Gesellschaft und Wirtschaft:
Seit 1999 wird Marokko von König Mohammed VI. regiert — einem in westlichen Augen durchaus fortschrittlichen Regenten, der Marokko modernisiert. “Regiert” ist richtig, denn die Verfassung und das politische System räumen dem Herrscher nicht nur ein Letztentscheidungsrecht ein. Die Minister für Inneres, Außenbeziehunen, Verteidigung und Religiöse Angelegenheit — also die Leiter der vier “Schlüsselressorts der Sicherheitspolitik” werden vom König bestimmt, der über sein traditionelles Beziehungsgeflecht, die “Mahsen” wesentlich mehr Einfluss ausübt als die vom gewählten Parlament bestimmte Regierung. Dieses Beziehungsgeflecht wird von der parlamentarischen Opposition als “Vettern-” und “Klüngelwirtschaft” gegeißelt.
Die Opposition ist vor allem eine Vertretung der Unterpriveligierten, der sozial Schwachen in der Gesellschaft. Auch in Marokko besteht — wie in Ägypten — eine zunehmende Kluft in der Gesellschaft, zwischen Arm und Reich.
Steigende Preise sorgen genauso wie die hohe Arbeitslosigkeit für massive soziale Probleme, von denen zwei in der Ausrichtung völlig unterschiedliche politische Kräfte profitieren.
1997 errang die parlamentarische Linke die Mehrheit im Parlament. König Hassan de II ernannte daraufhin den Sozialisten Youssoufi zum Regierungschef des Staates.
Nachdem es den Sozialisten nicht gelang, die sozialen Probleme des Landes zu bewältigen, errang die islamische Oppositionspartei “für Gerechtigkeit und Entwicklung” (PJD) immer mehr Sitze. 1997 noch mit 14 Mandaten schwach vertreten, konnten 2002 bereits 42 der 325 Parlamentssitze errungen werden, und mit den anderen religiösen Gruppierungen bildet diese gemäßigt islamische Partei seither die drittgrößte Oppositionskraft — nach den regierenden Sozialisten und der national auftretenden Istiklal-Partei. Bei den Wahlen 2007 wird ein weiterer Zugewinn für die PJD vorhergesagt — einer Partei, deren Vorbild angeblich die türkische Regierungspartei AKP ist. Die PJD tritt wie die türkische AKP als “Partei der kleinen Leute” auf, die werkonservativ und damit den christlichen Unionsparteien in Deutschland vergleichbar sei. Allerdings spricht die PJD damit dasselbe Klientel an wie die Muslimbrüder Ägyptens — was Befürchtungen vor einer “islamischen Machtübernahme” weckt.
Im September 2007 gelang es der PJD — nach der regierenden Partei der konservativen Nationalisten — zur zweitstärksten Fraktion im Parlament Marokkos zu werden. Vor allem die Jugend aus dem — von König Hassan vernachlässigten — Norden des Landes trut zu diesem Wahlerfolg der islamischen Partei bei. Gerade im Norden gibt es Bereiche, in denen die Hälfte der Jugendlichen ohne Arbeits- und Ausbildungsplatz ist.
Marokko hat — wie alle Staaten Nordafrikas — ein gewaltiges Problem: für die nachwachsende Jugend müssen Arbeitsplätze und entsprechende Aussichten auf eine sinnvolle Zukunft geschaffen werden. Dazu müssen Hunderttausende von Arbeitsplätzen geschaffen werden — Marokko braucht ein Wirtschaftswachstum, das höher ist als der Zuwachs der Bevölkerung. Nur so kann auch das Einkommen wachsen und steigenden Bedürfnissen angepasst werden.
Den ersten Schritt dazu hat Marokkko bereits gemacht: über 1/4 des Staatshaushalts wird seit 2002 in die Verbesserung der Bildung investiert — von den Grundschulen bis zu den Universitäten. Darüber hinaus versucht Marokko, durch stetige Investitionen vor allem auch den Norden des Landes zu fördern.
Inzwischen versucht Marokko, auch wirtschaftlich in Konkurrenz mit Spanien zu treten – konkret mit dem nahe liegenden spanischen Hafen Algeciras – und den Urlaubszentren im Süden Spaniens.
Seit 2003 wachsen in Ksar el Kbir (künftig „Tanger Méditerranée“), 40 km östlich von Tanger, der alten arabischen Hafenmetropole, und westlich der spanischen Enklave Ceuta für 5 Mrd. Dirham (knapp 500 Mio. Euro) auf rund 500 Quadratkilometer riesige Hafenanlagen für Öltanker, Personenschiffe und – vorerst – drei Millionen Container jährlich. Ein erster Bauabschnitt ist bereits in Betrieb. Die Container-Abteilung der dänischen Reederei A.P. Möller-Maersk hat bereits zugeschlagen – und eine Konzesssion für den Containerumschlagplatz erworben. Ab 2007 sollen, so sieht es die Vereinbarung mit Marokko vor, jährlich mindestens 1,5 Mio. Standardcontainer im neuen Hafen umgeschlagen werden. Auch die Containersparte von Eurogate ist an einer Konzession interessiert.
Der zweite Bauabschnitt wird im Jahr 2008 in Betrieb genommen werden. Bis 2012 ist dann schon eine Jahreskapazität von 8,5 Mio. Containern geplan.
Bis 2030 soll der Umschlag in dem dann größten Tiefwasserhafen Afrikas noch weiter anwachsen.
Der Platz in der Nähe von Gibraltar ist gut gewählt: hier schneiden sich die Schifffahrtsrouten von Nordamerika über Gibraltar in den Osten des Mittelmeeres – nach Suez und Istanbul – mit den großen Linien, die von Südamerika oder Westafrika entlang nach Europa führen. Ein idealer Platz also, um im internationalen Transportgeschäft ohne große Umwege größere Mengen an Fracht umzuladen. Bisher hat Algaciras vom zunehmenden Frachtboom profitiert. Der spanische Hafen gerät aber an seine Kapazitätsgrenzen, und Marokko möchte einen Teil von dem großen Kuchen abhaben.
Ein weiterer Bauabschnitt wird nach den Plänen der Regierung eine Ro-Ro-Anlage für jährlich 1,5 Mio. Fahrzeuge und 5 Mio. Passagiere aufnehmen.
Dass der Hafen nicht alleine steht zeigen die weiteren Investitionen, die auf persönliches Betreiben des jungen Königs Mohammed IV. in der unter seinem Vater Hassan II. eher vernachlässigten Region gemacht werden. 40 Mrd. Dirham – das 8‑fache der Hafeninvestitionen – soll in die Umgebung des Hafens fließen, in Erschließungsanlagen wie eine Autobahn und einen Hochgeschwindigkeitszug zwischen Tanger und Ceuta, in zwei- bis 300 Hotelanlagen und in die Errichtung zweier neuer Städte für jeweils rund 300.000 Menschen bei Ksar Sghir und Melussa. Insgesamt 1 Mrd. Euro an staatlichen Mitteln, aber auch private Investoren aus den arabischen Emiraten, aus Europa — und Kredite der EU sollen die gewaltige Investitionen finanzieren.
Besonderes Augenmerk legt Marokko dabei auch auf drei neue Sonderwirtschafszonen in der Nähe des Hafens. Neben Logistik- und Handelsunternehmen soll hier auch verarbeitende Industrie entstehen, die mit den im Hafen angelandeten Einzelteilen weitere Erzeugnisse zusammen baut. Renault hat bereits erklärt, in Tanger ein Werk zu bauen, in dem ab 2010 jährlich Automobile für Europa montiert werden sollen. Wenn — endlich — einmal die Handelshindernisse zwischen den arabischen Staaten beseitigt sind, dann können solche Montagewerke sehr schnell der Einstieg für eine lokale Automobilproduktion werden, um den arabischen Markt mit seinem großen Potential zu erschließen.
Ein Handelsabkommen mit der EU — und ein Freihandelsabkommen mit den USA — erlaubt den zollfreien Export der in Marokko gefertigten Güter.
Tanger selbst — über Jahrzehnte hin in einem “Charme des Verfalls” gefangen — wird zusehends zu einem touristischen Anziehungspunkt. Der alte Hafen soll — nach dem Vorbild anderer Hafenanlagen an der europäischen Mittelmeerküste — zunehmend zur Aufnahme von Luxusyachten verwendet werden, in dem Maße, in dem die neue Hafenanlage in “Tanger Méditerranée” ihren Betrieb aufnimmt. “Tourismus” ist dann auch ein weiteres Standbein der Entwicklung, auf das Marokkos Regierung — nach dem Beispiel Tunesiens — die Entwicklung des Landes stellen möchte.
Darüber hinaus bietet sich Marokko für eine weitere Branche an: das “klassiche Land” des IT-Outsourcings gerät inzwischen in diesem Bereich an die Grenzen des Wachstums. Die indischen Hochschulen sind nicht in der Lage, so viele qualifizierte Fachleute auszubilden wie von der IT-Industrie benötigt werden. Nordafrika bietet sich als Alternative an. Von Marokko bis Tunesien wird französisch als Hauptsprache bereits in den Schulen gelehrt, aufgrund der Nähe von Spanien zählt im Norden Marokkos auch spanisch zu den Sprachen, die schon von Kindern und Jugendlichen beherrscht werden. Dementsprechend haben sich in Tanger bereits mehrere Callcenter angesiedelt.
Ein weiteres Standbein der Marokkanischen Wirtschaft soll der Tourismus werden. Marakkesch, die alte Berbermetropole im Hinterland, kann bereits jetzt jährlich zehntausende von Touristen zählen. Nun wird die Küstenregion von Tanger für den Tourismus erschlossen. Bis 2010 sollen es jährlich mehr als 10 Mio. Touristen werden, die den Weg nach Marokko finden. Damit könnte Marokko — nach Tunesien — der zweite nordafrikanische Staat werden, dem der Tourismus den entscheidenden wirtschaftlichen Impuls für ein stabiles Wirtschaftswachstum gibt.
All diese Zukunftspläne brauchen eines — Energie: und mit dem Projekt “Desertec” wird Marokko Standort für Wind- und Solarkraftwerke, die nicht nur den eigenen Bedarf (etwa für Wasserentsaltzungsanlagen) sondern auch noch den Energieexport über die Straße von Gibraltar nach Europa ermöglichen sollen. Das erste Referenzkraftwerk mit einer Leistung von insgesamt 500 bis 1 000 Megawatt soll nach einem Bericht der “Zeit” sowie des “Handelsblatt” bereits in wenigen Jahren in Marokko entstehen, man werde “in Marokko sowohl für den heimischen Markt produzieren als auch Strom nach Europa exportieren. Schließlich gibt es dort schon eine Leitung nach Spanien.” Die Tagesschau sieht die von König Mohammed VI. angekündigte Solarinitiative, bis 2015 das erste große Solarkraftwerk des Landes bauen zu wollen, allerdings primär für den Eigenbedarf. Danach wird im Süden Marokkos eine 500-Megawatt-Anlage entstehen — falls sich entsprechende Geldgeber finden. Der Chef der marokkanischen Solarenergie-Behörde MASEN, Mustapha Bakkoury, wird in der Tagesschau wie folgt zitiert: “Wir setzen gemeinsam auf Partnerschaft, denn wir haben alle schnell eingesehen, dass wir beweisen müssen, dass diese Projekte heute möglich sind. Wir haben die Vision. Jetzt müssen wir konkrete Projekte umsetzen, von denen alle Beteiligten profitieren.” Tatsächlich scheint die Umsetzung zu erfolgen. Nach einem Bericht der Süddeutschen Zeitung vom 21.06.2012 sollen “in Kürze die beiden ersten kleinen Wind- und Sonnenkraftwerke mit zusammen 250 Megawatt Leistung in Marokko gebaut werden und von 2014 an Strom liefern.” Und das scheint tatsächlich der richtige Weg zu sein: den eigenen Energie-Bedarf mit zunehmenden Anteilen von Solarenergie und anderen Öko-Kraftwerken zu decken. Damit kann zunächst der eigenen Wirtschaft geholfen zu werden, vor allem, wenn dann auch die Herstellung der Anlagen in eigenen Fabriken geschieht und damit Arbeitsplätze geschaffen werden. Der Export ist dann ein weiterer, späterer Schritt: der Export von Strom (auch nach Europa) wie auch von Solaranlagen — in die Länder südlich der Sahara, zum Beispiel.
Marokkos Weg könnte gelingen. Dank des Wirtschaftswachstums von über 8 % — derzeit insbesondere auch durch die Bauwirtschaft getragen — konnte die Arbeitslosenquote auf unter 10 % gesenkt werden.
Rund 150.000 neue Arbeitsplätze sollen insgesamt entstehen – und damit einen Beitrag leisten zur Bekämpfung des Drogenanbaues, von dem im Rif-Gebirge um die 100.000 Familien mit 800.000 Menschen leben. Die neuen Arbeitsplätze sollen beitragen, den Canabis-Anbau auf über 130.000 Hektar Fläche zu reduzieren. Die Cannabispflanze — auf arabisch Kif genannt — wird in Marokko schon seit Jahrhunderten angebaut, und finanziert inzwischen auch den islamischen Terror.
Externe Links:
www.marokko-botschaft.de
Eurasisches Magazin 08/2010: Zehn Jahre Herrschaft Mohammed VI. – Reformkönig oder Verwalter des Status Quo?
Weitere Länderinformationen:
www.marokko.com
Länderlexikon — (www.spiegel.de)
Linksammlung Sharelook — www.sharelook.at
Der Weltspiegel: Auslandsberichte der ARD
· Marokko: Al-Kaida Verdacht (SWR, 18.05.2003)
· Marokko: Hollywood bleibt zuhause (BR, 23.03.2003)
· Marokko: Müllmänner in der Sahara (SWR, 29.12.2002)
· Marokko: Vergessen in der Wüste (BR, 06.10.2002)
· Spanien/Marokko:: Farce um Felsbrocken (SWR, 21.07.2002)
· Marokko: Königshochzeit auf Sparflamme (BR, 14.07.2002)
· Marokko: Als Jude unter Moslems (NDR, 23.06.2002)
· Marokko:: Mädchenarbeit in Herrenhäusern (SWR, 24.02.2002