Kalter Krieg – aber in der Heimat nur Nebenrolle
Zerstörer NIPIGON der ANNAPOLIS-Klasse (Foto: RCN) |
Zerstörer der TRIBAL-Klasse (Foto: RCN) |
Der mit Gründung von Warschauer Pakt und NATO beginnende Kalte Krieg beschert der RCN schließlich wieder neue Aufgaben. In der NATO-Strategie spielt die Verstärkung Europas über den Atlantik eine zentrale Rolle, und wie schon im Zweiten Weltkrieg sind kanadische Häfen (St. Lorenzstrom) wesentliche Ausgangspunkte für die geplanten Konvois. Als Hauptbedrohung für die NATO-Versorgungswege und die kanadischen Ausgangshäfen werden sowjetische U‑Boote und Minen gesehen – und dementsprechend wird die Flotte umgebaut.
Kanadische Werften bauen insgesamt 20 für die U‑Jagd optimierte Geleitzerstörer und Fregatten verschiedener Klassen (ST. LAURENT, RESTIGOUCHE, McKENZIE, ANNAPOLIS). Die „Maritime Air Group“ erhält zwei Staffeln Sea King-Hubschrauber sowie U‑Jagdflugzeuge CP-121 Tracker. In den 1960er Jahren fahren erste Schiffe auch schon mit bordgestützten U‑Jagdhubschraubern zur See, und die drei bis 1970 in Dienst gestellten Versorger PROVIDER, PROTECTEUR und PRESERVER werden in Zweitfunktion auch „Helicopter Carrier“ für U‑Jagdhubschrauber. Man baut Spezialschiffe für die Unterwasser-/U‑Jagdwaffenforschung, widmet sich intensiv der Weiterentwicklung von Sonar und übernimmt Mitte der 1960er Jahre drei U‑Boote der britischen OBERON-Klasse (und eines der amerikanischen TENCH-Klasse).
Auch die in den 1970er Jahren in Dienst gestellten Zerstörer der TRIBAL-Klasse sind als U‑Jagdschiffe konzipiert, und natürlich reflektieren die 18 Anfang der 1980er Jahre eingeführten Seefernaufklärer CP-140 Aurora (eine Designvariante der amerikanischen P‑3C Orion) ebenfalls modernste U‑Jagdtechnologie. All dies macht die RCN in der NATO zum Vorreiter bei der U‑Bootabwehr. Der sowjetischen Minenbedrohung sollen 14 neue Küstenminensucher und gut 30 meist ebenfalls zur Minenabwehr fähige „Coastal Escorts“ begegnen.
Tatsächlich aber ist Kanadas territoriale Integrität auch in den kritischsten Zeiten des Kalten Krieges nicht wirklich von außen bedroht – vielleicht von über die Arktis anfliegenden sowjetischen Fernbombern, aber nicht von See. Der zu dieser Zeit einzige wahrscheinliche Konflikt mit Bedrohung kanadischer Interessen wird – weit entfernt von Kanada – in einem Angriff des Warschauer Paktes auf Westeuropa gesehen.
So definiert sich kanadische Verteidigungspolitik im Wesentlichen im Rahmen der „Forward Defence“ der NATO, und für die RCN findet diese fern der eigenen Küsten auf den transatlantischen Seeverkehrswegen und in europäischen Gewässern statt. Sie engagiert sich vor allem in außerheimischen Gewässern, wo die Teilnahme an NATO-Übungen und das Einbringen in NATO-Einsatzverbände im Vordergrund stehen.
In den Heimatgewässern ist SAR-Dienst vor den Küsten von Atlantik und Pazifik sowie in der Weite der Arktis noch die größte Herausforderung. In durchaus realistischer Einschätzung der Erfordernisse reduziert die RCN denn auch schon in den 1970er Jahren ihre Minenabwehrfähigkeit. Viele Boote werden ausgemustert, der Rest kommt meist nur noch in der seemännischen Ausbildung und zur Küstenvorfeldüberwachung (Unterstützung der Fischereischutzbehörde) zum Einsatz. Minenabwehr verkümmert zur bloßen Zweitrolle.
Unter rein nationalen Aspekten spielen die Streitkräfte in Kanada immer weniger eine Rolle. Natürlich ist ihr primärer Auftrag die Landesverteidigung, aber in der Realität dient die Heimat eigentlich nur der Ausbildung und Vorbereitung von außerheimischen Einsätzen zur Unterstützung von NATO und UN-Friedenstruppen, in denen Kanada sich stark engagiert. In diesem Umfeld kann kaum verwundern, dass schließlich kein Bedarf mehr in eigenständigen Teilstreitkräften mit ja teils dreifachen, aufwändigen Strukturen gesehen wird. 1968 werden sie in der zentralen Struktur der „Canadian Forces“ zusammengefasst.
Aus der RCN wird das „Maritime Command“ (MARCOM, Ottawa); die blauen Uniformen werden gegen dunkelgrüne Einheitskleidung getauscht. Die operative Struktur mit Maritime Forces Atlantic (MARLANT, Halifax) und Maritime Forces Pacific (MARPAC, Esquimalt) bleibt weitgehend unverändert. Die „Maritime Air Group“ bleibt zunächst noch dem MARCOM erhalten, bis sie dann 1975 zum „Air Command“ wechselt.
„Friedensdividende“
Auch die bereits „marginalisierten“ Streitkräfte leiten ihren Hauptauftrag noch aus dem Ost-West-Konflikt her. Der Zerfall der Sowjetunion und die Auflösung des Warschauer Paktes müssen sich so zwangsläufig im Verteidigungshaushalt niederschlagen. Als 1993 der Liberale Jean Chrétien die Regierung übernimmt, fährt er denn auch konsequent eine „Friedensdividende“ ein. Warnungen, dass an die Stelle des früheren Ost-West-Konfliktes absehbar andere, in ihrer „Asymmetrie“ auch durchaus komplexere Bedrohungsszenarien treten werden, ignoriert er.
SAR-Hubschrauber Cormorant (Foto: RCAF) |
Kurz vor seinem Amtsantritt hat die Marine mit dem Neubau von je zwölf Fregatten der HALIFAX-Klasse und Patrouillenbooten (mit Minenabwehrfähigkeit) der KINGSTON-Klasse sowie einer Kampfwertsteigerung der Zerstörer der TRIBAL-Klasse noch wesentliche Teile einer zyklischen Erneuerung der Flotte auf den Weg gebracht.
In Erfüllung verbindlicher Verträge werden diese Projekte im Laufe der 1990er Jahre auch sämtlich fertig gestellt; ansonsten aber liegt in den zehn Jahren der Regierung Chrétien (bis 2003) die Erneuerung der Flotte fast völlig auf Eis. Schon kurz nach Amtsantritt streicht der Regierungschef den drängenden Ersatz alter Marinehubschrauber. Erst fünf Jahre später ringt er sich dazu durch, zumindest 15 SAR-Hubschrauber Cormorant zu beschaffen – um Kanadas internationale Verpflichtungen auch weiter erfüllen zu können.
Einem „Schnäppchen“ kann aber auch die liberale Regierung nicht widerstehen. Als Ersatz für die alten U‑Boote der OBERON- Klasse bietet die britische Royal Navy ihre vier nach nur wenigen Dienstjahren ausgemusterten U‑Boote der UPHOLDER- Klasse an. Für nur etwa 500 Mio. Euro erwirbt Kanada die U‑Boote. Die Kosten sollen auch sämtliche Umbauten einschließen, aber natürlich soll hier zusätzlich gespart werden. Wesentliche Systeme der OBERON sollen in einer „Kanadisierung“ auf den UPHOLDER weiter verwendet werden. Schon ab dem Sommer 2000 sollen die solchermaßen umgebauten U‑Boote der nunmehr VICTORIA-Klasse in Dienst gestellt werden. Das Vorhaben wird ein Desaster. Mit mehr als zehn Jahren Verspätung wird das erste U‑Boot erst in diesem Jahr operativ voll einsatzklar. Sidney E. Dean stellt in diesem Heft des MarineForum das kanadische U‑Bootprojekt in einem gesonderten Artikel dar. An dieser Stelle wird daher nicht weiter darauf eingegangen.
Bei aller Vernachlässigung der Streitkräfte sieht auch die Regierung Chrétien paradoxerweise gerade in militärischer Beteiligung an internationaler Krisenbewältigung einen außenpolitischen Eckpfeiler Kanadas, und sie zögert denn auch nicht, Truppen und Kriegsschiffe in die ganze Welt zu entsenden. Finanziell unterfüttert werden solche Einsätze – darunter immerhin Golfkrieg, Balkankrieg und Somaliakonflikt – allerdings nicht. Sie sind sämtlich aus dem zusammengestrichenen Verteidigungsetat zu bezahlen. So sieht auch die Marine über mehr als ein Jahrzehnt hinweg ihr ohnehin mageres Budget zur Finanzierung von Kriseneinsätzen „systematisch geplündert“. Dass eine Flotte mittel- und langfristig nur dann funktionsfähig bleibt, wenn ihre materielle wie personelle Erneuerung kontinuierlich und planbar bleibt, wird in Ottawa geflissentlich ignoriert.
Frustriert konstatiert 2005 der scheidende Marinebefehlshaber VAdm Bruce MacLean, praktisch alle Schiffe und Boote seien materiell vernachlässigt; kaum eines entspreche noch dem Stand der Technologie. Auch die Personalregeneration sei ausschließlich unter Budgetaspekten und nicht bedarfsgerecht erfolgt. Die Folge seien erhebliche, kaum auflösbare Verwerfungen in der Personalstruktur.
Eine unabhängige Studie kommt zum Schluss, dass zum immer wieder verschobenen und nun unverzichtbar gewordenen Ersatz verbrauchten und veralteten Geräts allein bis 2009 etwa 10 Mrd. Euro mehr benötigen würden als geplant. Eine tief greifende Erholung könne durchaus „eine ganze Generation“ benötigen: kurzfristig sei bestenfalls eine Trendwende machbar. Die im Februar 2006 angetretene konservative neue Regierung unter Ministerpräsident Stephen Harper will diese Trendwende schaffen.