“Dass der Westen die Welt zwei Jahrhunderte dominiert hat,
war eine Anomalie der Geschichte”
Kishore Mahbubani - ehemaliger Diplomat und Professor für Politikwissenschaft der Lee Kuan Yew School of Public Policy an der National University of Singapore.
Kishore Mahbuban ist nach dem Spiegel vom 19. Mai 2008, S. 61 einer der „brillantesten und provokantesten Intellektuellen Asiens”
Der Mensch möchte Ordnung in seinem Weltbild. Er strebt nach Verständnis der Dinge, die um ihn herum wahrgenommen werden und die ihn und seine Familie beeinflussen.
Mit den heutigen Medien — Satelliten, TV, Radio, Internet — “rückt die Welt zusammen”. Gleichzeitig wird der eigene Horizont weiter, also der Bereich, der selbst in groben Zügen “überblickt” werden kann.
Wenn es früher Monate, ja sogar Jahre dauerte, bis die Nachricht von einem schweren Erdbeben in Portugal den europäischen Kontinent durcheilte, dann ist es heute eine Fragen von Stunden, ja sogar Minuten, bis eine Meldung von irgendwo auf dieser Welt im heimischen Wohnzimmer empfangen werden kann.
Dies führt zu einer zunehmenden Erkenntnis über andere Länder und Kontinente, und zum Bewusstsein, dass eine Vielzahl von Entwicklungen — weit ab, weg vom heimischen Herd — geeignet ist, das eigene Wohlbefinden entscheidend zu beeinflussen.
Ost gegen West ist Vergangenheit
Seit dem Ende der bipolaren Konfrontation nach dem Zweiten Weltkrieg — also seit dem Ende des kalten Krieges und dem Zusammenbruch des kommunistischen Ostblocks — beherrscht eine Supermacht das Geschehen.
Diese einzige verbliebene Supermacht — die Vereinigten Staaten von Amerika . sieht sich zunehmend isoliert. Regionale Bündnisse kooperieren und opponieren immer deutlicher, auch gegen die eindeutigen Erklärungen und Absichten der USA. So etabliert sich die EU zunehmend in einer eigenständigen Rolle als “Mitspieler”. Es zeichnet sich ab, dass diese regionale Bündnisse und Zusammenschlüsse zunehmend die Entwicklung der Weltpolitik beeinflussen.
Mit China ist dazu ein weiterer, militärisch nicht unbedeutender “Mitspieler” auf dem geopolitischen Schachbrett aufgetaucht.
Drei Weltenlehre — erste, zweite, dritte Welt
Nach der Welteinteilung in Ost- und West sowie die “Blockfreien” (i.d.R. Entwicklungsländer) zirkulierte die Idee der ersten, zweiten und dritten Welt.
Die erste Welt bildete der hochtechnisierte “Westen”, die zweite Welt war den weniger industrialisierten Staaten zugedacht, die auf dem Weg zur technischen Zivilisation waren, und die “Dritte Welt” bildete die Mehrheit der Entwicklungsländer, die sich vor oder auf der Schwelle zur Industrialisierung befanden. Letztere waren “Objekte des Handelns” der Ersteren, in einer absolut untergeordneten Rolle — bestenfalls “Objekte der Fürsorge” (Entwicklungshilfe) und schlechtestenfalls politische Vasallen in einem faktisch halbkolonialen Status und in der Rolle von rein formal selbstständigen Befehlsempfängern mit einer tatsächlich nur geringen eigenen Entscheidungskompetenz der nationalen Führungseliten.
Diese mehr wirtschaftliche Welteinteilung sollte sich auch in politisch-sozialer Hinsicht auswirken. Der “Ersten Welt” wurden Werte wie Demokratie und Wohlstand zugewiesen, mit der Vermutung, dass nur eine demokratisch legitimierte politische Führung auch — um wieder gewählt zu werden — den Wohlstand aller (zumindest der Mehrheit) fördert und der Erwartung, dass zunehmender Wohlstand auch zunehmende Bildung und damit funktionierende politische Mündigkeit und Mitbestimmung fördert, freilich ohne dass diese Zuweisungen immer und überall richtig wären.
Die “größte Demokratie der Erde”, wie sich Indien gerne bezeichnet, wurde und wird den ärmlichen Entwicklungsländern zugerechnet. Arabische Fürstenhäuser dagegen, deren Gesellschaft nicht auf demokratischen Werten sondern vielfach noch auf überlieferten Clan-Strukturen beruhen, gehören zu den wohlhabendsten und prosperierendsten Staaten der Erde. China hingegen, der erwachende und prosperierende Drache, der den indischen Elefanten (die “größte Demokratie der Welt”) seit Jahren wirtschaftlich in den Schatten stellt, ist nach wie vor ein “Ein-Parteien-System” unter Führung einer kommunistischen Partei, deren Erfolge diametral entgegen dem klassischen Weltbild stehen.
Nach neuesten wissenschaftlichen Untersuchungen, die von der Wirtschaftswoche (WiWo) am 21. Januar 2008 zitiert wurden (“Two Views in Institutions of Development: The Grand Traisition versus the Primacy of Institutions”) sei belegbar, dass erst steigender Wohlstand in vielen Ländern demokratische Strukturen hervorgebracht habe. Die Einkommensschwelle, von der an sich demokratische Strukturen etablierten, läge dabei historisch gesehen meist zwischen 32 und 50 % des Pro-Kopf-Einkommens der USA. Herausgegriffen hat die WiWo das Beispiel Spaniens, dessen Wechsel von der Franco-Dikatatur zu demokratischen Strukuren Mitte der Siebzigerjahre einsetzte, “als das Pro-Kopf-Einkommen das Niveau von 50 % erreicht hatte”. Die Entwicklungspolitik müsse “sich daher stärker um die Beseitigung der Wachstumsbremsen kümmern. Dazu gehöre neben der Krankheitsbekämpfung auch die bessere Ausstattung der Entwicklungsländer mit technischem Know-how”. Eine solche Politik wird aber unzweifelhaft auch zur Stärkung dieser Staaten als Akteure im globalen Machtspiel beitragen.
Externer Link:
Eurasisches Magazin — Sind Islam und Demokratie vereinbar? www.eurasisches-magazin.de
Es gibt nicht nur drei Welten sondern zur Jahrtausendwende vier Akteure:
Die globale Sicherheitspolitik wird zunehmend auch von Staaten aktiv beeinflusst, die nicht der “Ersten Welt” angehören. Bereits heute können mindestens vier militärische (und auch wirtschaftliche) “Schwergewichte”, die zugleich auch Atommächte sind, konkretisiert werden. Diese Schwergewichte (Europa ist zugleich durch Großbritannien und Frankreich vertreten) bilden die “Ständigen Mitglieder” des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen.
Als weiterer Anwärter ist Indien dabei, sich als Wirtschaftsmacht und zugleich auch als Atomwaffenstaat zu etablieren.
USA | EU | Russland | China | Indien | |
Fläche (km²) | 9.809.155 | 4.324.754 | 17.075.200 | 9.572.419 | 3.287.263 |
Bevölkerung (2007) | 301,1 Mio. | 490,0 Mio. | 141,4 Mio. | 1.300 Mio. | 1.130 Mio. |
Rüstungsausgaben (Mrd. $) | 417,5 (2005) | 130,0 (2005) | 39,8 (2006) | 37,5 (2006) (geschätzt) | 15 (2005) |
Anteil Rüstung am BIP | 4,1 % (2005) | 4,1 % (2005) | 1,5 % | 2,5 % | |
Atomsprengköpfe | 15.000 | 156 | 10.000 | 2.000 | > 130 |
Atombombentests | 1.039 (bis 1992) | 243 (bis 1996) | 718 (bis 1990) | 45 (bis 1996) | 3 (bis 1998) |
Strategische Bomber | 72 | 78 (+ 50 geplant) | ? | ? | |
SSBN | 18 | 12 (+ 2) | 15 (+ 8 geplant) | 1 (+ x im Bau) | (geplant) |
Aktives Militär | 1,5 Mio. | 1,2 Mio. | 980.000 | 2,3 Mio. | 1,3 Mio. |
Flugzeugträger | 12 (+1) | 7 (+ 3) | 1 | (+ 1) | 1 (+1) |
Kampfflugzeuge | 4.200 | 2.600 | 2.000 | 740 | |
Panzer | 7.900 | 22.000 + | 8.400 | 3.800 |
Dass es sich hierbei auch um wirtschaftlich bedeutsame Gruppierungen handelt kann nicht überraschen. Wirtschaftskraft ist die Voraussetzung für militärische Stärke. Und militärische Stärke ist letztendlich immer noch das Druckmittel, eigene politische Interessen offensiv zu vertreten (power projection) bzw. sich gegen solche Anmutungen zu wehren.
Die zunehmende Bedeutung der “Schwellenländer” wird zum Einen am wirtschaftlichen Wert der Unternehmen, und zum anderen an der gesamten Wirtschaftsleistung dieser Länder deutlich.
Nach einer Analyse der Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsgesellschaft Ernst & Young, die die Marktkapitalisierung der am höchsten bewerteten Unternehmen der Welt im Jahresvergleich (Stichtag jeweils der 31. Dezember) untersucht hat, haben unter den 100 wertvollsten Unternehmen der Welt chinesische Firmen ihren Marktwert im Jahr 2007 mit einem Zuwachs von 123 % mehr als verdoppelt, dagegen mussten die amerikanischen Firmen eine um 10 Prozent geringere Börsenbewertung hinnehmen. China stellt im Ländervergleich hinter den Vereinigten Staaten und Europa die meisten Unternehmen in der Liste. „Die Ergebnisse zeigen sehr deutlich den rasanten Bedeutungszuwachs der Schwellenländer — insbesondere Chinas — für die Weltwirtschaft“ wird ein Vorstandsmitglied von Ernst & Young in der FAZ zitiert. Und auch Europas Firmen gewinnen an Marktwert.
Was sich für die Unternehmen sagen lässt — die USA (und Japan) als “Verlierer”, China und Europa als “Gewinner” im internationalen Vergleich — lässt sich auch aus den gesamtwirtschaftlichen Daten für die gesamte Volkswirtschaften dieser Länder formulieren.
Die USA hatten 2006 gut 27 % Anteil am Welt-BIP (2002 noch knapp 32 %), auch Japan musste seinen Anteil am Welt-BIP (2002 noch 12,0 %) bis 2006 auf 9,1 % reduzieren. Europas größte Staaten folgten 2006 zusammen mit 22,1 % (Deutschland mit 6,0, GB mit 4,9, Frankreich mit 4,6, Italien mit 3,8 und Spanien mit 2,5 %). China stand mit 5,5 % (nach 4,4 % in 2002) an vorderster Stelle, und auch Brasilien war mit 2,2 % ein Aufsteiger im globalen Wirschaftswettbewerb. Nach neuester Statistik der Weltbank — das neue Verfahren berücksichtigt seit 2008 die Kaufkraft wesentlich stärker als früher — soll China aber bereits im Jahr 2007 hinter den USA den Rang als zweitstärkste Volkswirtschaft der Welt eingenommen haben.
Nach Prognosen aus dem Jahr 2007 werden die USA, die EU, China und Indien zusammen genommen in den Jahren 2010 bis 2030 jeweils (zum Teil deutlich) mehr als die Hälfte der globalen Bevölkerung, des erwirtschafteten BIPs und der Exporte auf sich vereinen.
Bevölkerung | 2010 | 2030 |
USA | 310 Mio. 4,5 % | 365 Mio. 4,4 % |
EU | 726 Mio. 10,4 % | 698 Mio. 8,4 % |
China | 1.355 Mio. 19,4 % | 1.446 Mio. 17,4 % |
Indien | 1.183 Mio. 17,0 % | 1.449 Mio. 17,4 % |
Bruttoinlandsprodukt (BIP) in Mrd. US-$ | ||
USA | 12.640 29,3 % | 19.296 26,2 % |
EU | 11.384 26,4 % | 15.864 21,5 % |
China | 2.650 6,1 % | 7.823 10,6 % |
Indien | 931 2,2 % | 3.165 4,3 % |
Exporte in Mrd. US-$ | ||
USA | 1.683 11,6 % | 3.749 31,0 % |
EU | 5.559 38,4 % | 10.296 31,0 % |
China | 1.434 9,9 % | 5.156 15,5 % |
Indien | 218 1,5 % | 1.198 3,6 % |
Quelle: Handelsblatt, 23.–25. März 2007, S. 8–9
Weinige Jahre später — am 2. Mai 2014 — meldete die Süddeutsche Zeitung, dass diese Entwicklung noch schneller eintritt, als ursprünglich prognostiziert.
(Zitat)
- Chinas Wirtschaft ist deutlich größer als gedacht und dürfte die der Vereinigten Staaten bald überholen. … Nach der neuen Rechnung erreichte die chinesische Wirtschaft 2011 fast 90 % der Größe der amerikanischen. 2005 waren es noch 43 % gewesen. …
- Die klassische Hierarchie der Staaten bröckelt. Mit China wird bald ein Land die Spitze übernehmen, das durch mittlere Einkommen geprägt ist. Indien liegt erstmals vor Japan und ist damit die neue drittgrößte Wirtschaft der Erde. .…
- Auf die sechs großen Schwellenländer — neben China und Indien sind das Brasilien, Südafrika, Indonesien und Russland — entfallen 30 % der globalen Wirtschaftsleistung. Auf die Hocheinkommensländer der OECD entfielen 2005 noch 60 Prozent, 2011 nur noch 40 Prozent. .…
- …
- China, die USA und Deutschland sind allerdings auch große Länder mit vielen Einwohnern. Berechnet man die Wirtschaftsleistung je Einwohner, liegen Katar, die chinesische Sonderwirtschaftszone Macao, Luxemburg, Kuwait und Brunei vorne. .…
- .…
(Zitat Ende)
Die “Vier bis Fünf Großen” sind in vielen Punkten vergleichbar. Die USA und Russland sind die “klassischen militärischen Rivalen”. China und die USA haben in etwa dieselbe Fläche, China hat aber die mehr als 4‑fache Bevölkerung. In unserem EU-Einführungsdossier haben wir viele Vergleiche zwischen den USA und der EU gezogen. Indien wieder ist etwas kleiner als Europa, hat gleich viele Einzelstaaten (2007) aber zweimal soviel Menschen, und Indien und China sind die beiden asiatischen Rivalen, die sich auch in der Wirtschaftsentwicklung — bei etwa gleich großer Bevölkerung — ein Wettrennen liefern.
Bemerkenswert dabei ist, dass die EU vor allem als “Exportweltmeister” prognostiziert wird — weit mehr als die USA und das prosperierende China, das schon bald die USA deutlich überholen soll. Der vom Export getragenen Wirtschaft der EU muss also an stabilen und friedlichen internationalen Beziehungen gelegen sein — weit mehr als den USA, deren BIP nach der Handelsblatt-Prognose in wesentlich geringerem Maße von der Exportwirtschaft geprägt sein wird. Die EU ist also geradezu gezwungen, sich in geopolitischem Maßstab zu engagieren.
Gerade chinesische Analysten — mit ihrem durchaus unterschiedlichen Denkansatz — sehen die EU “als einen der wichtigsten Akteure in einer sich multiploarisierenden Welt. .… In der Außenhandelspolitik sei die Integration am weitesten fortgeschritten; ökonomisch könne die EU daher auch durchaus bereits als Führungsmacht bezeichnet werden. Auch im entwicklungspolitischen Bereich gelinge es der Union, weitgehend geschlossen aufzutreten und innerhalb der internationalen Gemeinschaft einen wichtigen Beitrag zu leisten. Diplomatie und Verteidigung würden aber noch lange Zeit Sonderbereiche bleiben, bei denen die Mitgliedstaaten eine Kompetenzabgabe an Brüssel ablehnten.” (zitiert aus “Eurasisches Magazin” — EM 09–07 · 30.09.2007). Nach chinesischer Überzeugung sind die Europäer auf dem Weg, zu einer in sich geordneten harmonischen Gesellschaft zu werden, deren Mitglieder die gemeinsamen Interessen über die Interessen der einzelnen Nationalstaaten stellen. Die USA würden dagegen jede Möglichkeit nützen, um die Harmonisierung der Europäer zu destabilisieren und damit die EU in ihrer Handlungsfähigkeit einzuschränken. Aus chinesischer Sicht haben die Europäer daher ein natürliches gesamteuropäisches Interesse, den Einfluss der USA in Europa zu reduzieren.
Das heisst aber nicht, dass andere Staaten wie Russland und Brasilien oder Staatenbunde — wie etwa die Mercosur — Staaten als künftige “global players” unterschlagen werden dürfen. Während die wirtschaftlichen Daten für die USA ein zunehmend desaströses Bild zeichnen (FTD vom 29.08.2008) gelingt es Russland — dank der Rekordgewinne aus dem Öl- und Gasexport — nicht nur wirtschaftlich aufzuholen, sondern dies auch noch mit einer Restauration russischer Machtpolitik (2008: Georgien) zu verbinden.
Das Auftreten der “neuen, zunehmend global auftretenden Mitspieler” fordert zugleich zu einer weiteren Fragestellung aus:
Gibt es weitere “potentielle Kandidaten”, die in den erlauchten Kreis dieser globalen Mächte hinzu stoßen könnten?
Ausgehend von den genannten “Vier bis Fünf Großen” kommen hierzu wohl Staaten oder Staatenverbände in Frage, die
- eine Fläche von mehr als 3 Mio. km² (Indien),
- eine Bevölkerung von mehr als 140 Mio. Menschen (Russland),
- Rüstungsausgaben von mehr als 15 Mrd. $ (Indien, China),
- ein aktives Militär von zusammen genommen mindestens rund 1 Mio. Mann (Russland) und
- eine eigene Rüstungsindustrie haben, die in der Lage ist, sämtliche Teilstreitkräfte eines Landes autark mit hochwertigen Rüstungsgütern zu versorgen (wie China und Indien).
- Dies fordert auch eine entsprechende industrielle und wirtschaftliche Grundlage der jeweiligen Volkswirtschaften — zusammen genommen im Jahr 2010 wohl ein BIP von mindestens etwa 1.000 Mrd. $ (Indien, Brasilien).
Atomwaffen sind — das mag verwundern — hier nicht aufgeführt. Letzendlich sind diese Waffen doch (wie die Erfahrungen des “Kalten Krieges” zeigen) die “ultimative Nichtangriffsversicherung”. Nur wer selbst über glaubhafte atomare Abschreckung verfügt, ist letztendlich vor militärischen Bedrohungen eines Angreifers gefeit. Niemand wird aber Israel oder Nordkorea, die — so wird vermutet — über einige Atomsprengsätze verfügen — den Status einer global agierendenden Großmacht zugestehen.
Der Atomwaffensperrvertrag — löchrig wie ein Schweizer Käse — bietet auch immer noch einen halbwegs wirksamen Schutz vor der Weiterverbreitung atomarer Waffen, die in den Händen eines Ideologen oder gar eines Wahnsinnigen ja auch zur ultimativen Bedrohung werden können. Mit der Verbreitung dieser Waffensysteme würde die Wahrscheinlichkeit, dass es zu (auch irrtümlichen) nuklearen Auseinandersetzungen kommt immer mehr ansteigen. Insofern zeigt der Verzicht auf eigene Atomwaffen nicht unbedingt die Schwäche eines Staates auf, sondern es kann auch — im Gegenteil — ein Zeichen von Stärke sein, wenn auf diese Waffensysteme (freiwillig) verzichtet wird.
Tatsächlich bietet der Besitz von Atomwaffen kein Offensivpotential. Mit Atomwaffen macht man sich unangreifbar, weshalb diese Waffen auch nie eingesetzt werden.Den gleichen Effekt kann eine starke, technisch überlegene konventionelle Rüstung haben.
Nur wer in der Lage ist, jenseits des eigenen Einflussgebietes — das im Zweifel von der Einsatzreichweite landgestützter Flugzeuge bestimmt wird — offensiv tätig zu sein, kann seine Stärke auch anderen aufzwingen. “Power projection” nennt man diese Fähigkeit auf neudeutsch. Hierzu gehören konventionelle Waffen, mit denen die Kriege dann tatsächlich geführt werden. Wer hier gut gerüstet und (einem Nichtatomwaffenstaat) überlegen ist, kann seinen Anspruch mit Gewalt durchsetzen. Das gilt vor allem für Interventionskriege in anderen Weltregionen. Je höher die Fähigkeit ist, technisch überlegene Interventionstruppen in weit entfernte Einsatzgebiete zu schicken, desto mächtiger ist der so gerüstete Staat. Flugzeugträger und eine entsprechende Flotte von Begleitschiffen — oder auch gut ausgebaute Basen weit jenseits der eigenen Küsten — verleihen eine globale Offensivfähigkeit. Hier sind die USA, in großem Abstand gefolgt von Europa (dessen global verstreute koloniale Überreste entsprechende Basen abgeben) eindeutig dominierend.
Die einzelnen Träger, die Brasilien, Russland, Indien (und wohl bald auch China) im Bestand haben, sind den US-Flotten weit unterlegen und wohl nur für das unmittelbare Umfeld geeignet, und für Einsätze gegenüber Drittstaaten. “Brasilien, Russland, Indien (und wohl bald auch China)” — sind das zufällig auch die BRIC-Staaten, die wir auf einer nachfolgenden Seite als “Wirtschaftsmächte der Zukunft” näher vorstellen? Alle diese Staaten besitzen Atomwaffen (oder zumindest das know how dazu) um sich “unangreifbar” zu machen — und sie sind stark genug, einen Angriff auf das eigene Territorium mit konventionellen Waffen zumindest erheblich zu erschweren — wenn nicht gar zu vereiteln. Insoweit sind diese Staaten zumindest militärisch als “Großmächte” aufzufassen. Und mit jedem Peso, mit jeder Rupie, mit jedem Yuan, der in Lateinamerika oder Asien in die Rüstung investiert wird, verlieren die bisherigen Hegemonialmächte an Interventionsfähigkeit in der Region.
Nach den vorgenannten Kriterien “Fläche, Bevölkerung, militärische Stärke und Wirtschaftskraft” wird Indien und Brasilien das Potential zugesprochen werden müssen, als fünftes und sechstes Mitglied in den Kreis der “vier Akteuere” (USA, EU, Russland und China) aufgenommen zu werden. Brasilien und Indien werden heute übereinstimmend mit Russland und China zu den Staaten mit dem stärksten wirtschaftlichen Wachstumspotential gerechnet (siehe die Ausführungen zu den BRIC-Staaten auf den Folgeseiten) — und politische wie militärische Stärke ist eine nahezu zwangsläufige Folge der Wirtschaftskraft eines Staates (siehe China oder auch Südkorea), so wie eine nachlassende Wirtschaftskraft auch mit einem Verlust militärischer Kraft und schwindendem politischen Einfluss einhergeht. Russland und Nordkorea sind dafür genauso Beispiele wie der global sinkende Stern der USA.
Tatsächlich zeichnet sich nach dem Ende der Kolonialisierung und des “Kalten Krieges” eine zunehmend multipolare Welt ab. Die BRIC-Staaten China, Indien, Russland und Brasilien entwickeln sich genauso zu regionalen Machtzentren wie die Bündnisse von Staatengemeinschaften in Europa (EU) Lateinamerika (Mercosur) und Südostasien (Asean) um Indonesien. Andere Staatenbündnisse — etwa der Arabischen Liga — “treten auf der Stelle”. Die inneren Differenzen sind (noch) zu groß, um zu einer gemeinsamen wirksamen Politik zu finden. Allerdings ist die Überwindung dieser nachkolonialen Altlasten vielfach nur eine Frage der Zeit. Das Bewustsein von “Gemeinsamkeit” ist bei den Völkern vielfach deutlich ausgeprägter als bei den Regierenden der nachkolonialen Einzelstaaten.
Die Bildung regionaler Machtzentren geht einher mit der Revitalisierung historischer Beziehungen — die auf gewachsenen Bindungen, insbesondere im Bereich der Sprache, der Religion und der regionalen Wirtschaftskontakte aufbauen.
“Aus den Sprachen sind die Völker — nicht aus den Völkern die Sprachen entstanden”
(Isidor von Sevilla)
Die gemeinsame Sprache ist das Grundelement des modernen Nationalgedankens. Auf Basis der gemeinsamen Sprache entwickelt sich ein “Wir-Gefühl”, das für die Bildung von Nationen wichtig ist. Die Sprache ist das Mittel der Verständigung und des Verstehens, die Grundlage für Handel und Gewerbe, für Erzieung und Beratung, für die Meinungsäusserung, die Diskussion, die Meinungsbildung und die Bildung von Werten und Wertegemeinschaften. “Ich verstehe Dich nicht” ist nicht nur im übertragenen sondern vor allem auch im wortwörtlichen Sinn der vernichtendste Satz des gegenseitigen Unverständnisses. Der Mensch ist ein Gemeinschaftswesen — aber nur wenige gemeinsame Gesten wie Lachen und Weinen sind allen Menschen gleich. Die Sprache ist das Mittel der Verständigung zwischen den Menschen. Der Mensch “denkt in Sprache”. Auf Basis der gesprochenen Verständigung entwickelt sich eine Kulturgemeinschaft. Die Nationalbildung der Staaten Europas erfolgte im Wesentlichen an der Sprache — die Sprachgrenzen waren immer auch die Grenzen zum Fremden, und noch heute krankt Belgien an der Spannung zwischen Flamen und Wallonen.
Die gemeinsame Sprache ist daher — noch vor der gemeinsamen Religion und Kultur — das wesentliche Element für die Bildung von Gemeinschaften und Nationen. Moderne Medien setzen auf die Sprache als gemeinsames Bindeglied, als das Medium, mit dem Gedanken und Überlegungen am leichtesten “transpiortiert” werden können — auch, um Einfluss zu gewinnen. Obskure islamistische Terrorvereinigugnen nutzen das Internet — und selbstverständlich die englische Sprache, um ihre Botschaften weit zu streuen. Und auch “anders herum” geht der Weg: Bundeszentrale fur politische Bildung, Deutsche Welle, Goethe-Institut Inter Nationes und das Institut fur Auslandsbeziehungen etwa haben nach Meldung des “Eurasischen Magazins” ein Internetportal “Qantara.de” eingerichtet, das neben englisch und deutsch in arabisch, auf indonesisch (eienr malayischen Sprache) und in türkisch erscheint. Darüber hinaus erreichen Kommunikationssatelliten für TV-Programme über die Staatsgrenzen hinweg einen ganzen Sprachraum.
Am Beispiel der Arabischen Staaten (250 bis 300 Mio. Menschen in einem zusammenhängenden Siedlungsgebiet vom Atlantik bis zum indischen Ozean) und der türkischsprachigen Staaten Eurasiens (mindestens 145 Mio. Menschen in einem relativ geschlossenen Siedlungsgebiet) — jeweils über zwei Kontinente verteilt ‑stellt sich daher auch die Frage, ob eine rein geographische Einteilung der Länder absolut richtig ist, oder ob es — gerade wenn es um das Verständnis einer zunehmend multipolaren Welt geht — nicht besser ist, diese Bündnisse und regionale und kulturelle Eigenheiten als Hintergrund einer Organisationseinteilung zu sehen.
Ein Zusammenschluss der arabischen sowie der türkischsprachen Staaten — auf dem Weg über eine immer engere Kooperation ähnlich dem Vorbild der EU — könnte diesen Staatengruppen ebenfalls ein globales Gewicht geben. Das ist nicht ganz abwegig. Schließlich haben auch südamerikanische Länder (Mercosur) und die malayisch geprägten ASEAN-Staaten Südostasiens die EU zum Vorbild für ihre Kooperation erklärt.
Gerade bei den letztgenannten Staatengemeinschaften ist interessant festzustellen, dass sich die Bildung dieser Gruppen an Hand von ethnischen, d.h. vor allem von sprachlich-kulturellen Gemeinsamkeiten vollzieht.
Die UNESCO *) empfahl schon vor Jahren, zur Unterscheidung der verschiedenen Völker statt der Einteilung in Rassen von kulturellen Gruppen (cultural groups) zu sprechen, welches später als ethnische Gruppe übersetzt wurde: “Cultural groups, or national, linguistic, religious and geographical groups, do not necessarily coincide with racial groups. The cultural traits of such groups have no demonstrated causal connexion with hereditary racial traits. Americans are not a race, nor are Englishmen, Frenchmen, Spaniards, Turks or Chinese, nor any other national group. Muslims and Jews are no more races than are Catholics and Protestants. These cultural groups are not describable as races because each cultural group is composed of many different races. Serious errors are habitually committed when the term race is used in popular parlance; the term should never be used when speaking of such human cultural groups.”
*) vgl. The race concept. Results of an inquiry UNESCO Paris, 1952, Seite 73 und 99 (pdf)
EINE NEUE ORDNUNG? *)
FOCUS: “Steht uns eine neue Weltordnung mit den Supermächten USA und China bevor?”
Genscher: “Nein, es wird eine multipolare Weltordnung sein, in der große Staaten eine erhebliche Rolle spielen, natürlich die USA, aber auch Russland, Japan, Indien, China, Brasilien. Es wird zudem Kraftzentren neuer Art geben, nämlich regionale Zusammenschlüsse wie die Europäische Union oder die ASEAN-Staaten.”
(der ehemalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher im FOCUS-Interview, 22.05.2006)
Seitdem fast 90 Prozent der Weltbevölkerung aufgehört haben, bloße Objekte der Weltgeschichte zu sein, ist die Delegitimierung der europäisch-amerikanischen Dominanz wohl unwiderruflich deutlich geworden.
ANALYSE:
- In den kommenden Dekaden bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts wird es zu einer Verschiebung des wirtschaftlichen und politischen Gewichtes verschiedener Weltregionen und einzelner Staaten kommen.
- Asien, aber auch einzelne Subregionen in Lateinamerika, Afrika sowie im Nahen und Mittleren Osten werden wirtschaftlich und politisch weiter an Bedeutung gewinnen.
- China wird möglicherweise in den nächsten zwanzig bis dreißig Jahren zur größten Volkswirtschaft aufsteigen, Indien könnte bis zur Jahrhundertmitte zu den USA aufschließen, falls sich der gegenwärtige Trend fortsetzt.
- Aufstrebende Mächte wie Brasilien, Südafrika oder das wiedererstarkende Russland werden gleichfalls eine größere Rolle in Weltwirtschaft und internationaler Politik spielen.
- Europa und die USA werden relativ an Einfluss verlieren und stehen bereits heute vor der Herausforderung, auf die zukünftigen Entwicklungen angemessen zu reagieren.
- Die wissenschaftliche Politikberatung kann einen Beitrag dazu leisten, die zukünftigen Entwicklungstrends, aber auch mögliche Krisen und Konflikte genauer zu erfassen, und dabei helfen, adäquate außenpolitische Strategien zu entwickeln.
Spätestens ab Mitte dieses Jahrhunderts (neuere Studien sprechen sogar vom Jahre 2030 oder früher) werden drei der vier größten Volkswirtschaften in Fernost liegen, neben den USA werden Japan, Indien und vor allem China genannt. Bereits zur Jahrtausendwende lebte die Hälfte der Menschheit in Asien, während der “klassische” Westen, also vor allem Europa, die USA, Kanada, Australien und Neuseeland, nur noch knapp ein Zehntel der Weltbevölkerung stellte.
“Was ist daran neu?” würde der 2010 verstorbene britische Ökonom Angus Maddison auf diese Aussagen wohl antworten. Dieser hat die Bruttoinlandsprodukte (BIP) aller Nationen seit dem Jahr eins errechnet. Und auch, wenn vieles auf groben Annahmen und Schätzungen beruht: “Die Maddison-Statistik liefert viele überraschende Ergebnisse. Heutzutage gilt China als aufstrebende Wirtschaftsmacht, die den Westen bedroht. Dabei ist das historisch betrachtet nichts Neues: China dominierte über mehrere Jahrhunderte hinweg die ganze Welt. Im Jahre 1500 war das chinesische Kaiserreich unter der Ming-Dynastie die größte Volkswirtschaft der Erde. Ungefähr ein Viertel des gesamten Weltsozialprodukts wurde in China erwirtschaftet.”
…
Bereits im Jahr 1000 gehörte das Gebiet der späteren UdSSR zu den größten Wirtschaftsmächten der Erde — vor allem durch das damalige Mongolenreich. Von 1938 bis 1980 schob sich die UdSSR auf Platz zwei der Wirtschaftsmächte vor.
…
Bald könnten sich historische Normalverhältnisse wiederherstellen. SPIEGEL ONLINE hat die BIP-Werte für 2012 und 2030 auf Basis der von der Weltbank prognostizierten BIP-Zuwachsraten hochgerechnet — denn Maddison hat die Werte nur bis zum Jahr 2008 erfasst. Nach dieser Schätzung wird China die USA im Jahr 2030 als größte Volkswirtschaft der Welt ablösen. Das Aufstreben der Weltmacht Chinas ist so gesehen gar keine Revolution, sondern eine Rückkehr zum historischen Regelfall.” - so berichtet SPIEGEL ONLINE im April 2014 über die Forschungen des ehemalige Professors der Universität Groningen.
China, Indien, das Gebiet der späteren UdSSR (heute zwischen Russland und den zentralasiatischen Turkstaaten aufzuteilen), das römische Reich (das in der Europäischen Union wie in den arabischen Staaten Nordafrikas und des Nahen Ostens geographische Nachfolger hat), die iranischen Staaten vom Iran bis Tadschikistan, die “neue Welt” mit Nordamerika, Lateinamerika und Australien — und das von den Bantu-Nationen geprägte Afrika das sind nun einmal gemeinsame, regionale Wirtschaftsräume, die in der Lage sind, globale Bedeutungen zu erlangen.
Volkswirtschaftliche Analysen:
Seit der von David Ricardo (1771 — 1823) entwickelten “Theorie der komparativen Vorteile” ist eigentlich nachgewiesen, dass internationale Arbeitsteilung und freier Handel den Wohlstand der beteiligten Länder steigert.
Ricardos Theorie beruht auf einer einfachen Rechnung:
gesetzt den Fall, dass
- in Portugal 90 Arbeiter zur Produktion von 1000 Ballen Tuch und 80 Arbeiter für die Produktion von 1000 Fass Wein benötigt werden
- in England dagegen 100 Arbeiter für 1000 Ballen Tuch und 120 Arbeiter für 1000 Fass Wein benötigt werden,
- womit in beiden Ländern 2000 Ballen Tuch und 2000 Fass Wein durch insgesamt 390 Arbeiter erzeugt wären;
dann würden bei einer Spezialisierung
- die gleiche Zahl der Arbeiter (100 + 120 = 220) in England insgesamt 2.200 Ballen Tuch erzeugen,
- die gleiche Zahl der Arbeiter (90 + 80 = 170) in Portugal insgesamt (1000 + 1125=) 2.225 Fass Wein erzeugen,
- womit die gleiche Zahl der Arbeiter in beiden Ländern 2.200 Ballen Tuch und 2.225 Fass Wein erzeugen würde.
Der “Mehrertrag” durch die Spezialisierung beträgt also 200 Ballen Tuch und 125 Fass Wein. Damit wird bei gleichem Einsatz durch Arbeitsteilung und Handel ein komparativer Vorteil erzielt.
Ricardos Untersuchung des “komparativen Vorteils” belegt theoretisch, dass es sich sogar für Länder, die alle Produkte preiswerter erzeugen können als andere, lohnt, sich zu spezialisieren und den Handel mit weniger wettbewerbsfähigen Ländern aufzunehmen. Wenn sich jedes Land auf die Produktion der Güter spezialisiert, die es selbst (relativ zu anderen Gütern) kostengünstiger herstellen kann, dann werden die eigenen Ressourcen in die produktivste Nutzung gelenkt.
Diese Überlegung ist also die theoretische Grundlage der Globalisierung, sie belegt, dass es für alle Beteiligten wirtschaftlich ist, andere Länder in den arbeitsteiligen Handel einzubinden.
Tatsächlich scheint die mit der Globalisierung einhergehende internationale Arbeitsteilung auch zu einem erheblichen Wohlstandsplus bei den so genannten Entwicklungsländern, den späteren Schwellenländern, geführt zu haben.
Der Investmentbanker Meryll Lynch veröffentlichte im November 2006 eine Studie, die das wirtschaftliche Potential der Schwellenländer aufzeigt. Diese erstrecken sich über 75 Prozent der Landflächen, beherbergen 80 % der Weltbevölkerung und erwirtschaften gut 50 % des weltweiten Bruttoinlandsprodukts (BIP). Sie verfügen über 70 % der weltweiten Devisenreserven und einen Leistungsüberschuss von 700 Mrd. Dollar, dem ein Defizit der etablierten Industrieländer — angeführt von den USA — in gleicher Höhe gegenüber steht. In nur zehn Jahren, von 1995 bis 2005, ist das amerikanische Handelsdefizit gegenüber China von 34 Milliarden US-Dollar auf über 200 Milliarden US-Dollar angewachsen. Die Schwellenländer werden immer weniger krisenanfällig und haben das Potential, wieder — wie bis zum Jahr 1820 — rund 80 % des weltweiten BIPs zu erwirtschaften. Eine Bewältigung von internationalen Krisen ist zunehmend nur noch mit weiteren Akteuren möglich.
Anlässlich der Finanzkrise im Oktober 2008 formulierte dies Bundesaußenminister Steinmeier in einem Interview mit dem SPIEGEL (13.10.2008, S. 49) so:
“Die Neuordnung der Welt, die schon seit geraumer Zeit zu beobachten ist, beschleunigt sich. Im politischen Bereich hieß das bisher vor allem, dass die alte Blockkonfrontation des Kalten Krieges durch eine neue, noch unfertige Ordnung ersetzt wird. Die Finanzkrise verschärft diesen Wandel nun dramatisch. … Natürlich wird der Westen weiterhin eine starke internationale Rolle spielen, aber die Schwellenländer werden sich mit noch größerer Kraft einschalten. Genau diese aufstrebenden Akteure müssen wir jetzt schon stärker in die internationalen Beziehungen und ins Krisenmanagement der G‑8-Staaten einbinden, und zwar politisch wie wirtschaftlich. .…. Wir brauchen eine Weltfinanzgruppe, einer erweiterte G‑8, um über eine Neuordnung der globalen Finanzbeziehungen zu reden. Dazu sollten neben den G‑8-Staaten auch die kommenden Wirtschaftsmächte wie Brasilien, Indien, China mit gleichen Rechten und Pflichten gehören, vielleicht auch das eine oder andere Land aus dem arabischen Raum. …”
Im Jahre 2011 analysierte Alexander Busch (“Wirtschaftsmacht Brasilien”, Hanser-Verlag) den Wandel:
“Das neue politische Selbstbewusstsein kam erstmals beim Treffen der Welthandelsorganisation (WTO) 2003 in Cancún zum Vorschein. Brasiliens Diplomaten schmiedeten eine Allianz, die mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung vertrat. .… Europa und die USA waren völlig überrascht
…
Cancún ist eine der historischen Wegmarken für den weltweiten Machtwechsel, bei dem die Industriestaaten nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch an Einfluss verlieren gegenüber den aufsteigenden Volkswirtschaften. Dieser Wandlungsprozess findet inzwischen immer schnelle statt. …”
Es zeichnet sich eine neue Machtverteilung ab
Im Okt. 2007 teilte sich die Wirtschaftskraft der von Genscher genannten Staaten wie folgt auf:
1. USA 13262,1 Mrd $
2. Euro Zone 10445,5 Mrd $
darin Germany 2890,1 Mrd $
3. Japan 4463,6 Mrd $
4. China 2554,2 Mrd $
5. Britain 2357,6 Mrd $
6. Russia 975,3 Mrd $
7. Brazil 966.8 Mrd $
8. India 854,5 Mrd $
Und im Jahr 2009 sieht die Reihenfolge schon anders aus:
1. USA 14.000 Mrd. $
2. Euro Zone
darin Germany 3.100 Mrd. $
3. Japan 5.000 Mrd. $
4. China 4.800 Mrd. $
5. Britain
6. Brazil 1.300 Mrd. $
7. Russia 1.200 Mrd.
gleichauf mit India 1.200 Mrd. $
Aus: IHT print, Seite 17 Global Economy watch
sources: Bloomberg, IMF local government agencies- (für 2009 FAZ vom 26.07.2009 unter Bezug auf IWF Prognose)
Der Vergleich mit 2009 zeigt: Die BRIC-Staaten (s.u.) haben also die globale Finanzkrise offenbar besser überstanden als die etablieren Industriestaaten. Während früher China als “Werkbank der Welt” und Brasilien und Russland als “Rohstofflieferanten” erheblich von den globalen Wirtschaftszyklen abhängig waren, entwickelt sich heute eine wesentlich stärke Unabhängigkeit. Indien ist seit jeher eine Ausnahme — die Binnennachfrage (der heimische Konsum mahct fast 70 % der Wirtschaftsleistung) der ständig wachsenden Mittelschicht befeuert die Wirtschaft Indiens. Aber auch China und Brasilien entwickeln eine immer stärkere Binnennachfrage. Vor allem auch mit staatlichen Investitionen in der Infrastruktur (mit Bahnen, Kraftwerken, Straßen) wird der Nachfrageschwäche aus den westlichen Industriestaaten getrotzt — und eine ständig wachsende Mittelschicht treibt auch in China zusehends die Binnennachfrage voran. Das kompensiert den Exporteinbruch und stabilisert die Rohstoffpreise, von denen Brasilien und Russland profitieren, auf relativ hohem Niveau. Brasilien lebt dazu auch von einer zunehmend wachsenden Mittelischicht und entsprechender Binnennachfrage — und vom “Spitzen-know-how”, das führende Industrieunternehmen wie Embraer (Flugzeugbau) oder Petrobras (Tiefseeexploration von Ölvorkommen) inzwischen weltweit haben,
Wirtschaftswachstum hängt auch von einer ausreichend steigenden Energieversorgung ab. Die Nutzung von Atomkraftwerken und deren Neubau war ein Indiz — sowohl für das “know how” eines Staates wie auch für das Wachstum der Energieversorgung. Wenn man 2011 — mit Fukushima erfolgte wohl nicht nur in Deutschland eine Neubewertung der Atomenergie — als “Trendwende” sieht, dann sind die Neubauvorhaben von Atomkraftwerken durchaus geeignet, einen Trend zu eruieren. Tatsächlich waren nach Quellen der IAEA Anfang März 2012 weltweit ingesamt 436 Atomkraftwerke in Betrieb. 13 Kernkraftwerke waren im Jahr 2011 endgültig abgeschaltet worden — und insgesamt 63 Atomkraftwerke in Bau.
Die stärkste “Bauwut” zeigt China (26 Kernkraftwerke), gefolgt von Russsland (10 Kernkraftwerke) und Indien (7 Kernkraftwerke). Mit Südkorea (3 Kernkraftwerke in Bau), Japan und Taiwan (jeweils zwei Atomkraftwerke) folgen drei andere ostasiatische Staaten auf den “weiteren Plätzen”. Während in der “Kern-EU” nur noch vereinzelt Kernkraftwerke gebaut werden (Finnland und Frankreich bauen jeweils 1 Kraftwerk) zeigen vor allem die osteuropäischen Staaten (Slowakei, Bulgarien und die Ukraine bauen jeweils 2 Atomkraftwerke) entsprechende “Aufholtendenzen”. Auch die Atommacht Pakistan setzt auf Kernkraft und errichtete zu diesem Zeitpunkt 2 Kernkraftwerke. Argentienien, Brasilien und die USA liegen mit je einem Atomkraftwerk “im Bau” auf den hinteren Rängen — und das, obwohl die meisten der 104 in Betrieb befindlichen US-Atomkraftwerke über 30 Jahre im Dienst und dementsprechend veraltet und abgenutzt sind.
Die ausdrückliche Aufnahme Indiens und Brasiliens mag überraschen. Sind das nicht die Länder mit den größten Slums? Sowohl Bombay (Mumbay) als auch die Favelas in Rio sind doch exemplarische Beispiele für schlimmste Elendsquartiere — und da sollen neue Welt‑, zumindest Regionalmächte entstehen?
Der amerikanische Harvard-Professor Edward Glaeser sieht gerade in den Armenvierteln einen guten Indikator für Prosperität. Wer dorthin ziehe lebe in den Elendsvierteln schon besser als die verelende Landbevölkerung, und in den Städten entstehen ökonomische Turbogeneratoren für die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes. “Es gibt eine beinahe perfekte Korrelation zwischen Urbanisierung und Prosperität”, so Glaeser (“Triumph of the City: How Our Graetest Inventon Makes Us Richer, Smarter, Greener, Healthier, an Happier”; The Penguion Press, New York 2011). Die Wolkenkratzer in Shanghai sind insofern nichts anderes, als die horizontal gewachsenen Wohnsilos der ehemaligen Landbewohner, die sich mangels eines starken Staates (der für entsprechende Wohnungsbauprogramme sorgt) in Indien oder Brasilien zunächst in den ausufernden Flächensiedlungen der Slums niederlassen. Aber auch dort ist mit zunehmender Versorgung mit Elektritzität, Wasserversorgung und Kanalisation eine zunehmende “Aufbesserung” der Wohnsituation verbunden, die dann auch in steigenden Einkommen und zunehmendem Wohlstand der Bevölkerung korreliert. Ja, die Aufwendungen für die Infrastruktur sind in den Slumsiedlungen höher als für Hochhäuser — es werden mehr Leitungen verlegt, mehr Straßen gebaut — aber dementsprechend nachhaltiger ist auch die dadurch generierte Nachfrage, wenngleich zum Preis von höheren ökologischen Belastungen (Flächenverbrauch, Arbeitswege).
Ein weiterer Punkt um sowohl unabhängig vom Wohlwollen anderer Staaten wie auch zukunftsfähig zu sein, sind die Ausgaben für Forschung und Entwicklung (F & E). Nur, wer in der Spitzengruppe der Innovationsstaaten steht, hat die Möglichkeit, dauerhaft in der Spitzengruppe der wichtigsten Industriestaaten zu verbleiben.
Das kann am Beispiel Chinas aufgezeigt werden. Bis 2020 soll China mindestens 70 % der für die Wirtschaft erforderlichen Technologien selbst beherrschen. Seit 1995 stiegen die Ausgaben für Forschung und Entwicklung jährlich im Schnitt um etwa 20 % auf (Stand 2011) rund 100 Mrd. US-$. Weltweit werden (nach Veröffentlichung des SPIEGEL, 19/2012) im Jahr 2012 “voraussichtlich rund 1,4 Billionen Dollar für Forschung und Entwicklung ausgegeben.” Darin sind Forschungsaufwendungen privater Konzerne, z.B. von VW (6,26 Mrd. €), Nokia (4,94 Mrd. €), Daimler (4,85 Mrd. €) oder Sanofi-Aventis (4,39 Mrd. €) mit enthalten.
Ein Gegenbeispiel sind die arabischen Länder. Von 1980 — 2000 wurden in allen arabischen Ländern — an der Bevölkerungszahl gemessen mit den USA vergleichbar — nur 77 Patentanträge eingereicht (und das auch nur in Ägypten, das somit den Spitzenplatz der arabischen Forschung einnimmt). Selbst das “reiche Saudi-Arabien” hat mit seinen Hochschulen in der Vergangenheit falsche Schwerpunkte gesetzt. Wer einen Hochschulabschluss in Islamischer Theologie oder Islamische Philosophie hat, kann zwar in den theologischen Streitigkeiten und Spitzfindigkeiten der islamischen Lehre glänzen — kaum aber in der Weltwirtschaft oder auch “nur” am Operationstisch seinen Mann stehen. Erst in jüngerer Zeit haben sich auch die reichen arabischen Staaten zu einer anderen Orientierung entschlossen. In Saudi-Arabien, Dubai und anderen Staaten schießen neue Forschungseinrichtungen aus dem Boden.
Entscheidend ist aber nicht die absolute Höhe der Ausgaben, sondern letztendlich der Anteil am Bruttoinlandsprdkut (BIP), der in den einzelnen Staaten (einschließlich privater Forschungsausgaben) für F & E frei gestellt wird. Dabei ist die Höhe der Anteile sehr unterschiedlich. In Europa reicht das Spektrum von 0,5 % des BIP (Griechenland) über 2,87 % (Deutschland) bis 3,8 % (Finnland).
G‑20 — die wichtigsten Industrie- und Schwellenländer:
Die “neuen Akteure” auf der globalen Spielwiese werden zweifellos aus der Gruppe der zwanzig wichtigsten Industrie- und Schwellenländer der Erde kommen. Die “G‑20” ist ein aus 19 Staaten und der Europaischen Unon bestehender informeller Zusammenschluss. In der Gruppe der Zwanzig wichtigsten Industrie- und Schwellenländer leben rund 62 Prozent der Weltbevölkerung, die 2008 laut CIA World Fact Book auf sich rund 77 Prozent des Welt-Bruttonationaleinkommens (BNE) vereinigen (jeweils in US-Dollar gerechnet).
Land (Wirtschaftsbündnis) | Bevölkerung in Millionen | in Prozent | BNE Milliarden Dollar | in Prozent |
---|---|---|---|---|
Welt | 6.700,0 | 100,0 | 54.620,0 | 100,0 |
Vereinigte Staaten | 304,0 | 4,5 | 13.840,0 | 25,3 |
Japan | 127,2 | 1,9 | 4.384,0 | 8,0 |
Deutschland (EU) | 82,4 | 1,3 | 3.322,0 | 6,1 |
Vereinigtes Königreich (EU) | 61,0 | 0,9 | 2.773,0 | 5,1 |
Frankreich (EU) | 64,0 | 1,0 | 2.560,0 | 4,7 |
China | 1.330,0 | 19,9 | 3.251,0 | 6,0 |
Italien (EU) | 58,1 | 0,9 | 2.105,0 | 3,9 |
Kanada | 33,2 | 0,5 | 1.432,0 | 2,6 |
Mexiko | 110,0 | 1,6 | 893,4 | 1,6 |
Indien | 1.148,0 | 17,1 | 1.099,0 | 2,0 |
Südkorea | 48,4 | 0,7 | 957,0 | 1,8 |
Brasilien (Mercosur) | 196,4 | 2,9 | 1.314,0 | 2,4 |
Australien | 21,0 | 0,3 | 908,0 | 1,7 |
Russland | 140,7 | 2,1 | 1.290,0 | 2,4 |
Türkei | 71,9 | 1,1 | 663,4 | 1,2 |
Indonesien (ASEAN) | 237,5 | 3,5 | 432,9 | 0,8 |
Saudi-Arabien (GCC) | 28,1 | 0,4 | 376,0 | 0,7 |
Südafrika | 48,8 | 0,7 | 282,6 | 0,5 |
Argentinien (Mercosur) | 40,5 | 0,6 | 260,0 | 0,5 |
G‑20 | 4.151,2 | 62,0 | 42.143,0 | 77,2 |
Stand: 2008 (Quelle: Wikipedia — fett hervorgehoben sind Staaten mit > 100 Mio. Bevölkerung oder > 1.000 Mrd. $ Wirtschaftskraft)
Ursache für die Bildung dieser Gruppe war die Erkenntnis, dass der “Westen”, also die Industrieländer der Erde, die globalen Krisen immer weniger alleine bewältigen können. Ausgelöst durch die Asienkrise 1997 treffen sich Repräsentanten dieser Staaten regelmäßig einmal jährlich. Die durch den US-Immobiliencrash ausgelöste globale Finanzkrise 2008/2009 zeigt erneut, dass sich die “Schwergewichte” der Wirtschaftsmächte auf unserem Globus verschieben. Wir haben in der o.g. Länderliste einige Staaten besonders markiert. Es sind Staaten, die nach unserer Ansicht besonders für eine Führungsrolle in Frage kommen. Das sind etwa Staaten, die mehr Einwohner als die (abtretende) Weltmacht Russland mobilisieren können. Neben den Kriterien der Bevölkerungszahl und der Wirtschaftskraft gibt es freilich auch andere Kriterien, etwa die Größe eines Landes und den damit verbundenen Rohstoffreichtum, die das Potential eines Staates ausmachen. Länder, die für sich alleine nicht genügend Potential aufweisen, könnten die Möglichkeit nutzen, sich im Bündnis mit anderen entsprechend zu profilieren. Die EU, ASEAN und MERCOSUR oder die ARABISCHE LIGA oder auch eine Kooperation der turksprachigen Staaten stellen solche (potentiellen) Bündnisse dar, die bereits bisher in unterschiedlicher Stärke verwirklicht wurden.
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die globale Finanzkrise 2008/2009 die etablierten Wirtschaftsmächte unter den G‑20 Staaten offenbar wesentlich härter trifft als die Schwellenländer, denen auch weiterhin ein Wachstum auf reduziertem Niveau und geringere Haushaltsdefizite prognostiziert werden.
Wachstum | in Prozent | Haushaltsefizit | in Prozent des BIPs | |
---|---|---|---|---|
Land | 2009 | 2010 | 2009 | 2010 |
Vereinigte Staaten | - 1,6 | + 1,7 | - 7,5 | - 9,1 |
Japan | - 1,4 | |||
Deutschland | - 2,3 | + 0,7 | - 2,9 | -4,2 |
Vereinigtes Königreich | - 2,8 | + 0,2 | - 8,8 | - 9,6 |
Frankreich | - 1,8 | + 0,4 | - 5,4 | - 5,0 |
Italien | - 2,0 | + 0,3 | - 3,8 | - 3,7 |
Euro-Zone: | + 0,1 | + 0,9 | ||
China | + 6,0 | + 7,2 | - 2,7 | - 1.9 |
Kanada | ||||
Mexiko | ||||
Indien | + 5,8 | + 6,5 | - 4,4 | - 4,0 |
Südkorea | ||||
Brasilien | + 1,3 | |||
Australien | ||||
Russland | - 2,2 | |||
Türkei | ||||
Indonesien | ||||
Saudi-Arabien | + 5,1 | |||
Südafrika | ||||
Argentinien |
Diskutieren Sie mit: G‑20 (www.community.globaldefence.net)
Die FAZ — sicher kein linkes, den Kommunismus verherrlichendes Blatt — schreibt dazu am 31. März 2009: “Vor dem G‑20-Gipfel — Das Ende der chinesischen Zurückhaltung .…
Auch wenn die Folgen der Wirtschaftskrise noch nicht vollständig absehbar sind: Schon heute ist klar, dass sie die Veränderungen der internationalen Machtverhältnisse beschleunigt und die Entwicklung der Volksrepublik China zum globalen Machtzentrum neben Amerika begünstigt hat. Für den „Aufstieg Chinas“ könnte die Krise ein historischer Wendepunkt sein.”
Im Jahre 2011 konstatiert Alexander Busch (“Wirtschaftsmacht Brasilien”, a.a.O.) sogar den vollzogenen Wechsel:
“… Keine andere Instituion zeigt das so deutlich wie die G‑8, die Gruppe der Weltmächte. Noch 2007 in Heiligendamm unter der Führung von Angela Merkel wurden die Präsidenten Brasiliens, Chinas, Indiens, Mexikos und Südafrikas am zweiten Tag des Treffens zu Kaffe und Kirchen eingeflogen. Wie artige Kinder, die den Erwachsenen die Hand schütteln dürfen, bevor sie wiede aus der guten Stube geführt werden. Die Themen wurden ihnen vorgegeben. sie konnten ihre Meinungen dazu äußern. Ins Protokoll kam nichts. Das wars.
Ganz anders ging es im April 2009 zu, also knapp zwei Jahre später beim G‑20 Gipfel in London. Die Weltwirtschaft stand am Abgrund. Allen Beteiligten war klar, dass die weltweite Krise nur gemeinsam gelöst werden kann. Also mit den neuen Wirtschafsmächten. Ohne Brasilien, China und Indien wäre jeder Beschluss wenig wirksam gewesen. Zumal diese Staaten in dieser Weltwirtschaftskrise im Vergleich zu den Industrieländern wirtschaftlich stabil dastehen.
…
Die regelmäßigen Treffen der Präsidenten der BRICS-Staaten, also Brasilien, Russland, Indien, China und nun Südafrika, sind Ausdruch dieser entstehenden neuen Weltordnung. Erstmals zeigten diese Staaten beim Klimagipfel Ende 2009 in Kopenhagen ihre Muskeln. Sie tagten ausgiebig untereinander und ließen die USA und Europäer vor der Tür warten.”
Etwas weniger abstrakt — und zugleich augenfällig für die zunehmende Bedeutung der so genannten “Schwellenländer” für den eigenen, deutschen, Arbeitsmarkt ist der Absatz von “Luxusfahrzeugen” für die wachsende Mittelschicht dieser Länder. Die Wirtschaftswoche (Ausgabe Nr. 23 v. 04.06.2012) bringt das an Beispiel des KFZ-Herstellers “BMW” auf den Punkt. Von 2010 auf 2011 stieg der Absatz der Fahrzeuge des bayerischen Herstellers
- in Russland um 40 % auf 30.167 Fahrzeuge,
- in Südkorea um 43 % auf 27.400 Fahrzeuge,
- in der Türkei um 31 % auf 16.753 Fahrzeuge,
- in Brasilien um 54 % auf 15.214 Fahrzeuge und
- in Indien um 50 % auf 9.371 Fahrzeuge.
Bei diesen steigenden Absatzzahlen ist es kein Wunder, dass sich der Hersteller mit der Auslagerung von Produktionen für den regionalen Absatzmarkt in die genannten Länder befasst — was dort wiederum Arbeitsplätze schafft, und erneut die wirtschaftlich relevante Mittelschicht stärkt.
Im Folgenden wollen wir einzelnen Gruppierungen innerhalb der G‑20 Staaten unsere besondere Aufmerksamkeit widmen.
Die BRIC-Staaten:
Tatsächlich repräsentieren die nach ihren Angangsbuchtstaben so genannten “BRIC-Staaten” (Brasilien, Russland, Indien und China) mehr als 40 Prozent der Weltbevölkerung und beherrschen fast ein Drittel der Landmasse der Erde — und wenn es diesen Ländern gelingt, ihre wirtschaftlichen Entwicklungsprobleme “im Griff zu halten”, politisch stabil zu bleiben und den Wohlstand und damit die Kaufkraft der Bevölkerung zu mehren, dann werden diese Länder — heute vielfach als “Schwellenländer” bezeichnet — im globalen Wirtschaftsaustausch und in der Weltpolitik künftig eine zunehmend bedeutendere Rolle spielen. “Die vier BRIC-Staaten werden, so eine Goldman-Sachs-Studie, bis zum Jahr 2050 unter den Top 6 der stärksten Volkswirtschaften sein.”
Externer Link: FTD — Die BRIC-Staaten vermarkten sich selbst
Dabei ergänzen sich die Volkswirtschaften dieser Staaten gegenseitig. Brasilien und Russland liefern Rohstoffe und Technologie, Indien steht für High tech — und China für die Werkbank. Ergänzt mit anderen Staaten können diese Staaten einen Wirtschaftskreislauf in Gang halten, der ohne die etablierten westlichen Industriestaaten auskommt.
Brasilien ist führender Produzent und Exporteuer einer enorm breiten Reihe von Rohstoffen wie Eisenerz, Bauxit, Sojabohnen, Kaffe. Rindfleisch oder Orangensaftkonzentat und demnächst von Erdöl, das in einem beien Gürtel vor der Küste von Rio des Janeiro im Meer gefunden wurde. Es geht zunehmend dazu über, die Verarbeitung der Rohstoffe in eigenen Industrien durchzuführen.
Russland entwickelt sich seit der Präsidentschaft Putins von einem gestrauchelten kranken Land zu neuem Machtbewusstsein — und ist mit seinen Öl- und Gasvorräten der Staat, der die Wirtschaft der EU und Chinas mit Brennstoff befeuert. Daneben beginnt zunehmend die Umstrutkurierung der Wirtschaft in eine moderne Industriegesellschaft, die aufgrund der Überreste der sowjetischen Kombinate mit beinahe rasender Geschwindigkeit vonstatten geht. Das volkswirtschaftlich 2007 welweit an siebter Stelle liegende Land wird — bei Beibehaltugn des seit der Jahrtausendwende dauerhaft vorgelegtem Wirtschaftswachstums von 6 % — bis 2016 den fünften Platz erreichen können, hinter den USA, China, Japan und Indien.
Indien steht seinem asiatischen Rivalen nicht weit nach. Es profitiert von britisch übernommener Rechtsstaatlichkeit und Eliteschulen, Demokratie — und dem zunehmenden Arbeitskräftemangel in den chinesischen Boomprovinzen an der Küste. Nicht wenige der Hersteller, die als Billigproduzenten die Industriealisierung Chinas eingeleitet haben, nehmen inzwischen Verlagerungen vor, etwa in das Niedriglohnland Indien.
China verzeichnet seit Jahren mehr als 10% Steigerung des Bruttoinlandsprodukts — jährlich -, verbraucht weltweit jede dritte Tonne Stahl, ist bei Aluminium (30 Prozent der weltweiten Nachfrage), Kuper (25 %) und Stahl inzwischen weltgrößter Abnehmer und zweitgrößter Ölkonsument nach den USA.
Die vier BRIC-Staaten beginnen zunehmend zu kooperieren. So trafen sich — nach einer Meldung von RIA Novosti — die Außenminister von Brasilien, Russland, Indien und China im Mai 2008 bei einem Treffen in Jekaterinburg (Ural), um die Energiesicherheit und die Situation in der globalen Wirtschaft zu besprechen. Es ist unzweifelhaft, dass sich die vier Staaten um eine entsprechende Koordination in Wirtschaftsfragen bemühen. Darüber hinaus gibt es engere Verbindungen zwischen China, Iran, Venezuela und Russland (wie bilaterale Investmentfonds), um — wie RIA Novosti (Venezuela und Iran schließen Pakt gegen US-Imperialimus — mit Russland?) berichtet — die jeweiligen Regierungen “von der von ihr gehassten Notwendigkeit befreien, den marktwirtschaftlichen Spielregeln zu folgen. Damit würde die .… Wirtschaft nicht von der Weltkonjunktur, sondern von konkreten Investoren abhängig gemacht.” Die bisher eher auf Populismus ausgerichtete Show gewinne immer greifbarer an wirtschaftlicher Bedeutung. Vor allem sei dies eine Reaktion auf die amerikanische Außenpolitik: “Den Ländern, die potentiell zur „Achse des Bösen“ gezählt werden und die zu „demokratisieren“ sind, bleibt nichts Anderes übrig als sich zusammenzuschließen.”
Dabei scheint gerade die wirtschaftliche Entwicklung Chinas den Theorien vom Zusammenhang marktwirtschaftlicher Entwicklung und Demokratisierung zu widersprechen. China funktioniert wirtschaftlich wie ein gigantischer Staatskonzern. Vorstand und Aufsichtsrat sitzen als Regierung in Peking, und die untergeordneten Ebenen haben bei der Umsetzung der Direktiven aus der Zentrale realtiv große Handlungsspielräume. Dieser Weg scheint gerade für weniger entwickelte Länder ungeahnte Erfolge zu bringen.
Chinas BIP wuchs seit 1976 in jeder Dekade real um mehr als 100 %, mit einem Spitzenwert von 140 % (1986 bis 1995) und einer leichten Abflachung auf 131 % (1996 bis 2005).
Indien, der zweite asiatische “Newcomer” legt ständig steigende Wachstumsraten auf das Parkett, zuletzt mit 76 % (1996 bis 2005 — und 61 % in der vorhergehenden Dekade) immer noch Spitzenwerte, die jedem amerikansichen und europäischen Politiker als “Traum” erscheinen.
Russland erreichte von Januar bis September 2006 eine BIP-Steigerung von 6,5 Prozent gegenüber dem Vorjahrszeitraum und kann sich damit in die Riege der asiatischen Spitzenreiter einreihen.
Brasilien - der vierte Matador des Quartetts, das hier einmal entsprechend seinem BIP-Wachstum in umgekehrter Reihenfolge aufgezählt wird, erreichte ebenfalls steigende Zuwachsraten: von real 3,0 % im Jahre 2005 über real 3,7 % BIP Wachstum 2006 zu zu einer BIP Wachstumsprognose von 4,4 % (für das Jahr 2007) steht die Wirtschaftsentwicklung des potentiell stärksten Landes Südamerikas den anderen Staaten der BRIC-Gruppe kaum nach.
Tatsächlich nehmen — wie schon vor Jahren vorhergesagt — die Handelsströme zwischen den BRIC-Staaten zumindest in Teilbereichen massiv zu. Der Handel zwischen China und Brasilien wuchs alleine im ersten Halbjahr 2010 gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 60 %. China wurde 2009 größter Exportmarkt Brasiliens — zu 2/3 von Mineralien und Sojabohnen umfasst, während Brasilien von China fast ausschließlich Fertigprodukte importiert. Der Export der lateinamerikanischen Länder nach China ist von weniger als 5 Milliarden 1999 auf fast 50 Milliarden US-Dollar 2009 gestiegen, während die Importe aus China nach Lateinamerika von fast 7 Milliarden 1999 auf 73 Milliarden US-Dollar 2009 gestiegen sind und 2008 mit 87 Milliarden US-Dollar ihren Höchststand erreichten.
Allerdings wachsen auch die regionalen Handelsbeziehungen. Nach den USA, der EU und Japan stellen die ASEAN-Staaten im Jahr 2010 den viertgrößten Exportmarkt Chinas — und den drittgrößten Importmarkt. Die “Schwellenstaaten” unterstützen sich in ihrer wirtschaftliche Entwicklung also gegenseitig.
Eine weitere Zahl soll die Bedeutung der BRIC-Staaten verdeutlichen: eine netwickelte Volkswirtschaft benötigt Energie — dementsprechend ist der Bau von Kraftwerken ein Indiz für das Wachstum einer Volkswirtschaft. Und komplexe Technik wie Atomkraft benötigt sehr viel kno how. Der Bau von Atomkraftwerken zeigt also symptomatisch nicht nur den Entwicklungsstand, sondern auch die Entwicklung einer Volkswirtschaft. Von den Anfang 2011 in Bau findlichen 65 neuen Atomkraftwerken sollen über 2/3 in China, Indien und Russland fertig gestellt werden — und 100 weitere Reaktoren sind (nun auch in Brasilien) in Planung.
Die IBSA-Gruppe:
Eine andere möglich Kombination von übernationaler Zusammenarbeit von Schwellenländern sei hier auch noch erwähnt: Indien — Brasilien — Südafrika: die IBSA-Gruppe. Bereits im Jahr 2006 hat eine Arbeitsgruppe der Universität Kassel auf die Intensivierung der trilaterale Kooperation dieser Schwellenländer hingewiesen. “Indien, Brasilien und Südafrika, auch IBSA-Gruppe genannt, sind die wichtigsten Wirtschaftsmächte ihrer Regionen. Schon seit einiger Zeit bemühen sich die Regierungen dieser drei Länder, durch Ausbau der trilateralen Beziehungen eine Vorreiterrolle bei der Süd-Süd-Kooperation zu spielen und ein politisches und ökonomisches Gegengewicht zu den mächtigen Industrienationen des Nordens zu schaffen.” Es wäre zumindest eine “Unterlassungssünde” wenn wir diese potentiellen Kooperation mit ihrem großen Potential hier nicht erwähnen würden. Während sich die BRIC-Staaten eher über wirtschaftliche Gemeinsamkeiten definieren und zu einer globalen Abstimmung kommen, spielt in der IBSA-Gruppe auch die militärische Zusammenarbeit eine Rolle. Mit “IBSAMAR” werden regelemäßige gemeinsame Manöver der Marinen von Indien, Brasilien und Südafrika abgehalten.
“BRIC + IBSA” — oder: “BRIC + S” — die BRICS-Staaten:
Eine Kombination beider Gruppierungen stellt die zunehmende Verwendung des Begriffs “BRICS-Staaten” dar. Dabei werden die BRIC-Staaten — Brasilien, Russland, Indien und China — durch das “S” für Südafrika ergänzt.
Monopole auf Rohstoffe
Steigende Devisenreserven in den Schwellenländern
Der Wirtschaftsaufschwung der Schwellenländer wirkt sich auch in steigenden Exporten (China) und Dienstleistungen (Indien) aus — und spült immer mehr Geld in die Kassen dieser Länder. Inzwischen horten die Schwellenländer knapp 3/4 aller Devisenreserven weltweit. Die Einlagen der (oft geschmähten) klassischen Finanzinstitute der Weltwirtschaft muten dagegen marginal an.
Der Internationale Währungsfonds (IWF) — die “Feuerwehr für Zahlungsbilanzprobleme der Mitgliedsstaaten — verfügte 2007 über Einlagen in Höhe von 346,6 Mrd. Dollar. Das Kreditvolumen des IWF sank dagegen vin 96,3 Mrd. $ (Ende 2004) auf 16,1 Mrd. (im März 2008) — auch dank der hohen Rückzahlungsquoten von vormaligen “Stützungsempfängern” wie Brasilien.
Die Weltbank - zur Finanzierung von großen Infrastrukturprojekten und Entwicklungshilfeprogrammen — konnte 2007 magere 24,7 Mrd. Dollar für Kredite und Investitionen vergeben.
Chinas Devisenreserven sind vom Jahr 2000 (168 Mrd. $) an stetig innerhalb von gut 5 Jahren auf 925 Mrd. $ (Mai 2006) gestiegen. Japan (843 Mrd. $), und erst recht die alten Wirtschaftsmächte wie die Euro-Staaten (173 Mrd. $) und die USA (41 Mrd. $) sind abgeschlagen, was die Mächtigkeit zu Investitionen in Drittländern betrifft — und damit die Möglichkeit, sich Rohstoffquellen zu erschließen.
Und auch die Regierungen von Brasilien, Russland und Indien können auf immer höhere Devisenreserven blicken, die — vernüftig eingesetzt — die Wirtschaft der Länder noch mehr ankurbeln und stärken werden. Brasilien konnte Mitte 2007 gut 110 Mrd. US-$ ausweisen, Russland verfügte Anfang 2008 über Devisenreserven von gut 500 Mrd. US-$, und Indien hat von 1991 bis Ende 2007 seine Devisenreserven um den Faktor 40 vervielfacht — auf über 300 Mrd. $. Das macht diese Länder unabhängiger von Währungsspekulationen, von den ungeliebten Auflagen des IWF — erlaubt die Versorungssicherheit der eigenen Wirtschaft mit Rohstoffen abzusichern und ermöglicht gezielte Investitionen zur Förderung der eigenen Wirtschaft. China vergab 2007 über 20 Mrd. $ Kredite an afrikanische Länder — und sicherte sich damit die Versorgung mit Rohstoffen für seine boomende Wirtschaft. Indien war mit 2,5 Mrd. Kreditvolumen dabei — eine Erhöhung auf über 5 Mrd. in 2008 ist angekündigt — und investierte zusätzlich 500 Mio. $ in eigene Projekte in Entwicklungsländern. Die Kredite Chinas und Indiens alleine für Afrika waren also in der Höhe etwa dem Kreditvolumen vergleichbar, das von der Weltbank weltweit ausgegeben wurde.
Die USA kommen dagegen in der Liste der zehn Staaten mit den größten Fremdwährungsreserven gar nicht vor:
Staaten mit den größten Devisenreserven im Jahr 2008.
|
(Quelle: Wikipedia )
Geldanlage nicht mehr im US-$:
Wie wir in unserem USA-Dossier ausgeführt haben, ist inzwischen das “Ende des Dollar-Jahrhunderts” gekommen. Während früher in Krisenzeiten der US-Dollar gehortet wurde ist seit Sommer 2006 eine umgedrehte Wanderungsbewegung festzustellen. Das internationale Kapital verlässt die USA. Investitionen und Geldanlagen (privates Beteilungskapital der “private euitiy” ‑Fonds) werden zunehmend in den boomenden Schwellenländern mit ihren stark wachsenden Märkten vorgenommen, die eine wesentlich bessere Verzinsung des Anlagekapitals und eine sicherere Geldanlage versprechen. So tritt der Euro zunehmend — wenn auch in kleinen Schritten — an die Stelle des US-$, auch bei Geschäften mit Öl und Gas. Russland geht sogar so weit, eine Verrechnung in Rubel zu überlegen — misst der eigenen Währung also mehr Stabilität zu als dem US-$.
Die Devisenzuwächse der Schwellenländer werden nicht mehr in $-Anleihen angelegt, mit denen die USA ihre “Wirtschaft auf pump” finanzierten. Stattdessen fließt das Kapital in den Euro-Raum, was auch aufgrund der steigenden Kurswerte dieser Währung einen zusätzlichen Gewinneffekt verspricht. So setzt die russische Zentralbank beim Aufbau ihrer Devisenreserven verstärkt auf den Euro. Chinas Staatsbank ist sogar noch weiter gegangen. Nicht nur Devisenzuwächse werden nicht mehr in Dollar angelegt — im August 2007 haben Chinas Staatsbanker (erstmals in der Geschichte) US-Staatsanleihen verkauft, in der Größenordnung von 14 Mrd. $. Manche Kommentatoren sprechen sogar davon, dass “Kapital aus den USA floh” (Nikolaus Piper, Süddeutsche Zeitung, 3.11.2007 S. 4). Der Euro macht heute (2007) schon etwa ein Viertel der internationalen Währungsreserven aus. Vorreiter für diesen Umschwung sind die reichen Golfländer. In Quater ist der Dollarbestand im Devisentopf auf magere 40 % reduziert worden (Stand 2007).
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Andere Währungen wie Chinas Yuan als internationale Währung?
Innerhalb eines knappen Jahres — von Januar bis November 2007 — haben die Kurse der Währungen der Schwellenländer im Verhältnis zum US-$ einen enormen Aufschwung genommen.
der südafrikanische Rand stieg gegenüber dem US-$ um 18 %
der brasilianische Real stieg gegenübe dem US-$ um 16 %
die indische Rupie stieg gegenüber dem US-$ um 13 %
Chinas Währung — der Renminbi — wird auf einem künstlich niedrigen Kurs gehalten, um die Exportwirtschaft des Landes nicht zu beeinträchtigen.
Gleichzeitig nimmt die Wirtschaftskompetenz der etablierten Weltmächte scheinbar ab. Das Leistungsbilanzdefizit der “Weltwirtschaftsmacht Nr. 1” wird immer größer — von 140 Mrd. “Miesen” im Jahre 1997 über 300 Mrd. (1999) bis auf 792 Mrd. (2005).
Aus den Devisenreserven der einzelnen Staaten ergibt sich ein weiterer Punkt: das Finanzvolumen wird ja bei Banken angelegt, die mit dem Geld wirtschaften und Gewinne erzielen. Dementsprechend waren zum Stand November 2007 drei Banken aus China zu den Spitzenreitern der Branche aufgestiegen. Nach dem Börsenwert — der auch die Erwartung der Aktionäre in das künftige Ergebnis der Geschäftstätigkeit wiedespiegelt — bilden die Industrial a. Commercial Bank of China (CBC — 364 Mrd. US-$), die China Construction Bank (253 Mrd. $) und die Bank of China (229 Mrd. $) die drei größten Banken der Welt. An vierter Stelle folgt die britische HSBC (224 Mrd. $) vom alten Finanzzentrum London. Amerikanische Banken (Bank of America — 200 Mrd. $, Citigroup — 188 Mrd. $ und die CP Morgan Chase — 146 Mrd. $) mussetn Ende 2007 schon als “abgeschlagen” gewertet werden.
Globale Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 / 2009
Der “Bankenkrach” vom September 2008 — die schon Monate vorhergehende Finanzkrise der USA war die drohende Götterdämmerung, das “Wetterleuchten der globalen Finanzwirtschaft” — machte inzwischen innerhalb weniger Tage die Vormachtstellung der Wallstreet vollends zunichte. Die Süddeutsche Zeitung brachte dies bereits am 19. September “auf den Punkt”: >Die globale Finanzwirtschaft … dürfte weniger amerikanische und europäische, dafür mehr arabische und asiatische Züge tragen. Die Menschen in Singapur, Shanghai, Seoul und am Persischen Golf werden nicht so schnell vergessen, wie die Banker zu ihnen pilgerten, und um Kapital bettelten. New York wird ein wichtiger Finanzplatz bleiben, aber vermutlich nicht mehr Finanzhauptstadt der Welt.< Und auch der Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz äusserte sich am 22. September gegenüber der FAZ ähnlich: >Insgesamt wird die Bedeutung der asiatischen Wirtschaft weiter zunehmen. Amerika hat seine Ökonomie nicht gut gemanagt, Asien wächst hingegen rasant. Es gibt einen Wandel, eine Verlagerung der Wirtschaftsmacht. Amerika ist zwar noch eine starke Macht, die nicht über Nacht verdrängt werden kann, aber es gibt bereits ein Signal hin zu einer Weltwirtschaft mit mehreren starken Ländern.<
“Mit den Bestrebungen der US-Notenbank lässt sich für die zweite Jahreshälfte eine konjunkturelle Erholung erhoffen. Unterdessen entwickeln sich ausgerechnet die Schwellenländer zum Motor der Weltwirtschaft. Trotz starker Einbußen geht es in China beispielsweise mit einem Wachstum von fünf Prozent noch immer aufwärts.” — so kommentiert der Privatbankier Alexander Mettenheimer (Merck Finck & Co) Anfang Februar 2009 in der Wirtschaftswoche die globale Finanzkrise.
Tatsächlich bewältigen viele der so genannten “Schwellenländer” diese globale Krise wesentlich besser als die Industriestaaten, allen voran die USA, die am Rande eines Abgrunds torkeln oder bereits in den Abgrund gestürzt sind. Für die EU wird etwa durchschnittlich in 2009 ein gegenüber 2008 um 1,8 % reduziertes BIP prognostiziert, während für China noch ein Wirtschaftswachsum von 5,5 % für 2009 erwartet wird (FTD 23.01.2009). Auch Iür Indien wird 2009 noch ein Wirtschaftswachstum von bis zu 6 % erwartet (FAZ 31.01.2009), und auch Saudi-Arabien soll sich ein Wachstum von über 5 % erarbeiten (FAZ 25.01.2009).
Chinas Wirtschaftswachstum verringerte sich 2008 auf 9 %, nachdem fünf Jahre lang — bis 2007 — zweistellige Wachstumsraten erzielt worden waren und Chinas Regierung von der Angst vor Überhitzung umgetrieben wurde. Chinas Wirtschaft ist im Wesentlichen durch den Export gespeist, der in Folge der globalen Finanzkrise zusammen gebrochen ist. Das Wirtschaftswachstum ist reduziert — weist aber noch eine Größe auf, von denen die westlichen Industriestaaten nur träumen können.
Indien - der asiatische Konkurrent der Chinesen — ist in wesentlich geringerem Maße auf Export angewiesen als China. Der Einbruch der globalen Nachfrage wird also die Inder voraussichtlich wesentlich weniger treffen als die Chinesen.
Selbst Russland - das von westlichen Experten als das Land mit der schlechtesten Wirtschaftspolitik bezeichnet wird und daher wohl am ärgsten unter der weltweiten Finanzkrise zu leiden hätte — hatte 2008 noch ein Wirtschaftswachstum von voraussichtlich um 5,6 Prozent zu verzeichnen.
Australien, Brasilien und Russland sowie die Erdöl- und Gasexportierenden Länder des Nahen Ostens und Zentralasiens leiden vor allem unter den sinkenden Rohstoffpreisen. Allerdings wird dadurch auch die Rohstoffversorgung für die beiden asiatischen Boomländer günstiger, was deren Wirtschaftsleistung und die eigene Binnenkonjunktur fördern dürfte. Dazu kommt, dass Rohstoffe endlich sind — mit steigender Knappheit steigt der Preis der Rohstoffe, und so ist ein Preiseinbruch etwa am Öl- und Gasmarkt allenfalls als vorübergehende Erscheinung zu bewerten.
Die weltweite Finanzkrise könnte also durchaus dazu beitragen, den Austausch der Schwellenländer untereinander zu verstärken und diese befähigen, zu den etablierten Industrienationen noch mehr aufzuholen.
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Neue Rangfolge unter den Weltwirtschaftsmächten:
China — die USA — Indien und dann Europa — so erwartet Goldmann-Sachs im Jahre 2050 die am BIP orientierte Reihenfolge der wichtigsten Wirtschaftsmächte, und von der Einwohnerzahl her werden Indien und China — vor den USA und Westeuropa — die Welt dominieren (Quelle: SPIEGEL, 11.09.2006). Und weil wirtschaftliche Macht meistens auch mit politischer Macht einhergeht (moralische Autoritäten wie der Dalai Lama oder der Papst im Vatikan üben — selbst wenn sie über einen eigenen Staat herrschen — eine andere Art von “Macht” aus), wird mit dieser Wirtschaftsänderung auch eine neue Weltordnung entstehen, es gibt neue Akteure, “die die Welt beherrschen”.
Die Financial Times Deutschland widmete Anfang 2008 eine ganze Artikelserie diesen “Mächten von morgen”. Nach den “BRIC-Staaten” (Brasilien, Russland, Indien und China) wurden Ägypten, Indonesien, Kolumbien, Nigeria, Mexiko, Südafrika, Vietnam und die Türkei als Länder vorgestellt, die mit bestem Zukunftspotential in das neue Jahrtausend gehen würden.
Aus den einstigen “Schwellenmächten” haben sich sogenannte “Ankerländer” entwickelt. Das sind Staaten, die für die stabilen Verhältnisse in ihrer Region und für die Nachbarn so wichtig geworden sind, dass ihre sichere “Verankerung” — so das Ende 2004 entwickelte Konzept des BMZ — auch im Interesse Deutschlands liegt. Es sind Staaten, die “global eine wachsende Rolle in der Gestaltung internationaler Politik” einnehmen. Tatsächlich agieren vor allem auch China und Brasilien immer mehr auf der internationalen Bühne.
Mit dem Pekinger Afrikagipfel — bei dem über 40 Staats- und Regierungschefs aus Afrika in Peking intensiv umworben wurden — zeigt China im Herbst 2006 offen, dass es Afrika zunehmend als Interessensgebiet und Partnerregion begreift. Von 1995 bis 2006 wurden 27 Öl- Gas- und Erzprojekte mit afrikanischen Staaten abgeschlossen. China errichtet Häfen, baut Eisenbahnen, U‑Bahnen, Flughäfen, Telekomnetze und ganze Stadtregionen neu auf und entsendet ein unermüdliches Heer von Arbeitskräften — ohne von den afrikanischen Geschäfspartnern Mindeststandards in der Sozialpolitk, der Korruptionsbekämpfung oder beim Umweltschutz zu fordern. China dient sich damit gerade despotischen Führerpersönlichkeiten auf dem afrikanischen Kontinent an. Bis 2010 soll — so wurde auf dem Gipfel in Peking angekündigt — Handel, chinesische Investitionen und Entwicklungshilfe in Afrika verdoppelt werden. Zehn Mrd. $ Vorzugskredite wurden offeriert, gleichzeitig Milliardenschulden erlassen und eine Unmenge an Hilfen vom Bau von Agrarzentren, Dorfschulen und Kliniken bis hin zu Ausbildung, Stipendien und weiteren Hilfen zugesagt.
Auch Brasilien betrachtet die Süd-Süd-Kooperation als außenpolitische Priorität mit besonderem Schwerpunkt in Afrika. Brasilien hat mit 22 afirkanischen Staaten entwicklungspolitische Kooperationen vereinbart und führt gemeinsame Flottenmanöver und Freundschaftsbesuche mit afrikanischen Staaten durch.
Staaten wie die USA, Russland, Brasilien, China, Japan und Indien oder Australien und Staatengemeinschaften wie die EU , MERCOSUR , die ASEAN-Staaten oder auch die ARABISCHE LIGA und die Gemeinschaft der türkischsprachigen Staaten Eurasiens repräsentieren Gemeinschaften von (sub-)kontinentalen Ausmaßen und können (bei entsprechender Solidarität und Entwicklung) von der Ausdehnung (Fläche) und der damit verbundenen Menge an Ressourcen (Bodenschätze) und/oder auch von der Bevölkerung (Potential) jeweils für sich beanspruchen, in globalen Spiel der Mächte mitreden zu können.
Dabei darf man sich aber von den absoluten Zahlen nicht täuschen lasssen. Gemessen am realen BIP pro Kopf liegt China mit 24.000 HK-$ (Stand 2005, kaufkraftbereinigt) nur knapp vor dem Bürgerkriegsland Sri Lanka. “Einkommensinseln” wie Hongkong (203.000 HK-$) können nicht darüber hinweg täuschen, dass die Masse der Landbevölkerung noch weit hinter der Entwicklung herhinkt. Indien (12.000 HK-$ pro Kopf) folgt sogar nach den armen Philippinen (17.000 HK-$), dem von bürgerkriegsähnlichen Unruhen erschütterten Pakistan (14.000 HK-$) und liegt nur knapp vor Kambodscha (8.000 HK-$).
Auswirkungen auf die internationale Politik:
Für die Politik stellt sich die Frage, wie mit dieser geänderten geopolitischen Situation umgegangen werden kann. Auch Weltmächte wie die USA geraten bei einer klassischen Hegemonialpolitik an die Grenzen der eigenen Leistungsfähigkeit. Selbst wenn heute eine Weltmacht wie die USA ein Waffenembargo gegen einen Staat der Erde verhängt — es finden sich andere Staaten oder Staatengemeinschaften, die den Platz dieses Lieferanten binnen kürzester Zeit einnehmen. Und auch eine direkte Intervention gegenüber kleineren Staaten erscheint immer problematischer.
Vietnam und Afghanistan, Somalia und Irak stehen synoym für das Debakel von Weltmächten, deren agieren alleine auf militärischer Stärke und unter gleichzeitiger Missachtung kultureller Eigenheiten beruht. Die Einbindung kleinerer Staaten in ethnisch-kulturell begründeten Staatengemeinschaften verbietet bei gemeinsamer Solidarität der Beteiligten zunehmend jede Art von Druck “von Außen”, Druck sowohl wirtschaftlicher wie auch militärischer Art.
Die — von Wirtschaftsexperten bereits vor Jahren festgestellte Entwicklung — hat inzwischen auch zu politischen Diskussionen geführt — und wird im Ergebnis von der Politik im Wesentlichen geteilt.
Im März 2008 “haben die drei wichtigsten deutschen außen- und entwicklungspolitischen Thinktanks, das Deutsche Institut für Entwicklungspolitik (DIE), das GIGA German Institute of Global and Area Studies und die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) zusammen mit Vertretern des Auswärtigen Amtes, des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) und des Bundeskanzleramtes über „Neue Führungsmächte/Ankerländer – Herausforderungen und Perspektiven für die Politikgestaltung Deutschlands“ beraten.”
Das Eurasische Magazin hat in seiner Juli-Ausgabe 2008 die wichtigsten Ergebnisse dieser Tagung dokumentiert. Wir erinnern hier auf die bereits zu Beginn dieser Seite erfolgte Zusammenfassung der Analyse (Die ausführliche Dokumentation der Tagung findet sich bei GIGA German Institute of Global and Area Studies und im Eurasischen Magazin).
*) Anmerkung:
Unsere Überschrift entstand im Januar 2008. Wir freuen uns, dass Jim O’Neill, “der Rockstar von Godman Sachs” in seinem Buch “DIE MÄRKTE VON MORGEN” (1. Auflage 2012) mit seinem Kapitel “Eine neue Weltordnung” zu den gleichen Ergebnissen kommt, wie wir — nicht nur in der Überschrift.
Die Überschrift der “WELT AM SONNTAG” vom 23. März 2014 unter dem Titel “Risiko! Die neue Ordnung der Welt” befasst sich nur mit einem Teilaspekt der Entwicklung — der Rückkehr Russlands zur alten “Machtpolitik”, der aber zugleich den wirtschaftlichen Zusammenbruch des Landes zur Folge haben könnte.
Samuel Huntington — Die These vom “Zusammenprall der Kulturen”
1993 versetzte die These vom “Zusammenprall der Kulturen” vor allem Islamwissenschaftler und Orientalisten in helle Aufruhr — der Politikwissenschaftler Samuel Huntington warnte vor einer neuen Gefahr, dem Islam als einer bedrohlichen Zivilisation.
Inzwischen ist die Auseinandersetzung zwischen Islam und westlichen Industriestaaten auch in den populären Berichten z.B. von P. Scholl-Latour ein Kernpunkt der politischen und wirtschaftlichen Auslandsberichterstattung.
Bei näherem Hinsehen stellt sich aber eine gewisse Differenzierung heraus.
Es geht nicht um Islam gegen Christentum, die Akteure sind vielmehr regionaler gegliedert. Nordamerika ist mit Europa nicht in einer Linie, und auch die islamischen Staaten Iran, Türkei und Irak stehen an unterschiedlichen Stellen in dieser Gemengelage. China und Indien (und im Übrigen auch Japan) fehlen dagegen in dem Szenario “Islam gegen Christentum” völlig. Dabei sind gerade diese aufstrebenden asiatischen Riesen im neuen Jahrtausend noch von viel größerer Bedeutung als die in sich uneinigen islamischen Staaten. Es lohnt sich also, die Intentionen Huntingtons näher zu analysieren — und nicht nur auf das Verhältnis von zwei großen monotheistischen Religionen zu reduzieren.
Huntington will die bisher gültige Einteilung der Welt in eine erste, zweite und dritte zugunsten einer Unterscheidung nach kultureller Einheit, Städte, Regionen, ethnischen Gruppen, Nationalitäten, religiösen Gruppen aufgeben. Er unterscheidet die Kultur einer süditalienischen Stadt von der einer norditalienischen, beide seien aber gemeinsamer italienischer Kultur, die sich ihrerseits z.B. wieder von deutschen Städten unterscheidet — und die europäische Gemeinschaft unterscheidet sich wieder von arabischen oder chinesischen Erscheinungsformen.
Für deutsche Verhältnisse ließe sich der Vergleich schon aufbauend mit den Unterschieden zwischen einem altbayrischen Dorf und den fränkischen Fachwerkbauten beginnen.
Wer sein Leben lang in der altbayerischen Landschaft mit seinen Blockhäusern und den flach geneigten Dächern verbracht hat, der empfindet die fränkischen Fachwerkhäuser als “fremd”, als “fremdartig”, und noch im Mittelalter war das politische Selbstverständnis des “wir”, der sich zusammengehörig empfindenden Menschen gegenüber “den Fremden”, “den Anderen” auch von den Hauslandschaften geprägt.
Die nächste Stufe des “wir” bilden die bis zum Anfang des letzten Jahrhunderts bestehenden Eigenstaaten, die sich in den heutigen Bundesländern zum Teil wiederfinden. Bayern und Preußen — noch immer ein Gegensatz, auch wenn es den Staat “Preußen” nicht mehr gibt; aber seine Bevölkerung, die Bewohner der Hauptstadt Berlin und des Landes Brandenburg, lebt weiter.
Der Nationalstaat Deutschland war — und ist — die nächste Stufe der Einheit, bildet den nächsthöheren Horizont des “Wir-Gefühls” im Verhältnis zu “den Anderen”, den “Ausländern”.
Und mit zunehmender Reise- und Urlaubserkenntnis bildet sich unbewusst eine weitere, noch höher liegende “Wir-Ebene.” Romanische und Gotische Kirchen finden sich nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich, England, Italien. Alle diese Länder haben in ihren alten Städten Gebäude dieses Baustils, der in Frankreich als “französischer Stil” bezeichnet wird.
Die Großstadt Berlin unterscheidet sich in ihrer erlebbaren Architektur, in ihrer “Sinneswelt” mit Häusern, U‑Bahn und Straßenverkehr nicht wesentlich von Paris oder London, die Unterschiede zwischen einem mecklenburgischen Dorf und der Weltstadt Berlin sind wesentlich größer als die zwischen Berlin und den anderen europäischen Großstädten.
Der europäische Einigungsprozess tut ein Übriges — aus wirtschaftlichen Bündnissen entsteht eine politische Einheit, verkörpert im Europäischen Parlament und erlebbar im “Euro”, der gemeinsamen Währung.
Es sind nur noch wenige Münzsammler, die €-Münzen aus anderen Ländern der eigenen Sammlung zuführen, ganz selbstverständlich aber gehören die unterschiedlichen nationalen Prägungen zum überall akzeptierten Zahlungsmittel.
Hier hat sich eine weitere, höher gelegene “Wir-Ebene” gebildet und bezeichnenderweise beteiligen sich am Irak-Krieg 2003 mit England und Dänemark zwei Staaten der europäischen Gemeinschaft auf Seite der USA (und in klarer Abgrenzung gegenüber europäischen Positionen), die nicht der €-Zone angehören. Andere europäische Regierungen wie Italien oder Spanien haben die USA zwar verbal unterstützt, dann aber — auf Druck der eigenen Bevölkerung ? — eine weitere, darüber hinausgehende Beteiligung unterlassen.
Abd al-Rahman Ibn Khaldun (1332 — 1406)
Die Erkenntnis ist nicht neu. Bereits dieser arabische Wissenschaftler und Historiker versuchte eine Erklärung der Frage, warum Reiche — Imperien — entstehen und verfallen. Mit dem soziologischen Begriff de “Asabiya” glaubte Ibn Kaldun den entscheidenden Faktor beschreiben zu können. De Zusammenhalt einer Gesellschaft, das “Wir-Gefühl” einer Gemeinsamkeit führt nach Ibn Khaldun zur Bildung von starken Gesellschaften. Dabei sind — nach dem amerikanischen Evolutionsbiologen Peter Turchin — gerade die konfrontativen Kontakte an ethnischen Bruchzonen entscheidend, um ein “Anderssein” wahrnehmen zu können und darauf aufbauend die eigene Gesellschafsidentität zu verinnerlichen.
Das römische Imperium sei als Reaktion der römisch-griechisch-etruskischen Stadtstaaten auf die gemeinsame Bedrohung durch die Keltenwanderung entstanden, die Eroberung und Romanisierung Galliens lies die ehemaligen keltischen Länder in die “Wir-Gesellschaft” eintreten, an deren Grenzen nun die “anderen”, die barbarisch germanischen Stämme am Limes standen.
Und das römische Imperium ging erst unter, als diese germanischen Stämme das weströmische Kernland überrannten — und durch die Spaltung zwischen der “westlichen römischen” und der “östlichen orthodoxen” Kirche auch das “Wir-Gefühl” verloren ging. Das so isolierte Ostrom konnte den Ansturm eines neuen, islamischen Imperiums aus Arabern und Türken nicht mehr standhalten — zumal sogar Heerzüge aus dem Westen Europas plündernd über dieses Relikt des römischen Reiches herfielen.
Das “Deutsche Reich” kann als (späte) Reaktion auf die französische Herrschaft über die Landesfürsten unter Napoleon verstanden werden.
Auch die Europäische Union entstand an der “metaethnischen Bruchlinie” zwischen dem “kapitalistischen Westen” und dem “kommunistischen Osten”. Die als gemeinsame Bedrohung empfundene sowjetische Diktatur führte zur Vernachlässigung der Gegensätze zwischen den westeuropäischen Nationen, die noch vor wenigen Jahrzehnten zwei Weltkriege auslösten. Die “deutsch-französische Erbfeindschaft” wurde angesichts dieser Bedrohung in wenigen Jahren auch emotional überwunden.
Nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Bedrohung enwickelt sich auch die NATO auseinander — die Gegensätze zwischen den USA und Europa treten immer deutlicher zu Tage.
Jugoslawien zerbrach, als die “Wir-Identität” der einzelnen Völker gegenüber dem Zusammengehörigkeitsgefühl der “Südslawen” immer größer wurde. Es gab keinen “äusseren Druck”, der Slowenen, Kroaten, Bosnier und Serben “zusammen geschweißt” hätte. Das mächtige benachbarte Europa der EU wurde als Verlockung und nicht als Bedrohung empfunden.
So gesehen brauchen Imperien, die über die Nationalstaaten hinaus mehrere Nationen umfassen, eine “Bedrohung” von Aussen, einen gemeinsamen Gegner, der die inneren Gegensätze zurück drängt und überwindbar macht, und so ein “Wir-Gefühl” gegenüber “den Anderen” enwickeln lässt. Es wird abzuwarten sein, ob das “neue Russland” weiterhin als Katalysator für ein “europäisches Wir-Gefühl” wirken kann, ob die Unterschiede zwischen dem (katholisch geprägten) und spanisch/portugiesisch sprechenden Südamerika, dem englisch sprechenden (evangelikal geprägten) Nordamerika, der (durch die katholischen und evangelischen Christen geprägten) EU und der “orthodoxen Zivilisation” (mit den “slawischen Nationen” Russland, Weißrussland, Ukraine und Serbien sowie Moldawien, Georgien und Armenien) eigene “Blöcke” entstehen lassen. Es bliebe auch abzuwarten, ob die “gelbe Gefahr China”, “der Islam” als Katalysator für ein weiteres Zusammenwachsen der Europäer oder gar der “westlichen (christlich geprägten) Kulturen” ausreichen.
Zurück zu Huntington und mit anderen Worten:
Huntington entwickelt seine These vom “Clash of Civilizations” vor allem an der Bruchlinie zwischen “dem Westen” und “dem Islam”. Er definiert Zivilisation als größtmöglichen Zusammenschluss auf einer größtmöglichen Ebene von Identität, die durch gemeinsame objektive Kriterien wie Sprache, Geschichte, Religion, Sitten, Institution und eine subjektive Zugehörigkeit (Selbstidentifizierung) gekennzeichnet ist.
Eine solche Zivilisation kann (wie z.B. bei der arabischen Nation) auch mehrere Staaten umschließen, eine solche Zivilisation kann sich aber auch in “Subzivilisationen” aufteilen, wie z.B. bei den westlichen Staaten zwischen Nordamerika und Europa oder auch im östlichen Asien zwischen China und Japan.
Dieser Ansatz scheint sich immer mehr durchzusetzen.
Da die Denkweise des Menschen von seiner Sprache geprägt ist — man “denkt in sprachlichen Begriffen” — ist die unterschiedlich Sprache, die Zugehörigkeit zu einer anderen Sprachfamilie nicht nur ein hör- und wahrnehmbares Abgrenzungskriterium. In der Sprache drücken sich eine Vielzahl kultureller Selbstverständlichkeiten aus. Jede Sprache formt eine eigentümliche Denkstruktur (linguistisches Relativitätsprinzip), wer unterschiedlich spricht, der denkt auch unterschiedlich — und daher bilden die Sprachfamilien auch eine Bruchzone zwischen der Denkweise der Menschen. Man “versteht” den anderen nicht nur wortwörtlich nicht mehr — auch das “Verständnis” für die Gedanken- und Interessenswelt des anderen geht an einer sprachlichen Barriere verloren. Die Geschichte von der “babylonischen Sprachverwirrung”, die den “Turmbau zu Babel” verhinderte, hat so durchaus auch einen tieferen Sinn.
Dazu kommt eine weitere Trennung:
Religion und Sitte sind nicht nur “volkstümelnd touristische Folklore-Elemente”. Die Religion prägt die ethische Grundeinstellung des Menschen von Kindesbeinen an.
Religiöse Grundwerte wie Nächstenliebe, Güte und Toleranz — aber auch der “Heilige Krieg” sind in Idealen personalisiert, sind die Idealbilder einer Gesellschaft und damit ein gesellschaftliches Ziel, das tief im Inneren — unter der “Bewusstseinsebene” — das moralisch-ethische Handeln einer Gesellschaft bestimmt.
Gegenkontrolle:
Kriegerische Auseinandersetzungen spielen sich dort aber, wo “Wir” und “die Anderen” zusammenstoßen. Wenn denn die These Huntingtons zutrifft, dann müssten die Verwerfungszonen zwischen den Zivilisationen, die Bruchlinien zwischen den Kulturen sehr viel deutlicher von kriegerischen Auseinadersetzungen geprägt sein als es im inneren dieser Kultur- und Zivilisationsgemeinschaft der Fall ist.
Tatsächlich deuten die immer wieder aufflackernden Konflikte gerade an den Bruch- und Verwerfungszonen zwischen sprachlich-/religiös unterschiedlichen Bevölkerungen darauf hin, dass sich der “Zusammenprall der Kulturen” auf die Menschen sehr viel mehr in kriegerischen Konflikten entlädt als jedes andere Interesse — man gewinnt die interessante Erkenntnis, dass sich die derzeitigen Konflikte fast ausnahmslos an den Grenzbereichen der einzelnen regionalen Zivilisationen ereignen:
Einige Beispiele:
Israel:
Die Staatsgründer Israels haben sich für das dem arabischen verwandte Hebräisch als Nationalsprache entschieden, obwohl durchaus auch andere Möglichkeiten wie etwa “Jiddisch” bestanden. Dennoch ist Israel ein Fremdkörper im arabischen Umfeld.
Das liegt zum einen und sicher auch vorrangig an der unterschiedlichen Religion — Judentum und Islam sind zwar ebenfalls verwandt, der Islam hat sich auch aus jüdischen Wurzeln entwickelt, aber beide Religionen sind doch sehr unterschiedlich.
Dazu kommt die “westliche Gesellschaft” der Israelis, die im arabisch-islamischen Umfeld als “Verwestlichung” bezeichnet wird.
Irak:
Der Dauerkonflikt mit Iran und den Kurden findet an der Bruchlinie zwischen der indoarischen und der semitischen Sprachfamilie statt.
Daneben gibt es eine religiöse Auseinandersetzung zwischen schiitischen und sunnitschen Arabern, die aber nur innerhalb des Irak stattfindet und bei den Auseinandersetzungen im sprachlichen Grenzgebiet im Hintergrund bleibt.
Türkei:
Der Dauerkonflikt zwischen Kurden und Türken ist ein Konflikt zwischen verschiedensprachigen Völkern.
Kaukasus:
Die “lokalen Kriege” zwischen Armeniern und (turksprachigen) Aserbeidschanern sind genauso Kriege zwischen verschiedensprachigen Völkern wie der Unabhängigkeitskrieg der Tschetschenen gegen die russische Staatsmacht.
Verschärft wird diese Konfliktlage durch die unterschiedliche religiöse Zugehörigkeit der verschiedenen Völker des Kaukasus.
Afghanistan:
Trotz der religiösen Einheit ist Afghanistan in einen Dauerkonflikt verwickelt — der sich immer wieder auf die Auseinandersetzung zwischen den ostiranischen Taliban und den Mujaheddin der “Nordfront” zurückführen lässt — deren stärkste Partei die von General Dostum geführte ubsekisch-turksprachige Gruppierung darstellt.
Indien — Pakistan:
Hindi und Urdu sind zwei praktisch identische Sprachen, die mit dem persischen nahe verwandt sind. Hier ist der Konflikt religiös motiviert. Das Pakistanische Staatsverständnis beruht geradezu auf der religiösen Abgrenzung des Islamischen Staates gegenüber der überwiegend hinduistischen, säkularen indischen Union.
Diese Beispiele lassen sich beliebig fortsetzen, was zur Erkenntnis und Bestätigung führt:
Fast jeder Konflikt lässt sich auf eine solche sprachlich-religiöse Trennung zurückführen.
Während aber in der Vergangenheit — während des “Kalten Krieges” — die eigenen kulturellen Interessen vom Gegensatz der beiden Weltmächte überdeckt waren, ist mit dem Ende dieser Bipolaren Dualität wieder Platz für die Entwicklung der Eigenständigkeiten gegeben.
Die aktuelle politische Entwicklung fördert also durchaus die Regionalisierung der Weltmächte — allerdings in einer etwas mehr “geographisch regional” geänderten Einteilung als von Huntington angenommen.
Vor diesem Hintergrund ergibt sich folgende multipolare Welteinteilung:
das spanisch/portugiesischsprachige, katholische Südamerika mit drei Subzivilisationen (Brasilien — knapp 180 Mio. Menschen, Mexiko und den indianisch geprägten Andenstaaten); diese Region hat auf dem ersten gesamtsüdamerikanischen Energie-Gipfel auf der Isla Margarita in Venezuela die Bildung einer »Union der Südamerikanischen Nationen« (UNASUR) nach dem Vorbild de EU beschlossen und am 24. Mai 2008 die entsprechenden Verträge unterzeichnet. Mit Unasur soll bis zum Jahr 2025 eine der Europäischen Union vergleichbare Integration von Südamerika erreicht werden. Geplant sind gemeinsame Währung, Parlament und Reisepässe.
das protestantisch geprägte, anglophone Nordamerika mit den USA und Kanada (über 300 Mio. Menschen)
das katholisch-/protestantisch geprägte Westeuropa, also die EU (knapp 500 Mio. Menschen)
das orthodox-slawisch geprägte Osteuropa mit Weißrussland, der Ukraine und Russland bis Sibirien und über 150 Mio. Menschen (die Konflikte im Kaukasus sind so zusagen an der Bruchzone zum islamisch-türkischen und islamisch-europäischen Sprachraum)
Ozeanien mit Australien und Neuseeland
das konfuzianisch geprägte Ostasien mit China (1,3 Mrd. Menschen) mit der Mongolei, mit Taiwan, Korea und einer Subzivilisation Japan (130 Mio. Menschen),
Südostasien (ASEAN) — mit über 560 Mio. Einwohnern, überwiegend dem malaysischen Sprachraum angehörend und mit drei Subzivilisationen (buddhistisches Festland, islamische und christlich-katholische Inselstaaten)
das hinduistisch/buddhistisch geprägte Indien (1,2 Mrd. Menschen) mit Subzivilisationen in Pakistan östlich des Indus, Bangla Desh, Ceylon und den Malediven — eigentlich auch mit Burma, das aber im Dreieck zwischen den Einflussbereichen Indiens, Chinas und SO-Asiens liegt (und von Bürgerkriegen geschwächt ist)
die islamisch geprägten Staaten des indoeuropäschen Sprachraums mit Iran, Afghanistan, Tadschikistan und Pakistan westlich des Indus (wobei Pakistan sich aus dem Zivilisationsbereich Indien löst — zwar sprachlich noch zugehörend, aber im Konflikt mit der Regionalmacht Indien)
die bereits einmal unter den Seldschuken weitgehend geeinten islamisch-türkischen Staaten Eurasiens mit ca. 150 Mio. Menschen (der Konflikt in Afghanistan spielt sich genau an der kulturellen Bruchlinie zwischen Türken (Nordallianz / Usbeken — Dostum) und indoarischen Sprachgrenze ab, ebensolches gilt für die kurdische Unabhängigkeitsbewegung)
die islamisch-arabischen Staaten (Arabische Liga mit 250 bis 300 Mio. Menschen) — die Konflikte sind auch hier im Grenzbereich zu den benachbarten Zivilisationsbereichen (Iran — indoarisch, Kurden — indoarisch, Türkei — eurasisch, Israel — hebräisch, Äthiopien — christlich, Sudan — afrikanisch):
lediglich mit “Schwarz-Afrika” gibt es noch Probleme; die nachkolonialen Grenzen sind so willkürlich durch die Siedlungsgebiete der Völker und Stämme gezogen, dass eine klare Differenzierung und Einteilung noch nicht so recht möglich ist;
die historisch gewachsenen kulturell-zivilisatorischen Einheiten wurden in der Zeit des Kolonialismus zerschlagen, neue regionale Zentren haben sich aber noch nicht gebildet, der Kontinent verharrt in Agonie und Krisen.
Es scheinen sich aber auch hier auf der Basis der historisch gewachsenen Ethnien mehrere “Subzentren” herauszubilden“Sudan-Afrika” (Sudan-Sprachen) zwischen dem Senegal und Sudan mit dem “Schwergewicht Nigeria” (und auch hier finden die Konflikte — z.B. der Bürgerkrieg im Sudan und in Nigeria selbst — an den Bruch- und Verwerfungszonen zu den anderen Zivilisationsgebieten, im Sudan etwa zur arabischen Welt statt) und
das ursprünglich von europäischen Weißen europäisierte Südafrika, das zunehmend eine multikulturelle Hintergrundprägung erhält und immer mehr von der Mehrheit der Bantu-Völker “afrikanisiert” wird und sich immer mehr zu einer Führungsmacht im Süden des Kontinents entwickelt, als Führungsmacht also von “Bantu-Afrika”, die südliche Hälfte Afrikas, mit ca. 150 Mio. Menschen, deren Gemeinsamkeiten auftrund der Kolonialgrenzen durch nationalisierte Einflusskonflikte der Stämme überlagert werden, mit den Staaten im Einzugsbereich des Kongo und einem weiteren Subzentrum im Osten des Kontinents (Tansania, Uganda) unter arabisch-islamischem Einfluss.
Einwohner (Mio.) | BIP (Mrd. $) | Militärausgaben (Mrd. $) | Atomwaffen | Offensivpoential (Flugzeugträger) | |
EU, darunter Deutschland Frankreich GB | 494 82 64 62 | 16.753 3.297 2.562 2.728 | 257 37 54 60 | x | 8 0 1 3 |
NORDAMERIKA darunter USA Kanada | 301 33 | 13.811 1.326 | 547 15 | x | 11 |
China | 1.320 | 3.280 | 58 | x | - angekündigt - |
Indien | 1.123 | 1.171 | 24 | x | 1 |
OSTEUROPA daruner Russland | 142 | 1.291 | 35 | x | 1 |
LATEINAMERIKA darunter Brasilien | 192 | 1.314 | 15 | 1 | |
ASEAN darunter Indonesien | 563 226 | 1.273 433 | 18 4 | 1 (Thailand) | |
Japan | 128 | 4.377 | 44 | ||
ARABISCHE LÄNDER | ~ 274 | ||||
TURK — STAATEN | ~ 150 | ||||
IRANISCHE LÄNDER |
Konflikt oder Befruchtung?
Bei all den Unterschieden darf man nicht übersehen, dass neben dem Konflikt auch und gerade die gegenseitige Befruchtung, der kulturelle Austausch die Nachbarschaft zwischen verschiedenen Kulturen bestimmt.
Es sind nicht nur die “arabischen Zahlen”, das Algebra, die in Europa (und nicht nur dort) diese Tatsache belegen.
Die Gemeinsamkeiten etwa zwischen der auf europäischem Boden entstandenen “sozialen Marktwirtschaft” und der islamischen Wirtschaft sind — wie die FAZ am 07.November 2010 ausführt — wesentlich größer als man “gemeinhin” annimmt.
Die FAZ benennt den arabische Historiker und Gesellschaftswissenschaftler Abdul Rahman Ibn Chaldun (1332 bis 1406), der “Elemente formuliert” habe, “die später Teil der sozialen Marktwirtschaft geworden sind.” “Er erkannte die Bedeutung des Eigentums, der Haftung dieses Eigentums und der Eigentumsrechte, er sah den Zusammenhang zwischen Rechtsordnung und Eigentum, er machte sich Gedanken, wie Interessengruppen zu kontrollieren sind und wie Subsidiarität funktionieren kann, wie wichtig eine unabhängige Marktaufsicht und eine unabhängige Zentralbank sind, und er formulierte Ratschläge, wie gegen Marktmissbrauch vorzugehen sei.”
Auch der schottische Nationalökonom und Moralphilosoph Adam Smith (1723 bis 1790) beschränkte den Eigennutz durch sittliche Grenzen, nach dem zweiten Weltkrieg wurde dessen Theorien in Deutschland — ergänzt durch Maßnahmen der sozialen Sicherung und Umverteilung der Einkommen — zur herrschenden Wirtschaftsideologie, der “sozialen Marktwirtschaft”.
Eine Untersuchung der Konrad-Adenauer-Stiftung habe — so die FAZ — in drei Konferenzen in Ankara, Berlin und Abu Dhab ergeben, dass es ordnungspolitisch zwischen der sozialen Marktwirtschaft und der Wirtschaftsordnung der islamischen Welt große Gemeinsamkeiten gibt, “und dass beispielsweise die jüngste Finanzkrise nicht ausgebrochen wäre, hätte sich die Wirtschaftsordnung heute an den gemeinsamen Werten beider orientiert.” Die FAZ kommt zu dem Schluss, beide Ordnungen seien “mehr als reine Wirtschaftsmodelle und mit einer „sozialen“ Komponente auch Gesellschaftsmodelle, die sich stark an der Solidarität und der Sozialbindung des Eigentums orientieren. Beide überlassen dem Markt nicht alles, sondern greifen korrigierend dort ein, wo das Gerechtigkeitsempfinden ein anderes Ergebnis wünschenswert macht. Das ist in der islamischen Wirtschaft nicht anders als in der sozialen Marktwirtschaft deutscher Prägung. In beiden darf der Mensch nicht alles, was er kann. Die Gemeinsamkeiten sind größer, als viele erwarten. Diese Erkenntnis könnte die Verhärtung, die auf beiden Seiten entstanden ist, vielleicht wieder etwas aufweichen.”
Elemente der deutsche “soziale Marktwirtschaft”, die Deutschland zu einer einzigartigen wirtschaftlichen Stärlke im europäischen Raum verholfen hat, finden im Zuge der EU zunehmend auch Berücksichtigung auf westeuropäischer Ebene. Europa und der Islam stehen sich wirtschaftspolitisch insofern näher, als es die USA und Westeuropa sind.
Die zunehmene “Multipolarität” der Erde dürfte dazu führen, dass solche kontinentale Eigenheiten wieder verstärkt wahrgenommen werden und punktuelle Koordinationen der einzelnen Machtblöcke zunehmen - jeder der Beteiligten hat eigene Interessen und eigene Wertevorstellungen, die sich einmal zu anderne konkludent und ein anderes mal konträr verhalten.
Das wird zwar von Anhängern überkommener Hegemonialstrukturen beklagt, im Endeffekt wird das aber dazu führen, dass die Absprachen eine Mehrheit unter den Akteuren finden, die den meisten der Beteiligten Vorteile oder zumindest keine Nachteile bringen.
Damit wird dann die Entwicklung dieser Beteiligten beschleunigt, zumindest aber nicht gehemmt. Was im Endeffekt zu mehr Wohlstand für alle führen würde.
Ein Wandel zum Dialog der Kulturen?
In einer viel beachteten Vorlesung anlässlich seines Besuches in Deutschland hat Papst Benedikt XVI. im September 2006 der religiös begründeten Gewaltanwendung eine klare Absage erteilt und zu einem wissenschaftlich geführten Dialog der Kulturen aufgerufen.
“Der entscheidende Satz in dieser Argumentation gegen Bekehrung durch Gewalt lautet: Nicht vernunftgemäß handeln, ist dem Wesen Gottes zuwider (…) In diesen großen Logos, in diese Weite der Vernunft laden wir beim Dialog der Kulturen unsere Gesprächspartner ein. Sie selber immer wieder zu finden ist die große Aufgabe der Universtität.”
Diese Aussage — aufgrund eines in der Vorlesung verwendeten Zitates, das der Papst verwandte um daraus seine Grundaussage abzuleiten, leider vielfach unverstanden — steht im Kontext zu anderen Aussagen seiner Pastoralreise, in der sich der Papst über das Verhältnis von Religion und Gewalt äusserte. Gleichzeitig zu diesem Aufruf zum Dialog fand in Kasachstan das Zweite Welttreffen der Religionen statt. Der Rektor der wichtigsten islamischen Hochschule, Scheich Tantawi von der Al Azhar in Kairo, war mit anderen Muslimen genauso vertreten wie Repräsentanten christlicher Religionen, Kardinal Etchegaray von der kath. Kirche, der ökumenische Patriarch Barholomäus aus Istanbuld, Metropolit Philaret aus Minsk, Patrich Garegin II für die armenische Kirche, ein Oberrabiner der sephardischen Juden, führende Vertreter buddhistischer Gemeinden aus Japan, Korea, China und der Mongolei, ein Sprecher der Parsen (Zarathustra), Vertreter der Hinduisten — in allen war es ein Anliegen, den friedlichen Dialog der Kulturen zu unterstützen.
Auch die folgende erste Auslandsreise des Papstes in die Türkei stand ganz im Zeichen eines friedlichen “Dialogs der Religionen”, der in einem Dialog der Kulturen unverzichtbar ist.
Allerdings muss man sich bei dem Versuch des Dialogs vergegenwärtigen, dass sich die unterschiedliche Kulturen auch in wesentlichen Punkten bis hin zu einem völlig unterschiedlichen Denkansatz unterscheiden.
Im Westen ist der Einzelne stolz darauf, eine Persönlichkeit, ein Individuum zu sein. Hieraus entwickelte sich der Begriff der Menschenrechte als universell allen Menschen zustehenden persönlichen Rechten auf Freiheit — auf freie Entfaltung der Persönlichkeit. Einen Höhepunkt des abendländischen Denkens stellt in letzter Konsequenz die Aufklärung dar, die rationale Analyse eines Systems von Ursache und Wirkung, die bereits in der Antike im Begriff des “logos” angelegt wurde.
Um die Beziehungen der Individuen untereinander zu regeln ist die westliche Kultur eine Kultur der Normen geworden, die durch den Staat (Recht und Ordnung) oder duch individuelle Vereinbarungen (Vertrag) vorgegeben werden und strikte (“pacta sunt servanda”) einzuhalten sind.
Diese Überzeugungen gibt es im ostasiatischen Denken nicht! Mensch und Gemeinschaft sind eins, den Menschen gibt es nur als Gruppenwesen. Soziale Einheiten bestimmen das Leben ihrer Mitglieder. Die Eltern, der “ältere Bruder”, der Lehrer, der Vorgesetzte — sie haben die Verantwortung für ihre nachgeordneten Gruppenmitglieder. Die Hierarchie der Familie, des Betriebs (als Famileinersatz), des Volkes ist die natürliche Ordnung im sozialen Miteinander. Eine Regierung hat die natürliche Entscheidungsgewalt, und solange es den Menschen gut geht gibt es keinen Grund, die Entscheidungsgewalt der Regierung in Frage zu stellen. Erst Hungersnöte und Naturkatastrophen haben zum Sturz der chinesischen Dynastien geführt, die mit diesen Ereignissen das “Mandat des Himmels” verloren hatten. “Individualismus” wird im chinesischen als “Egoismus” und in Japan mit dem Begriff des „einsamen Wolfs“ übersetzt. Ein einsamer Wolf geht ein, er ist weder fähig zu überleben, noch sich fort zu pflanzen — das ostasiatische Ideal spiegelt somit genau die gegenteilige Auffassung zum amerikanischen Helden, der als “lonesome Cowboy” seinen Mann steht und die Stadt — oder die Welt — rettet.
Der Mensch ist nach asiatischem Verständnis in die Gesetze des Universums (Gestirnskonstellationen, Energieformen, Geistern und Ahnen) eingebunden, ist ihnen ausgeliefert und bestimmt mit seinem Verhalten, ob er diese natürliche Ordnung bestätigt oder stört. Die Harmoniesicherung, das konfliktfreie Miteinander, ist die wichtigste asiatische Verhaltens- und Handlungsmaxime. Die schlimmste Demütigung ist der “Gesichtsverlust”, die Blamage in der Gemeinschaft. Dem wenn-dann und entweder-oder-Prinzip des abendländisch-christlichen Denkens steht das taoistische yin-yang Prinzip von gegenseitigen Bedingungen und Interdependenzen gegenüber. Vor der verklausullierten Beziehung durch Regeln (Vertrag) steht die persönliche Ebene, das angestrebte harmonische Miteinander. Die Beziehungen sind durch ein ständiges Geben und Nehmen gekennzeichnet, mit dem Bestreben, ständig eine optimale “win-win” Situation für alle Beteiligten zu erzielen. Ein Vertrag ist danach nicht der Schlusspunkt einer Beziehung sondern ein Grundkonsens, der einer ständigen Erneuerung und Feinabstimmung bedarf. Die persönliche Beziehung, das gegenseitige Verstehen und Vertrauen ist die Voraussetzung für eine geschäftliche Zusammenarbeit. Dieses Vertrauen ist innerhalb der sozialen Gemeinschaft — etwa de Familie — bereits von Grund auf vorhanden, während Fremde erst langwierig das Vertrauen gewinnen müssen. Deshalb ist es weder überraschend, dass Vertragsverhandlungen in Ostasien mit langen gemeinsamen Feiern zur Vertiefung der persönlichen Beziehungen begleitet werden (die etwa in Japan auch zur Betriebskultur gehören), noch dass kaum abgeschlossenen Verträge erneut nachverhandelt werden — etwas, was für den westlichen Geschäftsmann (“pacta sunt servanda”), der seinen Vertrag nach langwierigen Verhandlungen endlich in “trockenen Tüchern” wähnt, undenkbar ist. Wer in dieser Situation auf den abgeschlossenen Vertrag beharrt entpuppt sich in ostasiatischen Augen als unsozial und damit wenig vertrauenswürdig.
Was Werbestrategen unter dem Begriff Neuromarketing für sich entdecken muss auch und gerade in der politischen Analyse und Diskussion einen Platz finden — denn Politik ist die Lehre vom Zusammenleben der Menschen, und in einer globalen Welt auch der global bestehenden Kulturen.
Gemeinsame Aufgaben
Der Beginn des neuen Jahrhunderts war durch einen Schock geprägt — den 11. September — und der seither andauernde “Krieg gegen den Terror” und ein paar hundert gewaltbereite Terroristen überlagert (insbesondere in den USA) die öffentliche Wahrnehmung anderer Konflikte. Es gibtaber wesentlich tiefer gehende Probleme deren Lösung nur auf internationaler Ebene machbar ist — und bei denen vor allem die USA als Führungsmacht der westlichen Welt gefragt sind.
Das die Verbrennung von fossilen Energieträgern und Holz erheblich zur Freisetzung von Treibhausgasen und damit zum weltweiten Klimawandel beigetragen hat wird heute von keinem vernünftigten Menschen mehr bezweifel. Dass dieser Klimawandel zugleich zu erheblichen — auch wirtschaftlichen — Auswirkungen und massiven Belastungen bis hin zu katastrophalen Überschwemmungen, Stürmen und Bergrutschen führen wird darf inzwischen ebenfalls als gesichert gelten. Deshalb wurde 1992 in Rio de Janeiro eine Klima-Rahmenkonvention beschlossen, das auch von den USA ratifiziert wurde — aus kurzsichtigen Gewinnerwägungen für die amerikanische Ölindustrie wurde die Ratifizierung des auf dieses Basis von 98 Staaten beschlossenen Kyoto-Protokolls durch die Regierung Bush aber abgelehnt. Die USA als weltgrößter Emittent von Treibhausgasen können sich der Verantwortung für das globale Klima nicht entziehen, wenn sie weiterhin den moralischen Anspruch als Führungsmacht aufrecht erhalten können. Was die USA (und die entwickelten Industrieländer) für sich in Anspruch nehmen können sie den Entwicklungsländern mit ihrem Nachholbedarf nicht verweigern. Es wird Zeit, dass eine Führungsmacht die Inititiative für eine weltweit koordinierte Energiepolitik ergreift und damit zugleich eine weltweite Klima- und Umweltschutzpolitik in Angriff nimmt. Die USA unter der Regierung Bush jr. versagen offenbar — dagegen hat Deutschland unter der Kanzlerin Merkel diese Umweltinitiative ergriffen und versucht, gemeinsam mit den anderen EU-Mitgliedern hier endlich vernünftige Lösungen einzufordern.
Im Jahr 2000 wurde auf einem Weltgipfel gemeinsam beschlossen, bis zum Jahr 2015 die Zahl der von Armut betroffenen Menschen mit einem Tageseinkommen von weniger als einem Dollar zu halbieren. Dies gelingt nur durch wirtschaftliche Entwicklung der so genannten “Entwicklungsländer”. Tatsächlich ist nicht einmal im Ansatz erkennbar, wie dieses ehrgeizige Ziel erreicht werden soll. Durch protektionistische Handelshindernisse des Westens — der USA und der EU — werden die Anstrengungen der Entwicklungsländer sogar konterkarriert. Die Entwicklungshilfe der USA ist im Verhältnis zum amerikanischen Sozialprodukt beschämend gering. Dafür wird weltweit etwa das zwanzigfache der Gelder, die zur Armutsbekämpfung bereit gestellt werden, für Militärausgaben verwendet.
Das Ende des “Kalten Krieges” gibt die Möglichkeit, den Rüstungswettlauf zu beschränken. Auch hier sind die größten Militärmächte zuvorderst gefragt, sich zu positionieren. Die USA haben aber eine Reihe von internationalen Verträgen nciht ratifiziert oder gekündigt (ABM-Vertrag zur Begrenzung von Raketenabwehrsysten, Atomteststoppvertrag CTB) und entwickeln neue nukleare Waffen und neue Abwehrsysteme. Das wird zwangsläufig zumindest auch Russland und China zu eigenen Anstrengungen herausfordern. Die so beteiligten Mächte verstoßen gegen Artikel VI. des Nichtverbreitungsvertrages, der die Vertragsparteien seit 1968 verpflichtet “in redlicher Absicht Verhandlungen über wirksame Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens und zur nuklearen Abrüstung” zu führen. Gleichzeitig wird den “atomaren Habenichtsen” ein wunderbares Argument zur Hand gegeben, nunmehr doch selbst den Status von Atomwaffenstaaten anstreben zu dürfen. Der dadurch entstehende erneute atomare Rüstungswettlauf hat aber mit der Abwehr von Terroranschlägen nichts zu tun. Wenn die mehrfachen “overkill-Kapazitäten” abgeschafft würden, zugleich verbunden mit der internationalen Ächtung von chemischen und biologischen Waffen (mit Kompetenz zur Strafverfolgung durch den Internationalen Strafgerichtshof) wäre der Menschheit insgesamt ein großer Schritt in eine friedliche Zukunft gelungen.
Frieden ist machbar
Um Konflikte beizulegen, muss man sie erst verstehen
(Süddeutsche Zeitung, 27.08.2007)
Unter dieser Überschrift bespricht Jeanne Rubner in der Süddeutschen Zeitung das Buch von Claudia Faber: “Gemeinsam für den Frieden — Was wir dafür tun können”
(Ravensburger Verlag, 2007, 80 Seiten).
Es wendet sich an die jüngste Generaltion, die Generation der Zukunft. Allerdings sind die Überlegungen, die darin geäussert werden, bisweilen auch für uns Ältere bedenkenswert. Ich darf dazu aus der Buchbeschreibung einige Sätze zitieren:
“… Und die Beispiele, dass blutige Auseinandersetzungen auch beigelegt werden können, machen Mut: Zehn Jahre lang herrschte in Sierra Leone Bürgerkireg, seit ein paar Jahren wird das zerstörte Land wieder aufgebaut. Das ehemalige Jugoslawien konnte mit Hilfe der Nato und der Vereinten Nationen befriedet werden, in Nordirland .…
Frieden ist machbar — lehrt dieses Buch. … Die UN, so machtlos sie manchmal sein mögen, spielen eine wichtige Rolle, ebenso wie einzelne Vorbilder: Martin Luter King, Mutter Theresa, Nelson Mandela, der Dalai Lama oder auch Aung San Suu Kyi, die durch ihren friedlichen Protest gegen die Militärdiktatur in Birma die Welt immer wieder erinnert, dass die Generäle dort das Volk unterdrücken.…”
Vielleicht können auch die Seiten hier und unser Diskussionsforum dazu beitragen, etwas mehr Verständnis für die Situation anderer Menschen und anderer Kulturen zu erhalten. Sicher kann man in relativ wenigen Zeilen nicht alle Facetten eines komplexen Systems tiefgründig erläutern. Daher wird manches vereinfachend sein, sicher aber auch fehlerhaft in der Analyse und Bewertung: niemand ist perfekt. Aber wir bemühen uns um Sachlichkeit und Objektivität, und auch um Verständnis. Dazu kann der Dialog beitragen.