Dieser Artikel wird mit freundlicher Genehmigung der „MarineForum – Zeitschrift für maritime Fragen“ veröffentlicht.
Die erste historische bestätigte Reise in die russische Arktis findet 1032 statt, als ein vermutlich Jäger oder Händler aus Nowgorod bis an die Küste der Kara See vorstößt. Nachdem in den folgenden Jahrhunderten weit nach Osten bis in die Laptew See und die Ostsibirische See nach und nach mehrere Handelsposten in der Arktis entstehen, wird im 18. Jahrhundert die von Zar Peter gegründete russische Marine mit der systematischen Erforschung der Nordküste Russlands beauftragt. Von ihr erstellte mehr als 60 detaillierte Karten machen deutlich, dass es entlang der russischen Nordküste eine durchgehende Seeverbindung zwischen Atlantik und Pazifik gibt – und diese ist eine beträchtliche Abkürzung des Seetransportweges von Europa nach Ostasien. Ein modernes Frachtschiff könnte hier gegenüber der normalen Route durch den Suezkanal mindestens 12 Tage einsparen.
Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts wird diese Verbindung als „Nordost-Passage“ bezeichnet. Heute spricht man vom „Nördlichen Seeweg“, der innerhalb der Ausschließlichen Wirtschaftszone (AWZ) Russlands von der Kara See bis zur Beringstraße reicht. Einige Teile sind allerdings nur für etwa acht Wochen im Jahr (fast) eisfrei, was einer wirtschaftlichen Nutzung als Seeverkehrsweg zwischen Atlantik und Pazifik enge Grenzen setzt; an einigen kritischen Stellen ist selbst im arktischen Sommer noch „navigatorische Hilfe durch Eisbrecher“ erforderlich. Bis 2030 erwartet Russland allerdings eine Verzehnfachung des heutigen Transportvolumens.
Nicht nur der Aspekt „Seetransport“, sondern vor allem auch riesige Öl- und Gasvorkommen geben den arktischen Gewässern für Russland eine „strategische Bedeutung“. Erste Bohrungen werden 1915 fündig, aber der Erste Weltkrieg bedeutet für die Ausbeutung der Vorkommen eine bis fast 1930 dauernde Pause. 1936 wird eine neue Behörde mit der Entwicklung des „Nördlichen Seeweges“ beauftragt. Sie soll See‑, Fluss- und Lufttransporte organisieren, Fernmeldenetze aufbauen, die arktischen Gewässer weiter erforschen und schließlich die Ausbeutung der Öl- und Gasvorkommen in die Hände nehmen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg nimmt die Entwicklung Fahrt auf. In den 1960er und 1970er Jahren werden in Sibirien weitere riesige – damals die weltweit größten – Vorkommen entdeckt. In den 1980er Jahren entwickelt sich die Ausbeutung allmählich vor die Küste in die arktischen Gewässer hinein. Zunächst wird auf Inseln gebohrt und gefördert, schließlich auch im Polarmeer selbst. Das meiste Öl/Gas wird über Pipelines transportiert, aber mithilfe einer Flotte nukleargetriebener Eisbrecher kommen auf ausgewählten Streckenabschnitten und je nach Eislage auch eisverstärkte Tanker zum Einsatz.
)Heute tragen die arktischen Ressourcen 20 Prozent zum russischen Bruttosozialprodukt bei, und für Russlands wirtschaftliche Zukunft hat weitere „robuste Ausbeutung“ zentrale Bedeutung. Dabei richtet sich der Blick immer weiter von der Küste weg ins Nordpolarmeer. 2001 reklamiert Russland unter Berufung auf die UN-Seerechtskonvention (UNCLOS) ein bis zum Nordpol reichendes Gebiet für sich: zwei untermeerische Formationen im Polarmeer – der Lomonosow-Rücken und der weiter östlich gelegene Mendelejew-Rücken – seien „natürliche Fortsetzungen der asiatischen Landmasse“, also des russischen Festlandssockels.
2015 den Vereinten Nationen vorgelegte Dokumente können dies jedoch noch nicht wissenschaftlich fundiert belegen. Die dazu notwendigen Vermessungen von Küste und Gewässern will man nun bis 2020 abschließen. Der ungeklärte Status hindert Russland allerdings nicht daran, im Sommer 2007 schon einmal demonstrativ eine russische Flagge am Meeresboden unter dem Nordpol zu verankern.
Die hohe wirtschaftliche Bedeutung gibt der Arktis für Russland natürlich auch einen entsprechenden sicherheitspolitischen/ militärischen Stellenwert. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts ist das unzugängliche arktische Gebiet allerdings für fremde Streitkräfte weder aus der Luft oder von Land, noch von See her zu erreichen; es gibt keine reale Bedrohung, und dementsprechend kann man auch weitgehend auf militärische Präsenz verzichten. Seegrenzschutz wird mit einigen wenigen Fahrzeugen wahrgenommen, und dies auch nur im kurzen arktischen Sommer.
Die Entwicklung von Interkontinentalraketen und Langstreckenbombern ändert dies. Im Kalten Krieg wird die Arktis plötzlich zu einer Hauptbedrohungsrichtung. Auf ihrem Flug „Großkreisen“ folgende Raketen haben über den Pol den kürzesten Weg nach Moskau. Auch Langstreckenbomber und (später) von Schiffen oder Flugzeugen gestartete Marschflugkörper finden hier ein mögliches offenes Tor. Die Verteidigung der offenen Nordflanke wird unverzichtbar. An der gesamten sowjetischen Arktisküste und auf vorgelagerten Inseln entstehen Luftverteidigungszentren mit weitreichenden Frühwarn-Radaranlagen sowie Flugplätze, auf denen in den Sommermonaten Abfangjäger stationiert werden.
Seestreitkräften bleibt die Arktis weitgehend unzugänglich – mit einer Ausnahme: U‑Boote. Spätestens 1958 machte die „Nautilus“ der US-Navy klar, dass nukleargetriebene U‑Boote sehr wohl das Nordpolarmeer unter dem Eis durchqueren können – und U‑Jagd wird für die russische Nordflotte (die Pazifikflotte hält sich südlich der Beringstraße) einer der zentralen Aufträge.
Im „Bastionskonzept“ soll sie NATO-U-Boote am Einlaufen in die Barentssee hindern; nördlich des Nordkaps bis in die Norwegensee sollen U‑Jagdflugzeuge, für U‑Jagd optimierte Überwassereinheiten und nicht zuletzt Angriffs-U-Boote eine tief gestaffelte Barriere bilden. Weitere Verteidigungslinien gibt es vor Buchten in der südöstlichen Barentssee sowie in der Petschorasee und im Westeingang zur Karasee. Hinter diesen operieren die zum Erhalt einer gesicherten nuklearen Zweitschlagskapazität notwendigen, mit Atomraketen bestückten sowjetischen U‑Boote, die natürlich ebenfalls über den Nordpol hinweg Ziele in Nordamerika im Visier haben.
Östlich der Karastraße haben Überwassereinheiten der Nordflotte praktisch keine Funktion. Dort ist die Arktis fast das ganze Jahr hindurch nur mit Eisbrecherhilfe befahrbar; eine Bedrohung durch Überwasserstreitkräfte gibt es nicht, und effektive U‑Jagd unter Eisbedingungen ist für die Kampfschiffe illusorisch. Hier muss sich die Nordflotte auf Flugzeuge beschränken. Natürlich gibt es an der Arktisküste inzwischen viele kleinere Häfen, Minenbetriebe und Ölförder-/Verladeeinrichtungen, aber hier finden sich (in den Sommermonaten) nur Einheiten des paramilitärischen Seegrenzschutzes.
Das Ende des Kalten Krieges wandelt Russlands Bedrohungsperspektive. Bei knappen Budgets werden die meisten militärischen Anlagen in der Arktis aufgegeben und verfallen. In den letzten Jahren gibt es allerdings eine Neubesinnung. Im Klimawandel geht die Eisbedeckung zurück, und nun ist der Nördliche Seeweg zumindest einige Wochen fast durchgehend befahrbar; nur an einigen Schlüsselstellen ist noch Eisbrecherhilfe notwendig. Zugleich wird die Ausbeutung neu entdeckter Gas- und Ölfelder deutlich leichter, vor allem aber kosteneffektiver. 2008 stellt Präsident Medwedjew eine neue „Arktis-Politik“ vor, die auch „Gewährleistung militärischer Sicherheit“ und „Wiederherstellung arktischer Stützpunkte“ fordert. 2011 kündigt der damalige Verteidigungsminister Serdjukow die Aufstellung von zwei „Arktis-Brigaden“ an, in denen ausgewählte Elemente von Landstreitkräften und Marineinfanterie zusammengefasst werden sollen.
Im September 2012 unterstreicht die Nordflotte mit einer spektakulären Verlegung, dass die arktischen Gewässer auch für eigentlich gar nicht zum Einsatz unter Eisbedingungen konstruierte Kriegsschiffe befahrbar geworden sind. Begleitet von mehreren anderen Kriegs- und Hilfsschiffen und (zur Sicherheit) von Eisbrechern, stößt der FK-Kreuzer „Petr Velikiy“ durch die Karasee und Laptewsee weit nach Osten bis zu den Neusibirischen Inseln vor und führt dort neben einer „Seenotrettungsübung in arktischem Umfeld“ eine (simulierte) Raketenabwehrübung durch. Das Verteidigungsministerium meldet, der Kreuzer habe erfolgreich seine Rolle als Teil des „seegestützten Segmentes des nationalen Raketenabwehrschildes“ wahrgenommen. Parallel dazu üben Landungsschiffe mit einer erstmaligen amphibischen Übung in der Laptewsee die „Unterstützung eines Bergbaubetriebes“.
Die Bedeutung dieser Übung kann kaum überbewertet werden. Erstmals überhaupt hat ein Anrainerstaat des Nordpolarmeeres größere militärische Aktivitäten in der Arktis entfaltet. Russland macht unmissverständlich klar, dass im Zuge des Klimawandels nicht nur die allgemeine Bedeutung der Arktis wächst, sondern dass mit Blick auf dort lagernde Rohstoffe und zunehmend befahrbare Seeverkehrswege die aktive (militärische) Verteidigung nationaler Interessen relevant geworden ist.
Ähnliche Verlegungen sind seitdem Teil des Jahres-Ausbildungsprogramms der Nordflotte, die jeweils im August/September – den Monaten geringster Eisbedeckung – „Marinepräsenz“ auf dem Nördlichen Seeweg demonstriert. 2013 werden dabei erstmals mobile Küsten-FK-Batterien auf Arktisinseln in Stellung gebracht. Im gleichen Jahr wird auch die Pazifikflotte in der Arktis aktiv: „Mehr als zehn Schiffe“ verlegen nach Norden vor die Tschuktschen- Halbinsel.
Die Übung 2015 bringt eine weitere Besonderheit. Landungsschiffe fahren mit Soldaten und Fahrzeugen der neuen „Arktis-Brigade“ durch die Karasee und den Jenissei 400 km flussaufwärts bis nach Dudinka. Erstmals überhaupt werden dort an einem „unbefestigten arktischen Flussufer“, weit im Binnenland, Schützenpanzer und Soldaten ausgeladen, um über Land weiter nach Osten zu fahren und gemeinsam mit Luftlandetruppen an einer vom Befehlshaber der Nordflotte geführten Übung bei Norilsk teilzunehmen. Ziel ist die „Verteidigung einer wichtigen arktischen Industrieanlage (Liegenschaft der Norilsk Nickel) gegen Terroristen“.
2014 stellt Russland seine Militärpolitik in der Arktis auf eine neue Basis. In signifikantem Ausbau der Infrastruktur sollen bis 2018 entlang der gesamten Arktisküste eine Kette von zehn neuen Frühwarn-Radarstationen sowie Küsten-FK- und Flugabwehr-FK-Stellungen (u.a. S‑400 auf Nowaja Semlja) entstehen; 13 nach dem Zerfall der Sowjetunion aufgegebene arktische Flugplätze sollen reaktiviert und Luftverteidigungseinheiten dort stationiert werden. Marine und Seegrenzschutz sollen ihre Präsenz vor der russischen Arktisküste deutlich erweitern.
Auf Nowaja Semlja, Franz-Josef Land, der Wrangel Insel, den Neusibirischen Inseln und bei Kap Schmidt sollen permanente Abstützpunkte für Einheiten der Marine und des Seegrenzschutzes entstehen. Ihr Bau (vorgefertigte Module) hat bereits begonnen. Russische Firmen haben mit der Entwicklung eines weit reichenden Sonarsystems begonnen, das entlang der gesamten Arktisküste Frühwarnung gegen eindringende U‑Boote und Schiffe geben soll. Im Rahmen des Ausbaus auch ziviler Infrastruktur sollen schwimmende Atomkraftwerke die Energieversorgung einiger arktischer Städte (u.a. Pevek) sicherstellen.
Schon 2012 erhält die St. Petersburger Nordwerft den Auftrag zum Bau von drei Schiffen der ELBRUS-Klasse, denen ein für 90 cm Eisdicke ausgelegter, verstärkter Stahlrumpf „ganzjähriges Befahren arktischer Gewässer“ erlauben soll. Eine revidierte Marineplanung sieht inzwischen eine kurzfristige (bis 2018) Beschaffung von bis zu elf „eis-fähigen“ Unterstützungsschiffen vor.
Zu diesen dürften auch neue Hilfsschiffe „Projekt 03182“ gehören. Typschiff „Mikhail Barskov“ ist in Wladiwostok im Bau und soll im November 2017 an die russische Marine übergeben werden, ein zweites Schiff dann Ende 2019 folgen. Beide sind zwar offiziell für die Pazifikflotte vorgesehen, aber sicher hat auch die Nordflotte Bedarf angemeldet. Optisch gleichen sie modernen zivilen Offshore Support Schiffen, wie sie in der Unterstützung von Offshore-Öl- und Gasförderung eingesetzt werden. Die russische Marine will sie in „allen Bereichen der Versorgung und Unterstützung von in arktischen Gewässern operierenden Kriegsschiffen“ nutzen. Mit der im Juni bei der Admiralitätswerft vom Stapel gelaufenen „Ilya Muromets“ beschafft die russische Marine erstmals seit 45 Jahren auch wieder einen eigenen Eisbrecher.
Auch der Bau von neuen, für „Eis-Einsätze unter arktischen Bedingungen optimierten“ Kampfschiffen wird auf den Weg gebracht. Im Frühjahr dieses Jahres bestellt die russische Marine bei der Admiralitätswerft in St. Petersburg erste Arktis-Wachschiffe „Projekt 23550“. „Weltweit einmalig“ vereinen sie die Fähigkeiten von Eisbrechern (können bis zu 1,5 m dickes Eis brechen), Hilfsschiffen im SAR-Dienst (Einsatz auch als Schlepper) und Offshore Support Vessel bis hin zu FK-Korvetten (Option zur Mitführung landzielfähiger Marschflugkörper Kalibr-NK). Baubeginn für zwei erste Schiffe soll noch in diesem Jahr sein; sie sollen bis 2020 an die russische Marine geliefert werden.
Natürlich muss sich die neue Bedeutung der Arktis nicht nur in Auftrag, Aufgaben und Mitteln der Streitkräfte widerspiegeln, sondern auch in der übergreifenden Führungsstruktur. Schon im Februar 2014 wird zum „Schutz der Interessen Russlands in der Arktis“ die Aufstellung des TSK-gemeinsamen Führungskommandos „Nordflotte – Vereinigtes Strategisches Kommando“ (VSK Nord) angekündigt; am 1. Dezember 2014 wird es offiziell aktiviert.
Das VSK Nord hat den Status eines Militärbezirks, wird aber offiziell nicht als solcher bezeichnet. Es ist direkt dem Verteidigungsminister unterstellt und wird vom Befehlshaber der Nordflotte geführt, die als dessen „Main Striking Force“ aus ihrem bisherigen Unterstellungsverhältnis unter dem Militärbezirk West herausgelöst ist. Neben der Nordflotte sind im neuen Führungskommando auch Arktis- Brigaden der Landstreitkräfte, Truppenteile der Luftstreitkräfte und der Luftverteidigung sowie zusätzliche Führungsorgane zusammengefasst; auch Grenzschutzeinheiten und Einheiten des Katastrophenschutzministeriums sind bzw. werden noch in die neue Struktur integriert.
Russlands Militarisierung der Arktis schreitet also zügig voran, auch wenn Präsident Putin sich öffentlich vehement gegen eine solche ausspricht und derartige Bestrebungen nur den anderen Arktis-Anrainern unterstellt. Rüstungsminister Rogozin betrachtet die Entwicklung aus einem anderen Blickwinkel. Die Vorhaben zielten beileibe nicht auf eine Militarisierung der Arktis, sondern allein auf die „Schaffung günstiger, friedlicher Rahmenbedingungen für Leben und Arbeit der dortigen Menschen“. Man muss wohl unter den Bedingungen kommunistischer Dialektik groß geworden sein, um solche feinen Unterschiede zu machen.