Christian Wolter
(Christian Wolter ist der Enkel des Malers Prof. Alexander Eckener, dem Bruder des Luftschiffkapitäns Dr. Hugo Eckener)
„Da haben Sie aber eine schöne Reise vor sich“ bekam Alex Eckener zu hören, als er von seinem Plan erzählte, nach Spitzbergen zu reisen. „Schön“ „wurde so breit und saftig gesprochen, wie wenn man einen Pfirsich zerbeißt“, notierte er auf der ersten Seite seines in rostbraunen Leder gebundenen Taschentagebuches, das am 10.Juni 1897 mit den eng in Bleistift geschriebenen Aufzeichnungen beginnt.
Dieser Artikel wird mit freundlicher Genehmigung der „MarineForum – Zeitschrift für maritime Fragen“ veröffentlicht.
Was meinen Großvater Alex Eckener als 27-jährigen Mann dazu bewegte, eine für die damalige Zeit ziemlich ausgefallene Reise in die Arktis zu unternehmen, war vermutlich das Angebot der „Spitsbergen Gazette“, einer in Hammerfest, Norwegen erscheinenden Zeitung, als Illustrator, Fotograf und Reporter den berühmten Kapitän und Weggefährten des Polarforschers Fridtjof Nansens, Otto Sverdrup, an Bord des polartauglichen Dampfers „Lofoten““ nach Spitzbergen zu begleiten.
Spitzbergen stand im Sommer 1897 im Zentrum gespannter weltweiter Aufmerksamkeit. Der Schwede August Salomon Andrée plante, von Spitzbergen aus mit einem Wasserstoffballon den bisher uneroberten Nordpol zu überfliegen. Tatsächlich begegnete mein Großvater Andrée wenige Tage vor dem Abflug.
Bereits 1888 hatte Otto Sverdrup mit Fridtjof Nansen erstmals das grönländische Eisschild von Ost nach West auf Skiern überwunden. Ende September 1893 steuerte Kapitän Sverdrup den gepanzerten Dampfsegler „Fram“ mit Nansen an Bord ins Packeis, um sich zum Nordpol treiben zu lassen. Als klar wurde, dass der Kurs auf Jahre kaum zum Pol führen würde, ging Nansen deshalb am 14. März 1895 bei 84,4 Grad nördlicher Breite mit Hjalmar Johansen, der später auch an Amundsens Südpolexpedition teilnahm, von Bord, um mit Hundeschlitten den 660 km ‘Lofoten’ entfernten Nordpol zu erreichen. „Ein wahres Chaos von Eisblöcken, das sich bis zum Horizont erstreckte“ bewegten ihn schließlich zur Umkehr. Nach seiner letzten Positionsmessung vom 8. April war Nansen bis zu einer nördlichen Breite von 86 º13,6´ vorgestoßen, ein neuer Rekord. Endgültig unvergänglichen Ruhm fuhr die „Fram“ Jahre später ein, denn Roald Amundsen vertraute für seine Expedition zum Südpol 1910–1912 auf das bewährte Schiff.
Im Sommer 1897 bot der „Vesteraalens Dampskibsselskab“ mit der „Lofoten“ unter Führung von Kapitän Sverdrup kommerzielle Fahrten von Hammerfest zur Advent Bay an, wo die Reederei ein komfortables Gästehaus errichtet hatte. Auf einer dieser insgesamt sieben frühen arktischen Kreuzfahrten der Tourismusgeschichte war demnach mein Großvater an Bord.
Alex Eckener erblickte am 21. August 1870 in Flensburg das Licht der Welt. Eckener studierte von 1888 bis 1892 an der Akademie der bildenden Künste in München. Danach kehrte er nach Flensburg zurück und schloss sich dort der Künstlerkolonie Eckensund an. Im Jahre 1899 nahm ihn Leopold Graf von Kalckreuth als Meisterschüler für Radierung an der Kunstakademie Stuttgart auf. 1908 erhielt er einen Lehrauftrag an der Akademie, 1912 erfolgte die Ernennung zum Professor, 1925 zum Ordinarius für Lithographie und Holzschnitt. Im gleichen Jahr wurde Alex Eckener Direktor der Stuttgarter Kunstakademie. Daneben betätigte sich der Wahlstuttgarter und Maler Alex Eckener als früher Reisejournalist. Hier ergibt sich eine Parallele zu seinem 2 Jahre älteren Bruder Hugo, den der Journalismus zu Weltruhm als Luftschiffer führte.
Otto Sverdrup, Kapitän der ‘Lofoten’Nach einer Bahnreise durch Dänemark, Schweden und Norwegen legte Alex Eckener mit dem Dampfer „Lofoten“ am Morgen des 18. Juni 1897 vom Hafen Trondjhem nach Spitzbergen ab. Er bekam Kapitän Otto Sverdrup bald erstmals kurz zu Gesicht: „Er sieht grausam und wie ein rücksichtsloser Gewaltmensch aus, man fühlt eine außerordentliche Energie in ihm. Von Natur ist er nicht groß, aber gedrungen, mit gelblichem, fast krankhaftem Teint und kalten, scharf und grausam blickenden Augen. Ich glaube nicht, dass er sehr mitteilsam sein wird.“
Bereits nach einem Tag revidiert er sein Urteil: „Über meine Kritik Sverdrups muss ich lachen; meine berühmte Menschenkenntnis hat mich wieder mal betrogen. Er ist durchaus nicht wortkarg, sondern liebenswürdig und mitteilsam, aber seine Augen sind doch die eines Geiers. Mich betrachtet er scheinbar halb mit Mitleid, halb mit Verachtung, er weiß offenbar nicht, was er aus mir herausknobeln soll. Den übrigen Mitreisenden geht es ebenso. Nur über eines freue ich mich, meine berühmte Menschenkenntnis hat mich unsterblich blamiert“.
Am 25. Juni gegen 13 Uhr tauchten die ersten Berggipfel von Spitzbergen aus dem Ozean auf. Weil der Start von Andrée unmittelbar bevorstand, ging die Seefahrt zunächst am Gästehaus auf der Adventbay an der Westküste vorbei, zum Ballonhangar auf der kleinen Insel Danskøya, der Däneninsel vor Nordspitzbergen. Am 27. Juni um 3 Uhr morgens glitt die „Lofoten“ 10 Meilen südwestlich der Däneninsel nach vielstündiger Passage durch undurchdringlichen Nebel wieder in das strahlende Blau des Polartages.
Alex Eckener’s Tagebuch„Um 5 Uhr kam der Steuermann in meine Koje, um mir zu sagen, dass wir gleich bei Andrée sein würden“ notierte Alex Eckener. „Ich wie der Blitz aus dem Bett und in die Kleider. Wir langten gerade von dem offenen Meer in den Fjord der Dansk-Öe (Alex Eckener meint hier Danskøya, die Däneninsel) an. Die Sonne beleuchtete blendend die Gletscher, deren Seite des Fjords über den Gipfeln sie teilweise verdecken, schwebte loser Nebel. Mit Böllerschüssen begrüssten wir Andrée‘s Wohnhaus und Ballonhaus, mit Hissen der Flagge das schwedische Kanonenboot „Svenskund“, welches Andrée zur Hilfe und Begleitung mitgegeben ist. … Der Fjord ist grossartig mit seinen steilen Bergen, den Gletschern, die in grosser Ausdehnung ganz bis ans Meer sich erstrecken, und dort steil abfallen. Ich zeichnete zunächst den Svendskund ab.”
“ Dann ruderten wir alle an Land; Kaum waren wir angelangt, so kam Andrée, begrüsste uns flüchtig, die schwedischen Herren wärmer und fing sogleich wie ein Panoptikum-Erklärer seine Demonstration an. Was er sagte, habe ich durchaus nicht verstanden, da er schwedisch sprach, nur machte er so den Eindruck, als wenn er nach Schluss der Vorstellung vielleicht dem hochverehrten Publikum für die freundliche Aufmerksamkeit danken und ihm so milde beibringen werde, dass der Diener vielleicht einem kleinen Trinkgeld nicht abgeneigt wäre.
Salomon August Andrée Andrée scheint er mir ein ziemlicher Schwafler, etwas eitel zu sein; bedeutend in des Wortes besten Sinn ist er keinesfalls; sonst würde er wohl nicht mit seinen Erklärungen und Erfindungen mit der Darstellung der Unübertrefflichkeit seiner Einrichtungen so hausieren gehen. Es ist ja gut, dass er selbst von der Zweckmässigkeit seiner Sachen überzeugt ist, aber ein tieferer, grösser angelegter Mensch würde vielleicht kaum so viel Wesens aus sich und seinem Werk machen. Jedenfalls machte er mir bei Tisch einen sehr schlechten Eindruck, da er sich durchaus tonangebend als erste Person, vor dem Kapitän und den älteren Herren, benahm. Dabei hat er eine ziemlich bäurische Tölpelhaftigkeit im Benehmen, und macht, soviel ich verstehen konnte, sich mit ganz breit getretenen, abgedroschenen Alltäglichkeiten seine ganze Conversation … Den Eindruck einer gewaltigen, überlegten Persönlichkeit hatte ich gar nicht bei ihm. — … irgendwann müsste man doch mal einen höheren Funken entdecken, den habe ich vermisst. — Ich machte mehrere photographische Aufnahmen und Zeichnungen.
Um 3 Uhr waren Andrée und Lerner (deutscher Journalist und Polarforscher) bei uns an Bord zum Essen. … Ich sass Andrée gegenüber, ich werde als Standesperson hier angesehen, trotz meines schlechten Kittels. Mancher würde viel darum gegeben haben, wäre er an meiner Stelle gewesen, ich muss mir leider den großen Stumpfsinn festieren, dass ich mich in keiner Weise angeregt fühlte. Frl. Korhornen (eine Passagierin) war sicher von dem erhebenden Moment des Zusammenseins mit dem berühmten Mann mehr erfüllt. Nicht nur ihre Nase, sogar ihre Backen waren glänzend gerötet. Die Selbstverständlichkeit, mit der Andrée seine ihm selbstverständliche bewilligte Bevorzugung hinnahm, ärgerte mich etwas.“
Sverdrup dürfte Andrées Unternehmen für ein Himmelfahrtskommando gehalten haben:
„Sverdrup sagte, er hätte nur im Februar bis Mai südliche Winde gehabt. – Beide zusammen hätte ich gerne photographiert, war sehr interessant, Andrée der mächtige, kühn draufgehende, aber durch die Intelligenz Vorsichtige und imponierende, beherrschte scheinbar den viel kleineren Sverdrup, der abwartend, ruhig, scharfblickend, gleichsam lauernd die Instinkte repräsentierte.“
Nach dem Treffen mit Andrée fuhr Alex Eckener von der Däneninsel mit dem dort vor Anker liegend Schiff „Express“ zu einer Erkundung ins Eismeer hinaus bis nach 5 Stunden bei 80 Grad nördlicher Breite das Polareis erreicht wurde. „Es war stark neblig, bei uns schwammen die grünlichen und weißen Schollen in den verschiedensten Formationen, überall in der Runde hörte man den Reisschuss der Eismassen im bewegten Wasser, ein plötzlicher Sonnenblitz und Zerreissen des Nebels gewährte die herrlichste Aussicht auf die türmenden Formen und weite glänzenden Flächen, alles belebt von frechen Eisvögeln.“
Ab 28. Juni war der Kurs der „Lofoten“ der Küstenlinie entlang wieder südwärts gerichtet, Ziel nun die komfortable, von gemütlich prasselndem Kaminfeuer beheizte Herberge der Reederei der „Lofoten“ in der Advent Bay, die am 31. Juni erreicht wurde, um hier die weitere Zeit fest Station zu machen.
Am 22.Juli ging es mit dem „Kvik“, ein kleineres, sehr manövrierfähiges Schiff für die Eisbärenjagd, erneut zu Andrées Startplatz. Der zweite Besuch war schon länger eingeplant, wurde aber am 11. Juli, dem Tag des Ballonstarts, wegen stürmischen Wetters vorerst aufgegeben.
„Die Tour ging bei Westsüdwestwind erst an der Vogelinsel entlang zur Coal Bay, Green Harbour, St. James Bay … die stolze Felskuppe über der Peter Winterbay, Kings Bay, Cross Bay, … Bergformen mit grandiosen, ins Meer steil abstürzenden Gletschern, die Formen bald verschleiernde, bald enthüllende silberne Nebel; Überall die eisige Totenstarre der Natur, durch ihre Grausamkeit und Grösse allein imponierend. Malte 2 Studien, sah aber ein, dass jegliches Bild ein Unding, weil man die Kolossalität nicht hervorzaubern kann. Gletscher infolge der eigenen roten und blaugrünen Farbe im Spectrum spielend. Fuhren ganz nahe am Gletscher längs, etwa 2–3 stöckiges Startplatz des BallonsHaus hoch ganz glatt teilweise, teils in kolossalen Blättern; teils in Zacken und Klippen. Weiter ins offene Meer bis an den 80. Grad ins Treibeis, ins ewige Eis. Die Schiffer wagten überhaupt nicht, weit hineinzufahren.“
„Stiegen bei Andrée‘s Ballonhaus aus. Eigentümliche Gefühle, mehr des Mitleids als Bewunderung, viel Neugier, und vor allem egoistische Freude, dass wir die ersten nach Andrée‘s Abfahrt hier waren. Zeichnete so viel wie möglich von innen und außen, werden wahrscheinlich gesuchte Bilder werden.“
Am letzten Tag in der Adventsbay vor der Rückreise nach Europa skizzierte Alex Eckener zwei Porträts von Kapitän Sverdrup. „Sverdrup ist doch ein merkwürdiger Kerl, und intelligenter als er mir anfangs erschien; nur wenig redegewandt und hilflos im Verkehr mit Fremden. Bescheiden und jedem Annäherungs- und Huldigungsversuch misstrauisch und mit einer gewissen Eitelkeit ablehnend.“
Andrées Ballon Örnen wurde nie wieder gesehen. Im Sommer 1930, Eckener lebte seit 31 Jahren in Stuttgart, wurden auf Kvitøya, der „Weißen Insel“ die Skelette von Andrée und seinen beiden Begleitern entdeckt. Außerdem fand man Andrées Tagebuch. Wie daraus hervorgeht, wurde die dünne Ballonhülle aus chinesischer Seide offenbar schon beim Start verletzt. Andrée vermerkte: „Die Luftreise war sehr unausgeglichen und so segelte der Ballon zeitweilig viel zu hoch und verlor Wasserstoff … oder er befand sich zu wiederholtem Male nahe dem Eis und drohte aufzuschlagen“. Am 14. Juli blieb der Ballon endgültig auf dem Eis stehen.
Am 22. Juli begannen sie den Fußmarsch durch die Eiswüste. Meterhohe Eiswälle und Wassertümpel erschwerten das Fortkommen, teilweise musste auf allen Vieren gekrochen werden. Am 2. Oktober wurde auf einer Eisscholle treibend Kvitøya, die Weiße Insel erreicht. Als letzte zusammenhängende Zeilen notierte Andrée in sein Tagebuch: „Niemand hat den Mut verloren. Mit solchen Kameraden kann man sich erheben aus allen möglichen Umständen“. Die folgenden Aufzeichnungen sind wirr und die entsprechenden Seiten schwer beschädigt. Vermutlich sind die drei Polarforscher bereits wenige Tage nach dem Umzug auf die Weiße Insel gestorben. Die verbreitetste Hypothese ist der Befall durch Trichinen aus Eisbärenfleisch.
Beiden Brüdern, Alex und Hugo, war es vergönnt, die Mitternachtssonne zu erleben. Hoch oben im Norden hatte mein Großvater Alex Eckener die Geschichte gestreift, sein Bruder Hugo Eckener hat dort sogar Geschichte geschrieben. Ein Jahr nach dem Fund der sterblichen Überreste von Andrée, im Juli 1931, machte Bruder Hugo Eckener, der Fridtjof Nansen aber auch Roald Amundsen persönlich kennengelernt hat, als Kapitän des Luftschiff LZ 129 mit seiner erfolgreichen Polarfahrt weltweit Schlagzeilen.