Ballistic Missile Defense – Neue Aufgaben für seegestützte Luftverteidigung?

Dieser Artikel wird mit fre­undlich­er Genehmi­gung der “Marine­Fo­rum — Zeitschrift für mar­itime Fra­gen” veröf­fentlicht.

Marineforum

2010 Multi­na­tion­al Bal­lis­tic Mis­sile Defense Con­fer­ence and Exhi­bi­tion

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Vom 27. bis 30. Sep­tem­ber fand im Inter­na­tion­al Con­gress Cen­tre Kyoto/ Japan die diesjährige Multi­na­tion­al Bal­lis­tic Mis­sile Defense Con­fer­ence and Exhi­bi­tion statt. 607 Delegierte aus 18 Natio­nen und Organ­i­sa­tio­nen trafen sich in der ehe­ma­li­gen kaiser­lichen Haupt­stadt des Insel­re­ich­es. Naturgemäß stell­ten die USA mit ca. 350 Teil­nehmern die stärk­ste Del­e­ga­tion, Japan 150 und Israel 40 Teil­nehmer. Die am stärk­sten vertre­tenden europäis­chen Natio­nen waren Frankre­ich, Großbri­tan­nien und die Nieder­lande mit je ca. 15 und Deutsch­land mit etwa 10 Teilnehmern. 

Die Kon­ferenz bot ins­ge­samt ca. 80 Beiträge aus Indus­trie, Mil­itär und Wis­senschaft zu unter­schiedlich­sten Feldern der Luftvertei­di­gung, in der Masse mit Schw­er­punkt auf der Abwehr bal­lis­tis­ch­er Bedro­hun­gen. Neben den Vorträ­gen kon­nte an einem »Bal­lis­tic Mis­sile Defense (BMD) – Wargame« teilgenom­men wer­den, welch­es die Notwendigkeit frühzeit­iger Koop­er­a­tion und Inter­op­er­abil­ität aufzeigte. Dabei wurde auch deut­lich, dass von der Abwehr bal­lis­tis­ch­er Bedro­hung nicht nur Start- und Ziel­land betrof­fen sind, son­dern eben­so dazwis­chen liegende und möglicher­weise auch angren­zende Staaten. 

Eine Ausstel­lung namhafter, haupt­säch­lich US-amerikanis­ch­er Indus­triebe­triebe begleit­ete die Ausstel­lung und bot die Gele­gen­heit, sich aus erster Quelle über bere­its ver­füg­bare Sys­teme und Tech­nolo­gieen­twick­lun­gen im Bere­ich zu informieren. 

Die Bedro­hung

Als gemein­samer Abholpunkt wurde ein­gangs die stetig wach­sende Bedro­hung dargestellt. Ohne das rus­sis­che und chi­ne­sis­che Arse­nal befind­en sich weltweit bere­its ca. 5.000 bal­lis­tis­che Kurz- und Mit­tel­streck­en­raketen in den Hän­den divers­er Staat­en und Organ­i­sa­tio­nen. Der His­bol­lah wird zum Beispiel eines der größten Rakete­narse­nale weltweit zugeschrieben. Indi­en und Pak­istan sind bere­its im Besitz von Langstreck­en- bzw. Interkon­ti­nen­tal­raketen, Iran und Nord­ko­rea ste­hen in der Entwick­lung beziehungsweise kurz vor der Vol­len­dung solch­er Fähigkeit­en. Staat­en in Süd- und Süd-Osteu­ropa befind­en sich bere­its heute in der Reich­weite bal­lis­tis­ch­er Raketen aus dem Mit­tleren Osten. Dies gilt auch für deutsche Trup­penkontin­gente in den Ein­satzge­bi­eten Libanon, östlich­es Afri­ka und Afghanistan. 

Zudem wiesen die USA und Japan auf die Bedro­hung durch chi­ne­sis­che Anti-Schiff-Raketen, die so genan­nten »Car­ri­er-Killers« hin. 

Unter­schiedliche Perzep­tio­nen

Aus den Vorträ­gen – aber ins­beson­dere auch in den Diskus­sio­nen – wurde deut­lich, dass das The­ma Bal­lis­tic Mis­sile Defense die Gemüter sehr unter­schiedlich erhitzt. Die oben geschilderte Bedro­hung wird weltweit ambiva­lent wahrgenom­men, diese indi­vidu­elle Wahrnehmung der Natio­nen bes­timmt ihren »Lev­el-of-Ambi­tion« in Bezug auf die Entwick­lung wirk­samer Abwehrtech­nolo­gien und ‑konzepte.

Am höch­sten erscheint dieser Lev­el-of-Ambi­tion – und die Emo­tio­nen zum The­ma – in Israel, einem Land, das fast täglich Raketenbeschuss real erlebt und Opfer zu bekla­gen hat. Dort hat man ein Mehrla­gen- Abwehrkonzept ent­wor­fen, welch­es auf ein­er »Null-Fehler«-Philosophie aufge­baut ist. Für ein Land von der Größe Israels stellt der Erfolg der Abwehr ein­er Langstreck­en­rakete mit Massen­ver­nich­tungsmit­teln im Gefecht­skopf eine Über­lebens­frage der gesamten Nation dar. Das Haup­tau­gen­merk des israelis­chen Abwehrkonzeptes gilt jedoch aktuell noch dem Kurz- und Mit­tel­streck­e­narse­nal der Staat­en und Organ­i­sa­tio­nen in der unmit­tel­baren Nachbarschaft. 

Japan sieht sich als Indus­tri­es­taat und Kul­tur­na­tion haupt­säch­lich durch das ambi­tion­ierte nord­ko­re­anis­che Raketen­pro­gramm unmit­tel­bar bedro­ht. Seine Delegierten äußern dies offen und unverblümt. 

Seegestützte  SBX-Radarplattform im spektakulären Seetransport (Foto:  US Navy)
Seegestützte SBX-Radarplat­tform im spek­takulären See­trans­port
Foto: US Navy

Die USA haben – anders als Europa – auch mit dem Ende des Kalten Krieges nicht aufge­hört, sich gegen Langstreck­en- und Interkon­ti­nen­tal­raketen zu wapp­nen. Spätestens mit den Ereignis­sen des 11. Sep­tem­ber 2001 hat die Vertei­di­gung des Heimat­landes »neue Zähne« bekom­men. In zweit­er Instanz sehen die USA aber auch eine reale Bedro­hung ihrer in den Ein­sat­zlän­dern sta­tion­ierten Trup­pen­teile. Außer­dem unter­stützen die USA aktiv bedro­hte Ver­bün­dete im Rah­men der »Region­al Defense«. 

In Mit­tel- und West-Europa wer­den erst in jüng­ster Zeit durch die Poli­tik mögliche kün­ftige Bedro­hungsszenar­ien geze­ich­net, auf­grund der aber fehlen­den »gefühlten« Bedro­hung ist der Lev­el-of-Ambi­tion hier ver­gle­ich­sweise ger­ing. Vor­tra­gende aus Frankre­ich und Großbri­tan­nien stell­ten klar, dass ihre Län­der aktuell keine bal­lis­tis­che Bedro­hung sehen. 

Aktuelle Fähigkeit­en gegen bal­lis­tis­che Raketen sind vor­wiegend mar­itim

Am let­zten Tag der Kon­ferenz wur­den den Delegierten die heute bere­its vorhan­de­nen Abwehrfähigkeit­en der USA, Japans, Israels sowie einiger europäis­ch­er Natio­nen vorgetragen. 

 US Kreuzer LAKE ERIE feuert SM-3 (Foto: US Navy)
US Kreuzer LAKE ERIE feuert SM‑3
Foto: US Navy

In logis­chem Zusam­men­hang mit dem Lev­el-of-Ambi­tion ste­hen die tat­säch­lichen gegen­wär­ti­gen und kurzfristig – inner­halb der kom­menden 5 Jahre – zur Ver­fü­gung ste­hen­den Tech­nolo­gien zur Abwehr bal­lis­tis­ch­er Raketen. 

Der israelis­che Schutzschirm ist als einziger der hier Ver­glich­enen rein landgestützt. Zu diesem Schutzschirm gehören unter­schiedliche Abwehrflugkör­p­er für den exoat­mo­sphärischen und den endoat­mo­sphärischen Raum sowie »David´s Sling« und »Iron Dome«-Systeme gegen Kurzstreck­en­raketen aller Art. Die gesamte Luftvertei­di­gung des Lan­des wird zen­tral aus einem Luftvertei­di­gungs­ge­fechts­stand her­aus geführt. 

Die japanis­che Luftvertei­di­gung gegen bal­lis­tis­che Bedro­hung stützt sich auf die bere­its vorhan­de­nen drei entsprechend umgerüsteten AEGIS-Zer­stör­er der KON­GO-Klasse ab, weit­ere wer­den nachgerüstet bzw. befind­en sich im Zulauf. Ihre Fähigkeit­en kön­nen mit jenen der nach­fol­gend beschriebe­nen US-AEGIS-Kreuzer ver­glichen werden. 

Die USA betreiben aktuell 21 BMD-fähige Schiffe. Dies sind speziell mod­i­fizierte AEGIS-Schiffe (TICON­DERO­GA-Kreuzer oder ARLEIGH BURKE-Zer­stör­er), die mit ein­er qual­i­fizierten Soft­ware anders als früher eine »Multi-Mission«-Fähigkeit aufweisen, das heißt, sie sind in der Lage, sowohl klas­sis­che Flu­gab­wehr zu betreiben als auch gegen bal­lis­tis­che Raketen zu kämpfen. Dazu sind sie mit dem Stan­dard-Mis­sile 2 (SM2 Block IV) und Stan­dard-Mis­sile 3 (SM3 Block IA) aus­gerüstet. Let­zter­er ist gegen Mit­tel­streck­en auch im exoat­mo­sphärischen Raum ein­set­zbar, die Ver­sion des SM‑2 ist gegen Kurzstreck­en­raketen wirk­sam. Mit diesen Ein­heit­en garantieren die USA durch deren strate­gis­che Sta­tion­ierung auch den Schutz ihrer Trup­pen im Ein­sat­z­land sowie den der bedro­ht­en Ver­bün­de­ten. Die Besatzun­gen der BMD-fähi­gen Schiffe sehen solche Sta­tion­ierun­gen als »hot mis­sion« an und zeigen sich hoch motiviert bei ihren mehrmonati­gen Einsätzen. 

Landgestützt haben die USA bere­its mit Ground Based Inter­cep­tor (GBI) wie auch mit dem neuen The­ater High Alti­tude Air-Defense Sys­tem (THAAD) Abwehrfähigkeit­en aufge­baut bzw. sind dabei, diese in Betrieb zu nehmen. Auch existieren bere­its ein umfan­gre­ich­es land‑, see- und wel­traumgestütztes Früh­warn­sys­tem sowie entsprechende Com­mand- und Control-Einrichtungen. 

In NATO-Europa ste­hen in naher Zukun­ft zwei Dutzend hochmod­erne Flu­gab­wehrschiffe zur Ver­fü­gung, bis zum Redak­tion­ss­chluss hat­te aber keine der betrof­fe­nen Natio­nen – außer den Nieder­lan­den – konkrete Absicht­en, für diese Schiffe eine BMD-Fähigkeit zu entwickeln. 

Landgestützt sind in Europa aktuell vor­wiegend Sys­teme zur Abwehr in der unteren Abfangschicht und gegen Raketen geringer Geschwindigkeit­sklassen (Kurz- bis Mit­tel­streck­en­raketen) vorhanden. 

 Ground-based Interceptor wird zum Abschusssilo gefahren (Foto: US Army)Abschusssilo
Ground-based Inter­cep­tor wird zum Abschuss­si­lo gefahren
Foto: US Army

NATOALT BMD und US-PAA

Ein Vertreter des Active Lay­er The­ater Bal­lis­tic Mis­sile Defense (ALTBMD) Pro­gram Office in Den Haag berichtete über den Sach­stand zu Fähigkeit­en inner­halb NATO-Europas. Die NATO hat im Rah­men des (ALTBMD) Pro­gramms bere­its Fähigkeit­en entwick­elt, welche eine funk­tion­ierende Kom­man­do- und Kom­mu­nika­tion­sstruk­tur und Zugang zu Früh­war­nungs­dat­en bein­hal­ten. Mit­gliedsstaat­en kön­nen ihre nationalen Sys­teme über ein Test Bed inte­gri­eren und so die in Kürze mit ein­er Ini­tial Oper­a­tional Capa­bil­i­ty verse­henen ALTB­MD-Struk­turen nutzen. 

US-Vertreter tru­gen abschließend zur aktuellen Sta­tion­ierungs­pla­nung im Rah­men des erneuerten Phased Adap­tive Approach­es (PAA) der gegen­wär­ti­gen US-Regierung vor. Im Rah­men des PAA sollen sukzes­sive US-Sys­teme für Früh­war­nung und Abwehr bal­lis­tis­ch­er Bedro­hung außer­halb des US-amerikanis­chen Ter­ri­to­ri­ums sta­tion­iert wer­den, die so genan­nte »Home­land-Defense« bere­its weit vor dem Ter­ri­to­ri­um der USA gestaffelt erfol­gen und dabei gle­ichzeit­ig das Ter­ri­to­ri­um der Ver­bün­de­ten schützen. Franzö­sis­che und britis­che Indus­triev­ertreter äußerten Zweifel, inwieweit ihre Regierun­gen solche Ansätze ohne Beteili­gung nationaler Indus­trien akzep­tieren kön­nten. Ein­er möglichen Verknüp­fung von NATO-ALTBMD und US-PAA wird aber dur­chaus eine Erfol­gschance eingeräumt. 

Faz­it

Die diesjährige Kon­ferenz zeigte aber­mals die grundle­gend unter­schiedlichen Sichtweisen zum The­ma Bal­lis­tic Mis­sile Defense zwis­chen USA, Israel und Japan auf der einen (bedro­ht­en) und den großen europäis­chen Län­dern (gefühlt unbedro­ht) auf der anderen Seite auf. Sie stellte aber auch klar, dass die Bedro­hung sowohl zahlen­mäßig wächst, als auch sich in ihrer Reich­weite aus­dehnt – auch in Rich­tung Mitteleuropa. 

Es bleibt abzuwarten, inwieweit die Ergeb­nisse des jüng­sten NATO-Gipfels in Liss­abon ein neues Bewusst­sein in Bezug auf eine gemein­same Luftvertei­di­gungsini­tia­tive gener­ieren, welch­es in ern­sthafte Pro­jek­te zur Vertei­di­gung Europas gegen die bal­lis­tis­che Bedro­hung mün­den kann. Hier ist ins­beson­dere vor dem Hin­ter­grund der in Deutsch­land, Frankre­ich und Großbri­tan­nien jüngst ergrif­f­e­nen Spar­maß­nah­men wenig Anlass, auf schnelle Lösun­gen zu hoffen. 

Die vorhan­de­nen Fähigkeit­en und Tech­nolo­gien an Bord der mod­er­nen europäis­chen Flu­gab­wehrein­heit­en bieten aber eine her­vor­ra­gende Basis für den Auf­bau der über die klas­sis­che Flu­gab­wehr hin­aus­ge­hen­den Fähigkeit­en in Rich­tung ein­er Befähi­gung zu BMD

Zum Autor
Fre­gat­tenkapitän Andreas Uhl ist deutsch­er Verbindung­sof­fizier bei der Mis­sile Defense Agency, Abteilung AEGIS BMD, in Dahlgren/Virginia

Team GlobDef

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