Arabien (Einführungsdossier), Felix Arabia

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E) Ara­bi­en heute:
Die 22 Staat­en der Ara­bis­chen Liga haben in etwa so viele Ein­wohn­er wie die 50 Glied­staat­en der Vere­inigten Staat­en von Ameri­ka (USA). Aber trotz der reichen Ölstaat­en am Golf und der Wirtschaft­skrise der USA: die sum­marische Wirtschaft­skraft aller ara­bis­chen Län­der erre­icht bei Weit­em nicht annäh­ernd die Potenz der USA. Reich­tum und Armut sind zudem sehr viel ungle­ich­er verteilt. “Habenichtse” und “reiche Protzer” — die ara­bis­che Welt ist tief ges­pal­ten zwis­chen Armutsstaat­en und den Öl- und Gas­be­sitzern, die vielfach im Geld schwim­men. Auch poli­tisch war — und ist — die ara­bis­che Welt mit nahezu allen Regierungs­for­men geseg­net. Klas­sis­che Monar­chien, halb­wegs funk­tion­ierende Demokra­tien und auch Abwand­lun­gen sozial­is­tis­ch­er Ein-Parteien-Herrschaften (die sich vielfach bei genauerem Hin­se­hen als Ein-Per­so­n­en-Dik­taturen erweisen) sind vertreten.

Die Öl- und Gas­be­sitzer sind dabei, ihre Wirtschaften für die Zeit nach dem Ölboom vorzu­bere­it­en. Ein zen­trales The­ma — mit dem sich die “reichen Protzer” mit den “armen Schluck­ern” die Hände reichen, ist dabei die Nutzung von Atom­en­ergie, mit deren Hil­fe sich auch Meer­wasser­entsalzungsan­la­gen betreiben lassen. Der Gollfko­op­er­a­tionsrat und Ägypten haben den klaren Wun­sch nach Atom­kraftwerken bere­its geäussert. Alge­rien, dem Jemen,  Jor­danien, Marokko, Libyen und Syrien wer­den entsprechende Ambi­tio­nen nachge­sagt. Dabei ist im Kon­text zu den Entwick­lun­gen in Nach­barstaat­en ein auf- und abschwellen­des Inter­esse zu beobacht­en. Die israelis­che Atom­bombe (seit den sechziger Jahren wird Israel der Atom­waf­fenbe­sitz zugeschrieben) ste­ht gle­ich­laufend zu einem ägyp­tis­chen Forschung­spro­gramm, das erst nach dem Friedensver­trag mit Israel und dem Tsch­er­nobyl-Gau been­det wurde. Die seit Anfang dieses Jahrtausends immer stärk­er in den Vorder­grund tre­tenden atom­aren Ambi­tio­nen Irans gehen ein­her mit den offiziellen Erk­lärun­gen des Golfko­op­er­a­tionsrats und Ägyptens, die Nuk­learen­ergie nutzen zu wollen. Diese Syn­chronität der Ereignisse hat die Süd­deutsche Zeitung bere­its zu einem Kom­men­tar (Nuk­lear­er Rüs­tungswet­t­lauf, 01.11.2007) ver­an­lasst, der die Ver­mu­tung äussert, dass hin­ter dem Aus­bau der Atom­en­ergie auch mil­itärische Absicht­en steck­en könnten.

Die ara­bis­che Welt ist heute zutief­st frus­tri­ert. Wer heute als Araber die Sit­u­a­tion der ara­bis­chen Staat­en ins­ge­samt analysiert, der sieht die Ehre der ara­bis­chen Welt mit Füßen getreten — und “Ehre”, “Anse­hen” — das ist eine der wichtig­sten ethis­chen Werte ein­er Gesellschaft, die nach wir vor in vielem dem Ethos der Beduinen­welt ver­bun­den ist. Seit der Kolo­nialzeit, in der — dem osman­is­chen Reich nach­fol­gend — europäis­che Mächte die Herrschaft an sich geris­sen haben, hat kein ara­bis­ch­er Staat mehr den Glanz his­torisch­er Epochen erre­icht. 
Im Gegen­teil: Ara­bi­en lebt mit ein­er schwären­den Wunde, ein­er israelis­chen Macht im Herzen des Nahen Ostens, in Jerusalem, ein­er der Heilig­sten Stät­ten des Islam, die sich mit Rück­endeck­ung der let­zten Super­ma­cht der Erde in der offe­nen Vertrei­bung und Unter­drück­ung der dort heimis­chen Palästi­nenser üben kann, ohne dass es den ara­bis­chen Staat­en — ange­fan­gen vom bevölkerungsre­ichen Ägypten bis hin zu den Dol­lar-Mil­liardären am Golf — auch nur im Ansatz gelingt, den Brüdern in Palästi­na Erle­ichterung oder Hil­fe zu ver­schaf­fen.
Selb­st die vere­inigten, hochgerüsteten Armeen Ägyptens, Jor­daniens und Syriens haben gegen Israel nichts aus­richt­en kön­nen — ja sog­ar mas­sive Gebi­etsver­luste erlit­ten, wobei in den Grenzziehun­gen der ara­bis­chen Staat­en bis heute noch die Kolo­nialmächte präsent sind, die ara­bis­che Gebi­ete ohne Rück­sicht auf gewach­sene Verbindun­gen zerteilten.

Dazu suchen die Men­schen in den meis­ten ara­bis­chen Staat­en auch nach wirtschaftlich­er Per­spek­tive. 15 % der arbeits­fähi­gen Bevölkerung der ara­bis­chen Län­der — rund 12 Mil­lio­nen — waren zur Jahrtausendwende arbeit­s­los. Auf­grund der demographis­chen Entwick­lung steigt die Zahl der Arbeit­slosen vor allem bei der Jugend weit­er an. Es ist ein unruhiges Heer an Unzufriede­nen, eine Reservearmee für Extrem­is­ten, die da her­an wächst. Ein “Mit­tel­stand”, der in Europa und den USA die wirtschaftliche und poli­tis­che Entwick­lung trägt, ist kaum vorhan­den. In den reichen Ölstaat­en genau­so wie in den armen Regio­nen, die von den Brosamen der Ölfürsten leben müssen, bere­ich­ern sich erst ein­mal die Herrsch­er und ihre Fam­i­lien.
Der Irak — bis zum Krieg gegen die Pers­er mit einem über­aus pros­perieren­den Mit­tel­stand geseg­net — ist an Sad­dam Hus­sein zugrunde gegan­gen. Libyens Gaddafi — ein ander­er Aus­nah­me­herrsch­er, der nicht in die eige­nen Taschen wirtschaftet — behält sich auch vor, über die Verteilung der (kün­ftig wohl wieder höher sprudel­nden) Ölein­nah­men für das Volk zu entschei­den; andere Herrsch­er mögen guten Willen haben, alleine: wo keine Ölein­nah­men sind, gibt es auch kaum etwas zu verteilen, um der Bevölkerung eine wirtschaftliche Per­spek­tive bieten zu können.

Teufel­skreis — Armut und Kinder (das demographis­che Prob­lem):
Dabei lei­den die ara­bis­chen Staat­en vor allem an einem Prob­lem: der demographis­chen Entwick­lung! Wenn der Zuwachs der Wirtschaft­skraft durch das Bevölkerungswach­s­tum über­holt wird, gibt es nicht mehr – son­dern weniger zu verteilen. So wie es scheint hat lediglich Tune­sien es geschafft, das Wirtschaftswach­s­tum höher als den Bevölkerungszuwachs zu halten.

Ägypten – mit ein­er Bevölkerung von 80 Mil­lio­nen in das Jahr 2007 ges­tartet – wächst im Durch­schnitt alle 10 Monate um 1 Mil­lion Ein­wohn­er. Bis 2050 wird die Bevölkerung aller Voraus­sicht nach auf 126 Mil­lio­nen Men­schen anwach­sen. Dieses Bevölkerungswach­s­tum ist dazu vor allem den ohne­hin schon armen Fam­i­lien zu ver­danken. Die „rel­a­tiv wohlhabende“ Min­der­heit von 20 Mil­lio­nen Men­schen, die sich keine tagtäglichen exis­ten­tiellen Sor­gen machen muss, wächst kaum. Die Unter­schicht von (derzeit) 60 Mil­lio­nen wird nach UN-Schätzung dage­gen bis Mitte des Jahrhun­derts um gut 60 % steigen. Ägypten hat also – beispiel­haft – das Prob­lem, ein­er zunehmenden Zahl von jun­gen Men­schen eine Per­spek­tive bieten zu müssen. Wenn das nicht geschieht, dann ist abse­hbar dass diese Jugend „ohne Zukun­ftsper­spek­tive“ in extrem­istis­che Posi­tio­nen abdriftet, so ähn­lich wie das in Deutsch­land nach der Weltwirtschaft­skrise (zwis­chen den bei­den Weltkriegen) auch der Fall war.

Tat­säch­lich scheint die Anzahl der Jun­gen Men­schen an der Bevölkerung auch mit der Gewalt­bere­itschaft der “Gesellschaft ohne Zukun­ftsper­spek­tive” einherzugehen:

Gaza­s­treifen:  48 % junge Bevölkerung

West­jor­dan­land: 42 % junge Bevölkerung

Irak: 39 % junge Bevölkerung

Sau­di-Ara­bi­en: 38 % junge Bevölkerung (die meis­ten Ter­ror­is­ten des 11. Sept. waren Saudis)

Syrien: 37 % junge Bevölkerung

Jor­danien, Libyen: 33 % junge Bevölkerung

Marokko: 31 % junge Bevölkerung

Nach ein­er These des Sozial­wis­senschaftlers Gun­nar Hein­sohn (Bre­men) ist ein Anteil von 30 % unter 15jährigen ein Gren­zw­ert, bei dessen Über­schre­itung die Gefahr von Extrem­is­mus und Ter­ror­is­mus — bis hin zu Selb­st­mor­dan­schlä­gen — deut­lich zunimmt. Der Jemen, die Palästi­nen­sichen Gebi­ete, aber auch Sau­di Ara­bi­en, Syrien, Libyen, Jor­danien und Ägypten liegen deut­lich über diese Schwelle. Alge­rien (27,2 %) und der Libanon (26,2 %) erre­ichen die Schwelle der “youth bulge”-Gesellschaft knapp. Tune­sien (24,0 %) — ein wirtschaftlich real­tiv sta­biles ara­bis­ches Land — liegt deut­lich unter der genan­nten Schwelle. Zum Ver­gle­ich: Pak­istan (36,9 %) weist eben­so eine Über­schre­itung der Schwelle auf, die Türkei (24,9 %) und der Iran (23,2 %) liegen dage­gen deut­lich unter dem von Hein­sohn definierten Grenzwert.

Konkret ergibt sich für einzelne ara­bis­chen Län­der fol­gende Zusammenstellung:

Land

Bevölkerung 2007

davon unter 15 Jahren

Bevölkerung 2050

Ägypten

80,3 Mio.

32,2 %

127,4 Mio.

Alge­rien

33,3 Mio.

27,2 %

48,7 Mio.

Irak

27,5 Mio.

39,4 %

57,9 Mio.

Jemen

22,2 Mio.

46,3 %

84,4 Mio.

Jor­danien

6,1 Mio.

33,0 %

10,2 Mio.

Libanon

3,9 Mio.

26,2 %

4,9 Mio.

Libyen

6,0 Mio.

33,4 %

9,2 Mio.

Marokko

33,8 Mio.

31,0 %

47,1 Mio.

Palästi­na

4,0 Mio.

44,3 %

11,1 Mio.

Sau­di-Ara­bi­en

27,6 Mio.

38,2 %

54,7 Mio.

Syrien

19,3 Mio.

36,5 %

34,1 Mio.

Tune­sien

10,3 Mio.

24,0 %

12,9 Mio.

Ist es ein Wun­der, dass Araber Trost und Heil in der glo­r­re­ichen Ver­gan­gen­heit suchen? Es ist ein frucht­bares Feld, in dem “Allahs falschen Propheten” ein bere­itwilliges Pub­likum find­en, die eine neue Blüte nicht in der Über­nahme west­lich­er Werte wie Demokratie sehen, son­dern in der Besin­nung auf die his­torischen Wurzeln, auf die Kraft des Islam und auf die Scharia als das dem Islam gemäße Rechtssys­tem. Hier wird eine umfassende gesellschaftliche Ord­nung propagiert, eine “heile Welt”, und was in west­lichen Augen despek­tier­lich als “mit­te­lal­ter­lich” beze­ich­net wird hat mit genau der­sel­ben Beze­ich­nung plöt­zlich aus ara­bis­ch­er Sicht einen unge­heuren Reiz: war nicht das Mit­te­lal­ter die hohe Zeit der ara­bis­chen Welt? Die Reli­gion des Islam bietet mehr als spir­ituelle Erbau­ung, sie bietet ein kom­plettes sozioökonomis­ches, sozialpoli­tis­ches und auch juris­tis­ches Pro­gramm — eine heile Welt auch dies­seits der religiösen Ebene. Aus der Sicht der Islamis­ten wird zugle­ich die Pein­lichkeit der Kolo­nial­gren­zen über­wun­den, denn die Islamis­ten erken­nen nur eine Nation: die islamis­che Gemeinde, in der alle Mus­lime über alle staatlichen Gren­zen hin­weg vere­int sind. Mar­cel Pott, lange Jahre als Jour­nal­ist und Pub­lizist in ara­bis­chen Staat­en tätig und ein­er der besten west­lichen Ken­ner der ara­bis­chen Welt beschreibt die Sit­u­a­tion so:

(Quelle Allahs falsche Propheten — (www.amazon.de)
“Den Erfolg der Islamis­ten haben sich die ara­bis­chen Herrsch­er selb­st zuzuschreiben. Sie haben ihn ger­adezu provoziert, indem sie demokratis­che Bürg­er­rechte unter­drück­ten und so jeden poli­tis­chen Reife­prozeß in ihren Län­dern ver­hin­derten. Mit der Folge, dass sich an den tra­di­tionellen Stammes- und Feu­dal­struk­turen nur wenig geän­dert hat. Wer aus bes­timmten Kreisen oder aus gewis­sen Fam­i­lien stammt, ist fak­tisch immun, wenn er ein öffentlich­es Amt ausübt. Selb­st wenn er als Min­is­ter Gelder verun­treut oder durch Nach­läs­sigkeit und Unver­mö­gen großen Schaden anrichtet. Der zu Las­ten der Bevölkerung geht, wird er nicht zur Rechen­schaft gezo­gen. So ver­hält es sich übri­gens in allen poli­tis­chen Sys­te­men der ara­bis­chen Welt. .…”

Die innere und äußere Schwäche der ara­bis­chen Staat­en ist also zugle­ich der Ansatzpunkt für die Islamisierung der ara­bis­chen Welt. Der Islam wird zum Ansatz gegen kor­rupte Regime, gegen west­lichen Impe­ri­al­is­mus, jüdis­che Staaten­grün­dung und sämtliche Prob­leme, die zur Frus­tra­tion und Paralysierung des ara­bis­chen Nation­al­stolzes geführt haben.

Wenn man sich dieser unter­schwelli­gen Gemein­samkeit bewußt wird, die der ara­bis­chen Welt von Marokko bis zum Irak, von Syrien bis zum Jemen eigen ist, dann wird man die Aggres­sio­nen gegen den West­en und die zunehmende Ten­denz zur radikalen Islamisierung leichter ver­ste­hen, die sich in der gesamten ara­bis­chen Welt — trotz aller regionalen Unter­schiede — immer mehr aus­bre­it­en. 
Heute lassen sich die Ara­bis­chen Staat­en wirtschafts­geo­graphisch in mehrere regionale Grup­pen aufteilen, die jew­eils vor gemein­samen Prob­le­men ste­hen und sich — das scheint bemerkenswert — auch auf dieser regionalen Ebene organisieren.

 

1979 — das Ende der “Ummat el-arabiya”?

Gamal abdek Nass­er — der Reis vom Nil — gilt als wort­ge­waltiger Förder­er ein­er mächti­gen ara­bis­chen Nation, die alle ara­bis­chen Völk­er zwis­chen dem Atlantik und dem Ara­bis­chen (Per­sis­chen) Golf umfassen sollte. Die poli­tis­che Zusam­me­nar­beit und das Zusam­menwach­sen sollte über die Ara­bis­che Liga erfolgen.

Mit der Zer­schla­gung der ara­bis­chen Armeen im 5‑Tage-Krieg von 1967, spätestens aber mit dem Jahr 1979 scheint dieses Ide­al­bild endgültig zu ein­er Utopie gewor­den zu sein.

  • Mt der islamis­chen Rev­o­lu­tion im Iran wurde eine Glauben­srich­tung des Islam, der Schi­is­mus, gestärkt, was Autonomiebe­stre­bun­gen in den schi­itisch-ara­bis­chen Län­dern am Golf. im Jemen und im Libanon verstärkte.
  • Im Novem­ber 1979 erstürmten fanatisierte sun­ni­tis­che Mus­lime die wichtig­sten Heili­gen Stät­ten des Islam, um ein Fanal gegen die ver­schwen­derische saud­is­che Prinzen­klique und deren Zusam­me­nar­beit mit dem “Satan Ameri­ka” zu set­zen — eine Beset­zung, die nur mit franzö­sis­chen und jor­danis­chen Elitetrup­pen been­det wer­den kon­nte — , was zu ein­er Fun­da­men­tal­isierung des Haus­es Saud führte,
  • und der nur einen Monat später erfol­gte sow­jetis­che Ein­marsch in Afghanistan ver­lagerte das Inter­esse der Welt — auch der islamis­chen .- in die Region des Hin­dukusch, wo sich bald Sau­di Ara­bi­en und US-Amerikan­er bei der Aufrüs­tung der gegen die sow­jetis­che Besatzung kämpfend­en Tal­iban zu übertr­e­f­fen versuchten.

Diese Ereignisse dürften prä­gend für die Radikalisierung eines Osama bin-Laden gewe­sen sein, dessen über­wiegend saud­is­che Anhänger mit 9–11 ein Fanal des wahabitis­chen Fanatismus set­zten. Sie waren aber nicht nur prä­gend für wenige fanatisierte Wirrköpfe. Tat­säch­lich ist mir sei­ther die ver­mehrte Unter­stützung radikaler fun­da­men­tal­is­tis­ch­er Imame durch Sau­di-Ara­bi­en bewusst gewor­den, eine Unter­stützung, die sich wohl im Irak wie auch in Ägypten in ein­er Teilung der sun­ni­tisch-ara­bis­chen Welt mit dem Erstarken fun­da­men­taler Grup­pen (Salafis­ten) deut­liche Fol­gen zeigt.

Ara­bel­lion 2011:

Aus­ge­hend von Tune­sien hat 2011 eine Welle von Revolten von Marokko bis zum Jemen die ara­bis­che Welt erschüt­tert. Zunächst protestierte die unzufriedene und arbeit­slose, aber gut gebildete und ver­net­zte Jugend ob der Schika­nen staatlich­er und kor­rupter Insti­tu­tio­nen, der sich aber immer mehr Men­schen anschlossen — bis eine bre­ite Bevölkerungs­ba­sis “auf der Straße war”.

Allerd­ings hat die Revolte in den unter­schiedlichen ara­bis­chen Staat­en auch einen unter­schiedlichen Ver­lauf genommen.

In Marokko kanal­isierte der König die Unruhen und nahm ihnen durch eine frühe Änderung der poli­tis­chen Regeln die Spitze.

In Tune­sien stellte sich die Mil­itär auf die Seite der Bevölkerung — und schob den Präsi­den­ten schnell nach Sau­di Ara­bi­en ab. Die nach­fol­gendne Wahlen wur­den von den am besten organ­isierten mäßig islamis­chen Kräften gewonnen.

In Libyen spal­tete sich die Armee an den tra­di­tionellen Bruch­lin­ien, die zwis­chen dem östlichen und dem west­lichen Lan­desteil ver­laufen und nicht nur die his­torischen Gren­zen des osman­is­chen Reich­es, son­dern auch den Sied­lungs­bere­ich unter­schiedlich­er Stämme markieren. In ein­er gemein­samen Aktion von NATO und Mit­gliedsstaat­en der ara­bis­chen Liga wurde der zunäc­sht unter­lege­nen Revolte zum Sieg ver­holfen. Vom 19. März bis zum 31. Okto­ber haben NATO-Flugzeuge (unter­sützt von Katar und den VAR) über 26.000 Ein­sätze über Libyen geflo­gen. In ein­er sehr weit aus­gedehn­ten Inter­pre­ta­tion des vor­ange­gan­genen UN-Beschlusses waren zunächst die USA mit 184 Tom­a­hawk-Marschflugkör­pern und B‑2-Bombern daran gegan­gen, die libysche Flu­gab­wehr zu elem­i­nieren. Danach war der Weg bere­it­et, um mit knapp 10.000 Angriff­sop­er­a­tio­nen — vor allem durch Frankre­ich, Großbri­tan­nien, aber auch Ital­ien, Bel­gien und Kana­da die regierungs­gtreuen Trup­pen zu attackieren.

In Ägypten stellte sich das Mil­itär — zunäc­sht zögernd — auf die Seite der Demon­stran­ten, um dann aber selb­st (nach dem Vor­bild der früheren Türkei) die Macht zu übernehmen. Auch hier haben die gut organ­isierten Mus­lim­brüder die anber­aumten Wahlen vor den neu gegrün­de­ten lib­eralen Parteien für sich entschieden.

In Syrien scheint sich die Entwick­lung Libyens zu wieder­holen. Mit­glieder der Stre­itkräfte desertieren und bilden eine eigene Sre­itkraft, deren Ziel “der Schutz der Zivil­bevölkerung” vor den regierungstreuen Trup­pen des Präsi­den­ten Assad ist.

Im Jemen scheint sich der Kon­flikt zwis­chen den einzel­nen Stäm­men abzus­pie­len. Ara­bis­che Staat­en haben auf Seite der Demon­stran­ten Parteil ergrif­f­en und drän­gen den Präsi­den­ten mit siplo­ma­tis­chen Mit­teln zum Rück­zug. Wie sich die Entwick­lung dort weit­er vol­lziehen wird, st fraglich.

In Bahrain dage­gen wurde der Protest durch die zuhil­fe gerufe­nen Stre­itkräfte aus dem Nach­bar­land Sau­di Ara­bi­en niedergeschla­gen. Und auch in den Vere­inigten Ara­bis­chen Emi­rat­en (VAR) gelang es den demon­stri­eren­den Teilen der Bevölkerung nicht, Polizei oder Stre­itkräfte auf die eigene Seite zu ziehen.

Wann gelingt ein Umsturz?

Damit spiegelt die Entwick­lung der ara­bis­chen Län­der einen generellen Trend wieder. Eine Rev­o­lu­tion, ein Umsturz, wird erst dann erfol­gre­ich, wenn sich Polizei und / oder Stre­itkräfte auf die Seite der Demon­stran­ten schla­gen, zumin­d­est Teile zu den Demon­stran­ten über­laufen. Je mehr Waf­fen dann auf die Seite der Rev­o­lu­tionäre kom­men, desto eher gelingt ein Umsturz.

Insofern sollte der Blick der Kor­re­spon­den­ten und Redak­teure der Medi­en nicht auf die (medi­en­wirk­samen) Massendemon­stra­tio­nen gerichtet sein, son­dern auf die Polizis­ten und Sol­dat­en, die auf diese Demon­stran­ten stoßen.

Wie geht es weiter?

Zunächst ein­mal zeigen die bish­eri­gen Beispiele, dass ein Sieg der “Ara­bel­lion” nicht in jedem Land zu erwarten ist. Klar ist, dass vor allem die Jugendlichen und Stu­den­ten nach demokratis­chen Reg­u­lar­ien rufen. Klar ist aber auch, dass bei demokratis­chen Wahlen nicht unbe­d­ingt lib­erale Kräfte die Ober­hand behal­ten. Die bish­eri­gen Ergeb­nisse von Wahlen in den ara­bis­chen Län­dern zeigen, dass (mod­er­ate) islamis­che Kräfte aus solchen Wahlen gestärkt her­vor gehen. Dies kann dur­chaus damit zusam­men hän­gen, dass diese Kräfte im Volk als Oppo­si­tion gegen auokratis­che Herrsch­er ver­ankert sind — schließlich wurde die Unter­drück­ung demokratis­ch­er Entwick­lun­gen auch immer mit dem “Kampf gegen islamistis­che Kräfte” begrün­det. Tat­säch­lich ist auch fest­stell­bar, dass die islamisch geprägten Parteien vielfach über Wohlfahrt­sor­gan­i­saito­nen (wie die ägyp­tis­chen Mus­lim­brüder) gut organ­isiert sind, und von daher eine wesentliche bessere Aus­gangspo­si­tion haben als neu gegrün­dete lib­erale Parteieln.

Radikale islamistis­che Grup­pierun­gen waren bish­er in keinem Fall tat­säch­lich Aus­lös­er der Rev­o­lu­tio­nen. Aber es würde ver­wun­dern, wenn radikale Islamis­ten nicht ver­suchen wür­den, die “Ara­bel­lion” zu nützen um in den unzweifel­haft damit zusam­men hän­gen­den Wirren die Entwick­lung zu steuern. Tat­sache ist lei­der auch, dass Sau­di Ara­bi­en seine immensen Ölein­nah­men nützt, um wahabitis­che Eifer­er zu finanzieren. Ob es diesen radikalen Predi­gern gelin­gen wird, die tra­di­tionellen ein­heimis­chen the­ol­o­gis­chen Fakultäten zu unter­wan­dern ist schw­er zu sagen. In Ägypten sind die radikalen Salafis­ten nach den Mul­sim­brüdern als stärk­ste Kraft aus den Wahlen her­vor gegan­gen. Allerd­ings ist nach mein­er Ein­schätzung der Ein­fluss der dog­ma­tis­chen Kräfte eher gering.

Aber selb­st dort, wo die Ara­bel­lion scheit­ert wird sich in den kom­menden Jahrzehn­ten die Frucht der Ara­bel­lion zeigen. Die ara­bis­chen Län­der wer­den demokratis­ch­er wer­den — ob über Umstürze oder über Refor­men, die den Regen­ten abgetrotzt wer­den. Die erfol­gre­ichen Demokratisierun­gen wer­den als Vor­bilder für andere ara­bis­chen Staat­en dienen — so wie die Türkei im gesamten Nahen Osten ein zumin­d­est unbe­wusst wahrgenommenes Vor­bild ist. Massen­me­di­en wie Al Djazeera wer­den dazu beitra­gen, dass sich demokratis­ches Gedankengut ver­bre­it­et. Dabei wird sich auch der ara­bis­che Islam verän­dern — in der Konko­r­danz zwis­chen dem religösen Anspruch, das Leben umfassend zu reg­ulieren und dem lib­er­al-demokratis­chen Gedankengut, das von den jun­gen Stu­den­ten in die Gesellschaft einge­bracht wird.