Dieser Artikel wird mit freundlicher Genehmigung der “MarineForum — Zeitschrift für maritime Fragen” veröffentlicht.
Seeziel-FK »Der 4. Generation« für die norwegische Marine
Von Klaus Mommsen
(Klaus Mommsen ist in der Redaktion des MarineForum zuständig für die Berichterstattung zu ausländischen Marinen)
NSM Bildquelle: Kongsberg |
In den 50er Jahren begann zunächst in der Sowjetunion, etwas später dann auch in westlichen Staaten die Entwicklung von Raketen, mit denen Kriegsschiffe entfernte Seeziele bekämpfen konnten. Der sowjetischen Styx (Einführung 1960) folgten die israelische Gabriel (1970), die amerikanische Harpoon (1978) und die französische Exocet (1979). Bereits in den 60er Jahren initiierte aber auch das Norwegian Defence Research Establishment (NDRE) die Entwicklung eines Seeziel-Flugkörpers, der vor allem den geografischen Bedingungen der zergliederten norwegischen Küste mit ihren zahlreichen Fjorden und Inseln Rechnung tragen sollte. Kongsberg Defence & Aerospace übernahm das Projekt und stellte der norwegischen Marine (RNoN) 1972 – einige Jahre vor Harpoon und Exocet – einen Flugkörper zur Verfügung.
Mit etwa drei Meter Länge und einem Gewicht von unter 400 kg war Penguin für die kleinen, schnellen Kampfeinheiten der RNoN maßgeschneidert (zum Vergleich: Harpoon 4,5 m, 600 kg). Der FK trug einen 130-kg-Gefechtskopf über eine Entfernung von 55 km. Wesentlicher als bloße Waffenwirkung und Reichweite war aber, dass Penguin als erster im Westen produzierter Seeziel-FK von einem Infrarotsuchkopf in sein Ziel gesteuert wurde, wobei ein Radarhöhenmesser extremen Tiefflug als »Sea Skimmer« und Treffer dicht über der Wasserlinie erlaubte. Der Verzicht auf einen damals üblichen Radar-Suchkopf ermöglichte den Einsatz auch in engen Fjorden und zwischen Inseln, wo viele fremde Radarechos ansonsten jede positive Zielerfassung unmöglich gemacht hätten. Zum anderen blieb der Infrarot-Sucher absolut passiv; keinerlei nach vorne gerichtete aktive Ausstrahlung verriet den Flugkörper auf seinem Flug. Penguin wurde Standardflugkörper bei der RNoN und ist inzwischen auch bei mehreren anderen Marinen eingeführt. Größe und Gewicht erlauben dabei auch einen Einsatz von Hubschraubern und Flugzeugen.
Penguin wurde zwar mehrfach modernisiert, war schließlich aber technologisch »ausgereizt«. Schon Ende der 80er Jahre begannen RNoN, NDRE und Kongsberg, in gemeinsamen Studien Ideen zu einem Nachfolger zu formulieren. Als die RNoN Mitte der 90er Jahre die Beschaffung neuer Fregatten und FK-Schnellboote beschloss, gab dies Anlass, die Studien in ein reales Entwicklungsvorhaben münden zu lassen. Ende 1996 erhielt Kongsberg den Auftrag zur Entwicklung eines neuen Seeziel-FK. Die »Nytt Sjoemolsmissil« (NSM) sollte technologisch auf Penguin aufbauen, in ihren Fähigkeiten aber doch deutlich über diesen hinaus gehen.
Technische Daten NSM. Bildquelle: Kongsberg |
Veröffentlichungen in Fachmedien sprachen damals von einem Flugkörper, dem Turbojet-Antrieb (Penguin: Feststofftriebwerk) eine Reichweite von über 100 km geben sollte, wobei Größe und Gewicht erneut eine Einrüstung auch auf kleinen Einheiten erlauben mussten. Erneut war ein Infrarot-Suchkopf vorgesehen, der diesmal allerdings zu weitestgehend autonomer Zielerkennung in der Lage sein sollte. Einsatzgebiete sollten sowohl die engen Fjorde der norwegischen Küste als auch die offene See sein. Ein Navigationssystem sollte »Gelände-Konturflug« (über Land und Inseln hinweg) sowie Zielendanflug auf »für den Gegner unberechenbaren Kursen« ermöglichen. Ausgeprägte Stealth-Eigenschaften sollten eine frühzeitige Ortung des anfliegenden FK erschweren.
NSM sollte Penguin eigentlich schon ab 2003 ablösen. Sowohl die Beschaffung neuer Fregatten (NANSEN-Klasse) und FK-Korvetten (SKJOELD-Klasse), als auch die Entwicklung von NSM ließen sich jedoch nicht im ursprünglich geplanten Zeitrahmen realisieren. Nicht zuletzt Diskussionen um Budgetfragen und konzeptionelle Prioritäten brachten immer wieder Verzögerungen. Schließlich aber waren alle Hürden beseitigt und auch die Entwicklung von NSM zur Serienreife abgeschlossen. Nach politischer Billigung erhielt Kongsberg im Sommer 2007 den Auftrag zur Serienfertigung des neuen Seeziel-FK – dessen Bezeichnung NSM inzwischen offiziell für »Naval Strike Missile« stand.
Die 1996 in Fachmedien als Zielvorstellung genannten Spezifikationen und Fähigkeiten sind im NSM – dem laut Kongsberg »weltweit ersten einsatzfähigen Seeziel-FK der 4. Generation« – nicht nur erreicht, sondern teils deutlich übertroffen. So beträgt die Reichweite mehr als die offiziell angegebenen 185 km. Die Mindesteinsatzentfernung liegt bei nur drei Kilometern. Mit einer Länge von 3,5 m und einem Startgewicht von 400 kg bleibt NSM in der Größenordnung von Penguin und ist damit einmal mehr deutlich leichter als konkurrierende moderne Seeziel-FK wie z.B. der schwedische RBS-15 (4,3 m; 800 kg). Der Gefechtskopf entspricht mit 125 kg in seinem Gewicht in etwa dem des Penguin; besonderes »Packen« des Sprengstoffs führt im Ziel aber zu einer weit mehr als verdoppelten Waffenwirkung.
Wärmebild einer US-Fregatte der KNOX-Klasse Bildquelle: NAVCWPNS |
Herzstück der NSM ist ein Suchkopf, der auf »Intelligent Infra-Red Imaging« setzt. Da jedes Schiff seine ureigene Infrarot-Signatur (thermische Silhouette) hat, lassen sich gewünschte Ziele vorab exakt definieren und selbst inmitten zahlreicher anderer Schiffe eindeutig identifizieren. Beim NSM vergleicht ein Computer erfasste Wärmebilder mit in einer kleinen Datenbank (onboard target database) gespeicherten Signaturen und identifiziert so völlig autonom sein vorgegebenes Ziel. Übrigens haben auch Objekte an Land eine ganz individuelle thermische Signatur und lassen sich damit als Ziele programmieren. Bei Testschüssen wurde so ein direkt neben einem Gebäude geparkter LKW exakt getroffen.
Natürlich wird ein so komplexer (und teurer) Seeziel-FK nicht einfach »ins Blaue« geschossen. Bei Zielen außerhalb des Ortungshorizonts der schießenden Einheit liefert Aufklärung aus der Luft, von Land oder von anderen Schiffen/U‑Booten erste Zieldaten wie Zieltyp und Position sowie ggf. Kurs und Fahrt, mit denen NSM vor dem Start programmiert wird. Im Zielgebiet sucht der Suchkopf ein größeres Gebiet (»Fenster«) kurz ab, »scannt« mögliche Ziele mit dem Infrarot-Sensor, vergleicht die erfassten Signaturen mit der mitgeführten kleinen Datenbank und steuert dann sein solchermaßen identifiziertes Ziel an. Bei entsprechender Ziellage (vorzugsweise seitliche Annäherung) lassen sich sogar Trefferpunkte metergenau vorprogrammieren – sei es nun direkt über der Wasserlinie oder in den Aufbauten.
Erfolgt keine positive Zielidentifizierung, bricht NSM einen Angriff eigenständig ab (Selbstzerstörung oder ins Wasser steuern). Nachteilig ist (noch), dass Ziele vor dem Start programmiert werden müssen. Eine Veränderung der Zielauswahl ist während des Fluges nicht mehr möglich. Spätere Versionen (s.u.) des NSM werden aber über diese Fähigkeit (Datalink) verfügen.
Der Suchkopf ist weitestgehend störsicher. Infrarot-Täuschkörper werden ignoriert, weil NSM eben nicht auf die stärkste Hitzequelle zielt, sondern ausschließlich eine eindeutig definierte »thermische Silhouette« sucht. In Erprobungen konnte selbst direktes Anstrahlen mit Laser den Suchkopf nicht irritieren. Bei kaum möglichem »Softkill« muss sich ein Verteidiger darauf konzentrieren, einen anfliegenden NSM durch direkten Beschuss zu zerstören (»Hardkill«), aber auch hier sind die Hürden hoch. Zum einen werden im Zielendanflug Ausweichmanöver gestartet, bei denen der extrem wendige Flugkörper eine Serie vorprogrammierter, dreidimensionaler Kurven fliegt, aus deren »irrationaler« Abfolge Feuerleitsysteme keine Vorhaltewinkel für Rohrwaffen berechnen können. Während all dieser Kurven behält der voll stabilisierte Suchkopf sein Ziel »aufrecht« im Visier. Zum anderen eröffnet der aus Kompositwerkstoffen gefertigte NSM durch Stealth-Formgebung und reduzierte Wärmeabstrahlung seines Triebwerkes kaum Möglichkeiten einer (recht-)zeitigen Ortung; seine Bauweise erschwert auch Flugabwehr-FK eine effektive Bekämpfung.
NSM wird mit einem Feststoff-Triebwerk (Booster) gestartet, nach dessen Abwurf dann ein Turbo-Jet den Antrieb übernimmt. Der Flugkörper fliegt knapp unterschallschnell in extremem Tiefflug (Sea Skimmer), wobei er mit GPS-Satellitennavigation, einem Trägheitsnavigationssystem und einem Terrain Following Radar einem vorprogrammierten Flugweg folgt, der auch über Land und um kleine Inseln herum führen kann. So kann NSM z.B. weit von der Küste entfernt in einem engen Fjord gestartet werden, diesem mehr als 100 km folgen, über kleine Inseln »springen«, um dann einen vor der Küste operierenden Gegner zu überraschen.
NSM auf NANSEN-Fregatten Bildquelle: Kongsberg |
Bei der RNoN wird die Naval Strike Missile Hauptwaffensystem der neuen Fregatten der FRIDTJOF NANSEN-Klasse und der kleinen FK-Korvetten der SKJOELD-Klasse. Die Fregatten sollen jeweils acht Flugkörper in zwei hinter dem Hauptmast installierten, querab gerichteten Vierfachstartern tragen. SKJOELD werden jeweils zwei Vierfachstarter mitführen, die unter zum Schuss zu öffnenden Klappen im Heck verborgen sind (der Stealth-Charakter der Boote bleibt damit gewahrt).
Natürlich bietet Hersteller Kongsberg NSM auch auf dem Exportmarkt an. Für eine landgestützte Version hat sich mit Polen bereits ein Käufer gefunden. Die RNoN wird wohl auf die Einführung dieser Küsten-FK-Variante verzichten. An der extrem zerklüfteten norwegischen Küste ist das auf LKW montierte System nur begrenzt mobil. Hier bleibt NSM Schiffen und Booten vorbehalten, während sich die Küstenjäger weiterhin auf die leichten, transportablen RBS-17 Hellfire abstützen.
In der Entwicklung ist auch eine als Joint Strike Missile (JSM) bezeichnete luftgestützte Version, die speziell für die von der norwegischen Luftwaffe geplanten F‑35 Lightning-II vorgesehen ist; am Projekt ist auch die australische Luftwaffe beteiligt. JSM wird gegenüber NSM noch einmal erhöhte Reichweite haben und erweiterte Optionen für Einsätze gegen Landziele bieten. Datalink wird steuernde Eingriffe wie Zielwechsel auch nach dem Start ermöglichen. Die Serienfertigung von JSM soll 2013 beginnen.
In einer späteren Variante (derzeit in der Konzeptionsphase) ist auch ein Verschuss von Schiffen aus dem standardisierten Senkrechtstartsystem Mk-41 vorgesehen. JSM würde damit zum schiffgestützten Seeziel-FK »der 5. Generation«. Erste, noch vorläufige Studien befassen sich überdies mit einer U‑Boot-gestützten Version der JSM.