Wirtschaftliche Situation heute:
Eines der größten Probleme des Landes ist das rasche Wachstum der Bevölkerung. Lebten zur Unabhängigkeit 1962 knapp 10 Millionen Menschen im Land, sind es heute dreimal so viele. Die im Zeichen von „Planwirtschaft“ aufgebaute Staatsindustrie vermag nicht, schnell und flexibel genug auf die geänderten Anforderungen zu reagieren, und eine „Privatisierung“ – die im Wesentlichen wegen der unsicheren politischen Lage ohne ausländische Beteiligung und damit ohne fremdes „know how“ abläuft – vermag die Probleme solange nicht zu lösen, solange sich nur die bisher schon unfähigen politisch verantwortlichen Personen die Eigentumsrechte an den Staatsbetrieben zuschieben. 30 Prozent der arbeitsfähigen Algerier sind ohne Stelle sind, unter den jungen Männern sogar zwei Drittel.
Wohnungsnot und Arbeitslosigkeit sind die Folge. Die aus dem Boden schießenden Internetcafes sind eine Möglichkeit, vorübergehend zu entfliehen – wenn es nicht gelingt, die algerische Wirtschaft wieder zum Laufen zu bringen, und Arbeitsplätze zu schaffen, verbleibt aber letztendlich der algerischen Jugend nur die Möglichkeit, nach Europa auszuwandern.
Im Süden Frankreichs leben heute genauso selbstverständlich viele Algerier wie einst Franzosen in Algerien gelebt und gearbeitet haben.
Dabei hätte Algerien inzwischen gute Voraussetzungen, zu einem der wichtigsten und stärksten Partner innerhalb der „Arabischen Liga“ zu werden:
Mehr Geld durch Erdöl und Erdgas
Bouteflika wird in seiner zweiten Amtszeit ab 2004 mehr Geld zur Verfügung haben. Weltweit steht Algerien bei der Erdölproduktion auf Platz elf, beim Erdgas auf Platz vier der wichtigsten Produktionsländer. Und noch nie brachten Erdöl und Gas dem Land so viel ein wie jetzt. Die Devisenreserven sind über 33 Milliarden Dollar auf mehr als 150 Mrd. Dollar (Sommer 2010) gewachsen. Gleichzeitig konnten die Staatsschulden deutlich abgebaut werden. Das militärisch gesichertes Netz von Leitungen und den beiden Verladehäfen funktionieren ökonomisch völlig losgelöst von der Misere des restlichen Landes.
Im Jahre 2006 trug der Export von Erdöl und Erdgas mit Einnahmen von 52 Mrd. $ zu 98 % zu den Einnahmen im Staatshaushalt bei. 2006 importierte Deutschland Waren im Wert von 1,2 Milliarden Euro aus Algerien, zu 98,5 Prozent waren das Erdöl und Erdgas. Mehr als die Hälfte der Gasreserven der ganzen Mittelmeerregion liegen in Algerien. Diese Ressourcen will das Land nutzen. Das Land ist bereits jetzt (2007) der drittgrößte Gaslieferant Europas. Die Gasförderung — derzeit (2007) rund 1/3 der Energieexporte Algeriens — soll nun von derzeit (2007) 62 Mrd. cbm innerhalb der nächsten drei Jahre auf 85 Mrd. cbm gesteigert werden. Die Ölförderung soll im gleichen Zeitraum von derzeit (2007) 1,35 Mio. täglich auf 2 Mio. Fass steigen. Fast 81,5 Mrd. Kubimeter Gas wurden 2009 gefördert — und haben Algerien in die Reihe der weltweit 10 größten Gasförderländer katapulitert. BP schätzt die Gasreservern des Landes auf 4,5 Billionen Kubimeter. Und dementsprechend sind Prospektoren aus der ganzen Welt in Algerien aktiv. Die erwarteten Einnahmen sind bereits verplant — alleine für die Sanierung der im Bürgerkrieg vernachlässigten Infrastruktur sollen 140 Mrd. $ ausgegeben werden. Um den Wassermangel zu lindern, sind mehrere Anlagen zur Entsalzung von Meerwasser geplant. Spätestens 2007 sollen angeblich 200 000 Kubikmeter pro Tag in die Leitungen fließen. Aber ob diese ehrgeizigen Pläne eingehalten werden? An der U‑Bahn von Algier wird schließlich seit 1990 gebaut.
Vor allem für Südeuropa wurde das direkt “gegenüber” liegende Algerien zu einem der wichtigsten Lieferanten. Italien ist seit 2006 der größte Kunde für algerisches Gas. Spanien deckt 60 % seines Verbrauchs (zu Sonderkonditionen) aus algerischen Quellen — und Portugal ist sogar zu fast 100 % von algerischen Lieferungen abhängig. Insgesamt deckt Algerien aber nur 10 % des europäischen Bedarfs (Stand Sommer 2010). Bisher sind nur zwei Pipelines in Betrieb — über Marokko nach Spanien und über Tunesien nach Sizilien(Transmed). Zwei weitere Pipelines ind geplant — “Galsi” über Korsika nach Italien, und “Megaz” direkt nach Spanien. Ab 2009 soll durch eine 200 km lange Pipeline (Medgaz) unter dem Mittelmeer Gas von Beni Saf — der Hafenstadt zwischen Oran und Marokko — nach Almeria in Spanien fließen. Ein Jahr später wird “Galsi” folgen, das Gas von Südalgerien über Sardinien und Korsika bis in die Toskana leiten soll. Eine Verlängerung der Gasleitungen bis Nigeria (weltweit siebtgrößte Gasreserven) und Niger (große Gasvorkommen unbekannter Höhe) ist geplant (Transsaharian Gas Pipeline). Mit zunehmender Versorgung könnte dann auch ein größerer Teil der europäischen Gasversorgung aus Algerien gedeckt werden. An der Erschließung südalgerischer Funde wollen sich auch weitere EU-Länder und Firmen wie etwa RWE beteiligen.
Auch die Erdöl- und Gas- Interessen der USA in der algerischen Sahara entwickeln sich. US-Vizepräsident Dick Cheney wird eine gute Kenntnis der algerischen Erdölindustrie zugeschrieben. Derzeit (2007) ist Algerien drittgrößter Flüssiggas-Exporteuer der Welt. Rund 20 % der Flüsiggasexporte werden mit Tankern in die USA verschifft. Bis 2012 sollen zwei neue Verflüssigungsanlagen für den Gasexport entstehen, mit einer Verarbeitungskapazität von insgesamt 9 Mio. Tonnen.
Die Algerier bemühen sich um weltweite Kooperation.
- China ist seit Jahren aktiv
- eon hat seit 2003 seine “Explorationsteams” stetig ausgebaut und dafür bis 2010 knapp 6 Mrd. Euro investiert. Der Konzern will mit seinem Partner — dem algerischen Staatskonzern Sonatrach — bis 2012 insgesamt sieben Bohrungen in Algerien durchführen .
- Mit Gazprom - dem russischen Monopolisten — wurde eim Kooperationsabkommen unterzeichnet, das vor allem die Europäer mit Argwohn beobachten. Beide Länder — Russland und Algerien — sind die Hauplieferanten für Europas Verbraucher. Sie tragen zusammen rund 40 % zum europäischen Gasimport bei.
China geht dabei mit seiner eigenen Methode vor, sich entsprechende Förderquellen zu sichern. China gewährt zinslose Kredite, die später mit den Erlösen der Förderung zurückgezahlt werden — womit sich China langfristige Versorgungsmöglichkeiten sichert. Darüber hinaus investiert China in der Bauindustrie (Wohnsiedlungen), im Raffinerierwesen (Ölverarbeitung) und beim Bau von Verkehrsverbindungen, im Tourismus und der Landwirtschaft. Damit wird die Abhängigkeit Algeriens vom Öl- und Gasexport verringert.
Auch Algerien ist in das Zukunftsprojekt “Desertec” involviert. Mit “Solarstrom” aus der Wüste — allerdings eingebunden in ein Gesamtkonzept, das die Energiegewinnung aus Windkraft, Geothermie, Biogas und Entsaltzungsanlagen ebenso umfasst — soll nicht nur der örtliche Bedarf gedeckt werden. Auch in der “Zeit nach dem Öl” könnte der Maghreb mit diesem Zukunftsprojekt zu einem der wichtigsten Energielieferanten Europas werden. Tatsächlich scheint die Umsetzung zu erfolgen. Nach einem Bericht der Süddeutschen Zeitung vom 21.06.2012 arbeitet “die Initiative” (nach Marokko) “in Algerien und Tunesien ebenfalls an ersten Projekten. >Die Industrie steht bereit, das Kapital steht bereit.<”
Nüchterne Fachleute unterscheiden zwischen dem ¸“nützlichen Algerien” und dem “wirklichen Algerien”.
Im nützlichen Algerien der Energiewirtschaft bringen zwei Prozent der aktiven Bevölkerung drei Viertel der Staatseinkünfte hervor, den wesentlichen Teil des Bruttosozialprodukts und praktisch den gesamten Export. Das ¸¸wirkliche Algerien” der Arbeitslosen, Subventionierten und Armen profitiert vom Erdöl-Geld nur wenig.
Es wird jetzt darauf ankommen, die Einnahmen im Wohnungsbau und in der Schaffung von Arbeitsplätzen zu investieren. Ob dies der Staat alleine schafft bleibt fraglich. Algerien wird auf Investitionen vor allem aus den westlichen Industrieländern — und hier vor allem aus Frankreich und den zentralen europäischen Ländern angewiesen sein. Die europäische Kernindustrie orientiert sich aber an den neuen EU-Beitrittsländern.
Algeriens große Städte und die relativ gut ausgebildete Bevölkerung bieten ein großes Reservoir an Arbeitsplätzen. Wenn es Algeriens Regierung gelingt, die friedliche Entwicklung beizubehalten, dann könnte — etwa beginnend mit dem Touristik-Sektor — eine zunehmende wirtschaftliche Entwicklung einsetzen. Es gibt inzwischen Restaurants mit flinkem, lächelndem Personal — und ersten Bettlern vor der Tür.
Algeriens Eisen- und Stahlindustrie kann auf eigene Ressourcen zurückgreifen und zu einem der wichtigsten eigenen Lieferanten etwa für eine eigene Autoindustrie in der arabischen Welt werden. Langsam — so berichtet die Süddeutsche Zeitung anlässlich der Wiederwahl Bouteflikas im April 2004 — erholt sich die Landwirtschaft. Vor allem in den Orangenhainen werde wieder gearbeitet und geerntet. Stellenweise wachsen Tomaten und Gurken unter Plastik-Treibhäusern. Wer mit seinem Land etwas anfangen will, dem zahlt der Staat fast alles: die Vorbereitung des Bodens, den Kauf der Bäume oder Pflanzen, die Bewässerung, den Aufwand für Kühlhäuser zur Aufbewahrung der Obsternte, die Anschaffung von Bienenstöcken zur Bestäubung — insgesamt übernimmt der Staat zwischen 80 und 100 Prozent der Kosten. Nur für Dünger und Pflanzenschutzmittel muss der Bauer — oder der Agro-Industrielle — selber aufkommen. Doch die landwirtschaftliche Produktion Algeriens hat erst wieder ein Fünftel ihrer Leistung vor der Unabhängigkeit erreicht. Und die Bevölkerung hat sich von 10 auf 30 Millionen verdreifacht.
Neuer Reichtum — Aufträge aus Staatskassen:
Auftragnehmer und Interessenten aus aller Herren Länder liefern sich ein Wettrennen um lukratve Staatsaufträge. Algerien möche dabei seine Abhängigkeit von Öl- und Gasexporten reduzieren. Das Geld aus den sprudelnden Quellen wird großzügig investiert: In den fünf Jahren von Bouteflikas ersten Amtszeit sind 700 000 Wohnungen entstanden, doch die Bevölkerung wächst pro Jahr um fast eine Million.
Vor dem Terror der Neunzigerjahre waren ungezählte Menschen aus Dörfern und einsamen Gehöften in die Städte geflohen. Zwei Millionen solcher Binnen-Flüchtlinge soll es geben. Sie zogen zu Verwandten, bauten Bruchbuden und verlängerten die Wartelisten der Agence nationale pour le logement. Dichter und Soziologen wissen düstere Lieder zu singen von den Folgen der Überfüllung, von Armut, Krankheit, Kriminalität, Prostitution, Zerfall von Familien, Misshandlung, Inzest, Irrsinn, unerfüllbarer Sehnsucht nach ein bisschen Intimität. In der Hauptstadt ist immer noch jede Wohnung im Durchschnitt von 16 Menschen belegt.
Ein lukrativer Baumarkt zeigt sich da auf — und chinesische Firmen sind bereits vor Ort. Derzeit betreiben sie mit 22 000 Arbeitern im ganzen Land 30 große Baustellen für 55 000 Wohnungen. China hat — so scheint es — inzwischen ein Monopol.
In Oran — Algeriens zweitgrößte Stadt — haben Chinesen das neue Universitäts-Hospital und das ebenso Anfang 2004 neu errichtete Sheraton-Hotel errichtet. Neben der Mustersiedlung ¸¸Sabah” (arabisch: der Morgen) in Oran mit mehrstöckigen braunen Häuser des sozialen Wohnungsbaus, mit preisgünstigen, relativ geräumigen Wohnungen für Staatsbedienstete, baut die China State Construction & Engineering Corporation mit chinesischen Arbeitern Wohnhochhäuser mit zwölf beziehungsweise 24 Stockwerken.
Die alte Kolonialmacht Frankreich ist immer noch wichtigster Lieferant für Algerien — dicht gefolgt von China, Italien und Deutschland. Und während sich chinesische und die europäischen Firmen ein Wettrennen um die staatlichen Aufträge liefern hat sich ein weiterer Interessent ins Spiel gewagt.
Anfang Juni 2007 wurde ein algerisch-amerikanisches Abkommen zur Atomforschung unterzeichnet, das die Entwicklung eines algerischen Kernenergieprogramms beinhaltet.
Deutsche Firmen haben im Jahr 2007 etwa 350 Millionen Euro investiert, so dass im Folgejahr (2008) knapp 150 deutsche Unternehmen mit Niederlassungen, Verbindungsbüros und Handelsvertretern in Algerien aktiv sein konnten Siemens ist maßgeblich am Ausbau der algerischen Eisenbahn beteiligt. Und die Infrastruktur zählt tatsächlich zu einem weiteren Schwerpunkt der algerischen Staatsinvestitionen.
Gesellschaftlich zählt Algerien zu den fortschrittlichsten arabischen Staaten. Während in Saudi Arabien allein reisende Frauen bis Ende 2007 (mit wenigen Ausnahmen) nicht einmal ein Hotel benutzen durften und keine Fahrerlaubnis erwerben können, hat in Algerien die Frauenemanzipation “Fuß gefasst”. Über die Hälfte aller Oberschüler und Universiätsabsolventen sind Frauen, die sich mit höherer Bildung auch zunehmende Unabhängigkeit erwerben. Etwa 1/3 aller Beschäftigten sind Frauen. In Krankenhäusern und Universitäten sind Frauen mehr als paritätisch vertreten. Frauen sind als Richterinnen und Polizstinnen im Staatsdienst, im Parlament und in der Regierung, und tragen vielfach entscheidend zum Familieneinkommen bei.
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Algerien — Wirtschaft und Politik: www.defence-forum.net
Da scheint es nicht verwunderlich, dass die Repräsentanten auch westlicher Staaten mit Rüstungsverkäufen locken, wenn die Ausgaben für Gas- und Öllieferungen wieder in’s eigenen Land zurück kommen sollen.