich dies (Ref­eren­z­jahr 2005) wie fol­gt dar:

LandZahl der Patentanmeldungen Zahl der erteil­ten Patente 
USA32.73813.007
Japan21.4619.546

EU

(darunter)

> 50.000

 

> 22.000

 

Deutsch­land23.789 12.499
Frankre­ich8.034 3.740
Nieder­lande7.799 1.519
Großbri­tan­nien4.649 2.148
Ital­ien4.199 1.868
Finn­land1.514 757
Öster­re­ich
1.053
533

Bei unter­schiedlichen Wis­senschafts- und Forschungsmöglichkeit­en wer­den die Spitzen­wis­senschaftler und damit auch die Stu­den­ten dor­thin gehen, wo die besten Forschungs- und Lehrmöglichkeit­en beste­hen, und mit dem “Europäis­chen Forschungsrat” ist eine eigene EU-Forschungspoli­tik ent­standen.  Mit dem Anfang 2007 in Kraft tre­tenden “Siebten Forschungsrah­men­pro­gramm” sollen 52 Mil­liar­den Euro für Wis­senschaft und Tech­nolo­gie — aus­drück­lich auch für die zweck­freie Grund­la­gen­forschung — bere­it gestellt wer­den. Über die Pro­jek­tauswahl, die aus diesem gemein­samen europäis­chen Inno­va­tion­stopf gefördert wer­den, entschei­den Wis­senschaftler. Dies ver­langt auch ein­heitliche Kri­te­rien, welche Forschung gefördert wer­den soll. Beson­ders augen­fäl­lig wird das an der Forschung an embry­onalen Stam­mzellen.
Während vor allem Ostasi­atis­che Wis­senschaftler ohne moralis­che Bedenken mit men­schlichen Embry­onen forschen, sehen europäis­che Staat­en wie Ital­ien, Polen ode die Slowakei erhe­bliche Bedenken. Nun kann man mit europäis­chen Fördergeldern nicht Dinge unter­stützen, die in einzel­nen Mit­gliedsstaat­en ver­boten, vielle­icht sog­ar straf­bar sind. Alleine die Schaf­fung ein­er solchen europäis­chen Inno­va­tion­sof­fen­sive zwingt also, ein­heitliche eth­nis­che Regelun­gen für europäis­che Forschungsar­beit­en zu schaffen. 

Auf Grund der Nieder­las­sungs­frei­heit inner­halb der EU muss die soziale Sicherung so vere­in­heitlicht wer­den, dass kein „Sozial­touris­mus“ aus­gelöst wird. 

Was bleibt für die Nation­al­staat­en und deren Regierun­gen zwis­chen den Mühlsteinen der Zen­tral­isierung und Europäisierung nationaler Hoheit­en und der Forderung nach weit­erge­hen­der Sub­sidiar­ität und Region­al­isierung ander­er­seits?
Ist es ein Wun­der, dass sich die Nation­al­staat­en und deren Regierun­gen gegen die Weit­er­gabe von Macht und Ein­fluss an europäis­che Insti­tu­tio­nen wehren? Tat­säch­lich wur­den bish­er Kom­pe­ten­zver­lagerun­gen nach Europa vielfach erst unter „äußerem Druck“ ausgelöst.

  • Die Europäis­che Währung – und damit die Auf­gabe der Deutschen Mark – soll ein Zugeständ­nis der Deutschen Bun­desregierung gewe­sen sein, um die Befürch­tun­gen der anderen Europäis­chen Staat­en vor einem wiedervere­inigten, wirtschaftlich dominieren­den Deutsch­land zu entkräften

  • die unter­schiedliche Reak­tion der europäis­chen Staat­en auf die Krise im zer­fal­l­en­den Jugoslaw­ien und den Irak-Krieg der Vere­inigten Staat­en (2001) beförderte das Pro­jekt ein­er „Europäis­chen Außen­poli­tik“ (mit dem EU-Außen­min­is­ter Javier Solana) und  das Prinzip der „Mehrheit­sentschei­dun­gen“, das in ein­er europäis­chen Ver­fas­sung ver­ankert wer­den soll

  • der Zer­fall des Warschauer Pak­ts und der GUS führte ganz unspek­takulär zur größten Erweiterungsrunde der EU; erst mit der Oster­weiterung vom 1. Mai 2004 ist Europa wohl „richtig ent­standen“, die EU umfasst heute fast das gesamte Gebi­et des „mit­te­lal­ter­lichen Abend­lan­des“, das durch eine gemein­same Geschichte und gegen­seit­ige kul­turelle Befruch­tung über die Län­der- und Sprach­gren­zen hin­weg einen eige­nen Kul­turkreis bildet. Die weni­gen Län­der, die zu diesem Kul­turkreis gehören und noch nicht Mit­glieder sind, haben ihren Beitrittswun­sch bere­its artikuliert (z.B. Maze­donien) oder ver­han­deln bere­its (Kroa­t­ien) über einen Beitritt. Die Inte­gra­tion der Balkan­län­der ist sich­er nur eine Frage der Zeit.

 

Mit dieser Oster­weiterung ist aber auch eine neuer  „poli­tis­ch­er glob­al play­er“ ent­standen, der koor­diniert auf dem inter­na­tionalen Par­kett auftritt und zunehmend das eigene Gewicht in die Waagschalen der inter­na­tionalen Poli­tik wirft.

Die einzel­nen europäis­chen Staat­en kön­nen dabei über Jahrhun­derte gewach­sene Bindun­gen ein­brin­gen. Bei den Beziehun­gen zu südamerikanis­chen Staat­en spie­len Por­tu­gal und Spanien die entschei­dende Ver­mit­tlungsrolle. Bel­gien, Eng­land und Frankre­ich kön­nen in anderen Teilen der Welt auf gute Kon­tak­te zu den Eliten in ihren ehe­ma­li­gen Kolo­nial­staat­en bauen — und Deutsch­land ist als Wirtschaft­sna­tion ohne die Belas­tun­gen von kolo­nialen Unab­hängigkeit­skriegen bei den Staat­en mit neuem gefes­tigtem Nation­al- und Unab­hängigkeits­be­wußt­sein in ein­er besseren Sit­u­a­tion als manche heutige Hegemonialmacht.

Poli­tisch und wirtschaftlich ist eine europäis­che Welt­macht zumin­d­est gle­ichauf mit den USA, Rus­s­land und Chi­na, wenn nicht sog­ar jedem einzel­nen dieser Staat­en zumin­d­est im wirtschaftlichen Gewicht über­legen – und Europa hat eine Tele­fon-Num­mer erhalten.