Viel wird in diesen Tagen nach dem NATO-Gipfel von Chicago über eine Raketenabwehr für NATO-Europa diskutiert, in fast jedem Marineforum seit Oktober letzten Jahres wird darüber berichtet. Aber was genau verbirgt sich hinter dem Begriff, der meist durch den Anglizismus „Ballistic Missile Defence“ (BMD) dargestellt wird?
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Dieser Artikel wird mit freundlicher Genehmigung der “MarineForum — Zeitschrift für maritime Fragen” veröffentlicht. |
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Von SDI zu BMD
Nun, es geht um die Abwehr von Raketen, namentlich jenen, die mit nuklearen oder chemischen Sprengköpfen bestückt auf große Entfernungen geschossen werden können. Bereits heute liegen Teile Europas in Reichweite solcher Waffen aus dem Mittleren und Fernen Osten. Vereinfacht kann man sagen, hinter BMD verbirgt sich die ehemalige Strategic Defense Initiative (SDI) der Vereinigten Staaten von Amerika. Tatsächlich ist die Idee, Raketen auf ihrer ballistischen Bahn schon im Weltraum zu bekämpfen, nicht neu. Der damalige US-Prädident Ronald Reagan versprach bereits am 23. März 1983 in der als „Star-Wars-Rede” bekannt gewordenen Fernsehansprache dem US-amerikanischen Volk einen Schutzschild vor einem möglichen nuklearen Angriff der Sowjetunion. Damals wurde der Plan geboren, zahllose Abwehrwaffen wie Laserkanonen, Abfangraketen, Weltraumgranaten und Kampfsatelliten zu bauen, um alle feindlichen Atomraketen abfangen zu können. SDI wurde für die nächste Dekade zu einem gewaltigen Technologieprojekt, bis das Ende des Kalten Krieges dieses Programm aus politischen und finanziellen Gründen zum Erliegen brachte.
Im Zusammenhang mit den Scud-Raketen des ersten Golfkrieges wurden etliche der bis dato in SDI entstandenen Konzeptideen und Technologieentwicklungen wieder aufgenommen und weiter geführt. In der US Navy entstand das Konzept „Navy Theater Wide Ballistic Missile Defense“. Die ersten Aegis-Systeme und Standard Missile‑2 (SM‑2)-Flugkörper wurden in der Zündermimik modifiziert, um den höheren Begegnungsgeschwindigkeiten Rechnung zu tragen. Die „Hit-to-Kill“-Fähigkeit wurde entwickelt. Ziel war die Verteidigung eigener Truppen im Einsatzgebiet, aber auch der Schutz strategisch wichtiger Ziele. Analog wurden die bewährten Patriot-Abwehrflugkörper der bodengebundenen Luftverteidigung der neuen Gefahr angepasst.
Zur allgemeinen Bestürzung schoss Nordkorea – ein Land, welches sich keinerlei internationaler Kontrolle beugt – im Jahr 2000 eine Langstreckenrakete über Japan hinaus ins Meer. Das alarmierte Japan bat daraufhin die USA um Unterstützung beim Aufbau eines Raketenschirms. Damit war der Startschuss für die Entwicklung eines Abwehrflugkörpers gegen Mittel- und Langstreckenraketen gegeben. Zunächst wurden Peripherietechnologien wie Suchköpfe, Zünder und Kill-Vehikel getestet. Im Juni 2006 dann kam es zum ersten erfolgreichen Testschuss mit dem neuen Flugkörper Standard Missile‑3 (SM‑3) Block IA, was die Geburtsstunde der heutigen Ballistic Missile Defense (BMD) darstellt.
Der Flugkörper Standard Missile‑3 (SM‑3)
Um diesen neuen Flugkörper SM‑3 – der aus dem bekannten SM‑2 hervorging – einsetzen zu können, wurde das maritime Luftverteidigungssystem Aegis der US Navy zu „Aegis BMD“ aufgerüstet. Aegis BMD besteht aus sechs wesentlichen Komponenten, die alle zuverlässig zusammenwirken müssen, um eine Abwehr erfolgreich durchzuführen.
Grafik: US Navy Click to enlarge |
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Das SPY-1-Radar dient der Entdeckung und Verfolgung anfliegender Raketen. Auf der Basis der Flugbahndaten ermittelt das Weapon Control System den Abfangpunkt und übermittelt den Startbefehl an das VLS Mk41-Startgerät, aus welchem der SM-3-Flugkörper startet. Während des Fluges wird der SM-3-Flugkörper über einen Uplink-Sender mit Flugbahndaten der Rakete und Steuerkommandos versorgt. Zuletzt bedarf es noch eines zuverlässigen Echtzeitaustausches taktischer Daten, welcher durch Link 16 sicher gestellt wird.
Der SM-3-Flugkörper ist die erste rein exo-atmosphärische Abfangwaffe in westlichen Arsenalen. Nach dem im Februar 2008 notwendigen erfolgreichen Abschuss eines außer Kontrolle geratenen Satelliten in ca. 230 Kilometer Höhe hatten SM‑3 und Aegis BMD ihre „Feuertaufe“ bestanden und so wurde im Oktober 2008 die Einsatzfähigkeit von Aegis BMD erklärt.
Die US Navy verfügt derzeit über ca. 25 Aegis-Kreuzer und ‑Zerstörer, die eine solche BMD-Fähigkeit eingerüstet haben. Die einzige Nation außer den USA, die derzeit über die Fähigkeit zur Abwehr von Raketen im Weltraum verfügt, ist Japan. Der Inselstaat betreibt insgesamt vier einsatzfähige Aegis-Zerstörer der KONGO-Klasse, die in der Lage sind, SM-3-Flugkörper einzusetzen.
Der SM‑3 wird von der US-Firma Raytheon entwickelt und produziert, die auch das bodengebundene Luftverteidigungssystem Patriot herstellt. Der SM‑3 existiert derzeit in den Varianten Block IA und Block IB. Während der Block IA im April 2011 seine Befähigung zur Abwehr auch von Intermediate Ballistic Missiles sowie zum Abschuss auf Fremddaten (Launch-on-Remote) nachgewiesen hat, kam es bei der Erprobung von Block IB durch zahlreiche Fehlversuche zu Verzögerungen.
Zeitgleich haben die USA und Japan die Entwicklungsarbeit für einen SM‑3 Block IIA begonnen. Diese in Teilen baugleiche Variante wird mit der Vorgabe „schneller – höher – weiter“ entwickelt. Sie soll – durch größere Abdeckung der verteidigten Fläche – die Zahl der erforderlichen Schiffe auf BMD-Station verringern. Für Japan würde das bedeuten, dass nur noch eine statt wie bisher permanent zwei Einheiten in See stehen müssen, um das Land gegen Raketen zu schützen. Zusätzlich zu diesen drei vorhandenen bzw. in Entwicklung befindlichen Varianten gibt es in den USA konzeptionelle Überlegungen zu einem nochmals leistungsgesteigerten SM‑3 Block IIB-Flugkörper, der allerdings wohl nicht mehr aus dem VLS Mk-41 Startgerät verschossen werden kann. Er ist für das landgestützte Derivat „Aegis Ashore“ gedacht.
Braucht Europa eine maritime Raketenabwehr?
NATO-Europa hat sich seit dem Ende des Kalten Krieges zu einem kontinental geprägten Bündnis entwickelt. Wenn in Europa die Sprache auf Beiträge zur Raketenabwehr kommt, geht es in der Regel um boden‑, luft- und weltraumgestützte Sensoren zur Entdeckung und Verfolgung anfliegender Raketen. Tatsächlich sind West- und Mitteleuropa bereits mit bodengestützten Großradaren gut abgedeckt. Um auch Südosteuropa besser zu schützen, haben die USA zwei mobile Großradare AN-TPY 2 vorgeschoben im eurasischen Grenzbereich stationiert. Eine Frühwarnung ist also bereits gegeben, wobei das Wort „früh“ in der Raketensprache lediglich eine Minutendimension hat.
Allerdings wirken die in europäischen Arsenalen zahlreich vorhandenen Abfangraketen nur im endo-atmosphärischen Raum. Das bedeutet, dass eine Gefährdung des verteidigten Bereiches durch Bruch- und Reststücke – man nennt das in der Fachsprache „debris“– der Rakete und ihres Gefechtskopfes sehr wahrscheinlich ist. Pläne zur Entwicklung/Beschaffung im Weltraum wirkender Abwehrwaffen gibt es in Europa derzeit nicht.
Einzig die US Navy stellt im Rahmen des European Phased Adaptive Approach ein Schiff im Mittelmeer mit einer begrenzten Anzahl von SM- 3‑Abfangflugkörpern. Der geschützte Bereich durch dieses eine Schiff ist – je nach Schiffsposition – auf Griechenland, Italien oder Teile Spaniens beschränkt, ein Schutz der Bevölkerungszentren Mitteleuropas ist mit den vorhandenen Mitteln derzeit nicht möglich. Auch dann nicht, wenn die US Navy wie geplant in den Jahren 2014 und 2015 vier BMD-Schiffe in Rota stationieren wird. Zumal diese Schiffe national und nicht unter NATO-Kommando operieren. Nur eigene Abwehrfähigkeiten NATO-Europas könnten einen solchen Schutz im Rahmen der Landes- und Bündnisverteidigung sicherstellen.
Neben den bodengebundenen Systemen Theater High Altitude Air Defense (THAAD, USA) und Arrows (Israel) bietet der Markt nur den oben beschriebenen SM-3-Abfangflugkörper für die obere Abfangschicht an. In den europäischen Marinen gibt es derzeit 20 Schiffe, welche durch ihre Systeme potentiell für den Einsatz eines Flugkörpers SM‑3 geeignet wären:
- Dänemark: drei Fregatten IVER HUITFELD,
- Deutschland: drei Fregatten Klasse 124,
- Niederlande: vier Fregatten LCF,
- Norwegen: fünf Aegis-Fregatten,
- Spanien: fünf Aegis-Fregatten.
Diese Aussage berücksichtigt jedoch weder den politischen Willen noch den technischen Aufwand. Die Einheiten verfügen aber über grundsätzliche Flugabwehreigenschaften, den erforderlichen Starter VLS Mk 41 sowie die erforderliche Basisbefähigung zum Austausch taktischer Daten in Echtzeit. Für die deutschen Fregatten der Klasse 124 beziffert eine grobe Schätzung die Kosten für eine Vollbefähigung zur Raketenabwehr kürzlich auf 800 Millionen Euro (siehe Marineforum 5/2012, Seite 5, InspM zu Ballistic Missile Defence).
Schiffe haben – im Gegensatz zu bodengebundenen Systemen – den Vorteil der Multi-Missions-Fähigkeit, der größeren Mobilität und der Möglichkeit, sie außerhalb territorialer Grenzen – sozusagen im „freien Raum“ auf hoher See stationieren zu können. Damit können sie im Krisenfall ohne oder mit geringerer politischer Brisanz vorausstationiert werden. Bei Abwesenheit von Raketenbedrohung erfüllen sie ihre anderen, gewohnten maritimen Aufträge. Je nach Stationierung und Variante des SM‑3 können zwei bis drei Einheiten auf Station Mittel- und Westeuropa gegen anfliegende Raketen schützen (siehe auch Marineforum 1–2/2012, Seite 24ff, „Nobody asked me but, … wenn Luftwaffenoffiziere mit Schiffen spielen“).
Es ist aber der wohl definierte Mix aus bodengebundenen Abfangsystemen für die untere Abfangschicht sowie seegestützten Abfang- Systemen für die obere Abfangschicht, der eine Raketenabwehr effektiv macht. Die Antwort auf die oben gestellte Frage muss also heißen: Ja, Europa braucht auch eine maritime Raketenabwehr.
Meilensteine Chicago und Paris im Mai 2012
Auf dem jüngst beendeten NATO-Gipfel in Chicago hat das Bündnis seine Anfangsfähigkeit zur Raketenabwehr erklärt. Rückgrat dieser Fähigkeit ist der US-Beitrag im Rahmen des European Phased Adaptive Approach, derzeit mittels vorgeschobener TPY‑2 Frühwarnradare sowie des im Mittelmeer kreuzenden Raketenabwehrschiffes (Aegis-BMD-Zerstörer). Es bleibt jetzt der Entwurf der NATO-BMD-Architektur abzuwarten, um dann Entscheidungen zu treffen, wo man sich als Nation einzubringen gedenkt.
Ebenfalls kürzlich zu Ende gegangen ist die 18. Sitzung des Maritime Theater Missile Defence Forums in Paris. In diesem Forum haben sich neun Nationen (AUS, CAN, DEU, ESP, FRA, GBR, ITA, NLD und die USA) zusammengeschlossen, um die Interoperabilität im Bereich der seegestützten Luftverteidigung zu verbessern.
Ende Mai wurde in Paris beschlossen, im Oktober 2015 die weltweit modernsten Flugabwehrfregatten und ‑zerstörer zu einer At-Sea-Demonstration zusammen zu bringen. In dieser At-Sea-Demo bei den Hebriden (Nord-West-Schottland) soll die Fähigkeit zur kombinierten klassischen Flugabwehr und Ballistischen Raketenabwehr eines maritimen Verbandes in Land-Maritime- Interface dargestellt werden. Die USA planen einen SM-3-Schuss auf eine Raketendrohne, während die anderen Teilnehmer die zahlreichen durch Drohnen dargestellten Anti-Schiff-Flugkörper abwehren. Derzeit sind zwei US-Aegis-Schiffe, ein britischer TYPE 45-Zerstörer, je ein italienischer und französischer HORIZON-Zerstörer sowie je eine niederländische LCF und deutsche F124-Fregatte vorgesehen, Kanada plant die Entsendung einer HALIFAX MOD-Fregatte. Es wird erwartet, dass die niederländische Fregatte und gegebenenfalls der britische Zerstörer mit einer Long-Range Surveillance and Tracking (LRS&T)-Fähigkeit zur BMD in dieser Übung beitragen können.
BMD ist bereits heute keine Zukunftsvision mehr, sondern eine Fähigkeit, die im Pazifik und in der NATO in Europa vorhanden und durch adäquate Beiträge der Nationen auszubauen ist. Und: Eine Alternative ohne seegestützte Fähigkeiten ist derzeit nicht absehbar.
Dieser Artikel wird mit freundlicher Genehmigung der “MarineForum — Zeitschrift für maritime Fragen” veröffentlicht.