VON GORBATSCHOW ZU PUTIN — Fall und Wiederaufstieg einer Weltmacht:
Drei Politiker haben in den letzten Jahrzehnten unser Bild von Russland geprägt.
Nach Gorbatschow (1985 bis 1991 Generalsekretär der KPdSU bzw. Präsident der Sowjetunion) wurde die Sowjetunion aufgelöst — und damit eine längst überfällige Konsequenz aus mehreren Entwicklunge gezogen:
- der demographischen Entwicklung, wonach die Russen in der gesamten Sowjetunion nur noch eine Minderheit waren und die islamischen Völker insbesondere Zentralasiens zunehmend dabei waren, die Mehrheit der Bürger des Reiches zu werden
- der wirtschaftlichen Entwicklung, wonach die zentralistische Planwirtschaft gegenüber der flexiblen Privatwirtschaft immer mehr ins Hintertreffen geriet und
- der dadurch ausgelösten Probleme, mit dem Westen “auf gleicher Augenhöhe” zu bleiben.
Dem Westen — insbesondere in Deutschland — ist Gorbatschow aber in einer anderen Eigenschaft in Erinnerung geblieben. Er nahm den russischen Einflussbereich auf das eigentlich russische Kerngebeit zurück — und gab damit die im zweiten Weltkrieg eroberten Gebiete östlich der Elbe, und dementsprechend auch die ehemalige DDR, für eine eigene Entwicklung frei. “Perestrojka” und “Glasnost” waren zwei Begriffe, die jeder deutsche Journalist im Schlaf buchstabieren konnte, und die persönliche “Männerfreundschaft” zu Bundeskanzler Helmut Kohl führte zu einer “Gorbimania” die an das Anhimmeln von Pop-Stars gemahnt. Gorbatschow’s Politik führte ab 1989 zum Rückzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan. Der von “Apparatschkis” wie dem Chef des KGB, Wladimir Krjutschkow am 19. August 1991 gegen Gorbatschow ausgeführte Putsch beendete die Macht des sowjetischen Präsidenten. Danach war Gorbatschow nur mehr ein Relikt aus früheren Zeiten. Mit der von Jelzin betriebenen Gründung der “Gemeinschaft unabhängiger Staaten — GUS” am 08.12.1991 (durch Russland, Ukraine und Weißrussland — am 21.12. traten weitere 8 Republiken der GUS bei) — und dem Rücktritt von Präsident Gorbatschow am 15.06.1991 endete die Sowjetunion.
Unter Gorbatschow erreichte Boris Jelzin - Alkoholkrank, korrupt und Machtgierig — am 12.06.1991 mit etwas über 57 Prozent der Stimmen der Duma die russische Präsidentschaft. Jelzin — nicht Gorbatschow — hat die Staatswirtschaft zerschlagen und den berüchtigten Oligarchen den Weg geebnet. Die von Jelzin am 21.09.1993 verfassungswidrig durchgeführte Auflösung des russischen Parlaments führte zu blutigen Unruhen unter der Leitung von Alexander Ruzkoj (Gegenpräsident) und Chasbulataw, die am 3./4.10.1993 von Jelzin-treuen Truppen niedergeschlagen wurden. Gleichzeitig wurde der Abzug russischer Truppen aus Afghanistan (bis Januar 1997), aus Polen (Sept. 1992), Deutschland, Lettland und Estland (Aug. 1994) eingeleitet und abgeschlossen.
Jelzin lies sein Land verkommen, nur auf persönlichen Profit bedacht wurde Wirtschaftsförderung mit der Verschleuderung von Staatsbesitz verwechselt. Die Inflationsrate stieg unter Boris Jelzin bis 1998 auf 84 %. Das durchschnittliche Realeinkommen (1994 = 100) fiel bis 1997 auf 89,9 % und 1998 auf 75,5 %. Erst nach einem weiteren Tiefpunkt (1999: 66,5 %) begannen Putins Reformen zu greifen — im Jahr 2000 erreichte das durchschnittliche Jahreseinkommen wieder 75,1 % des Einkommens von 1994 und ist seither ständig gewachsen — auf 105 % im Jahre 2003 und 116,3 % im Jahre 2004. Gleichzeitig wurden laufend “die Pferde gewechselt”. Jelzin entlies die russischen Ministerpräsidenten “wie am Fliesband”. Sobald sich einer der Politiker zu sehr der Spielwiese Jelzins näherte — Primakow etwa wollte mit der Korruption in den höchsten Führugnsetagen “aufräumen” — wurde von Jelzin “aufgeräumt”. Frau Starowojtowa, eine Petersburger Politikerin, soll bei der Bekämpfung von Korruption sogar auf sehr brisantes Material gestoßen sein, bevor sie “von Mafiabanden” auf offener Straße erschossen wude. Tatsächlich hat sich Jelzin z.B. in Petersburg Vermögen westlicher Investoren “unter den Nagel gerissen”. Die Angelegenheit ist inzwischen im Westen gerichtsbekannt — die Investoren haben inzwischen russisches Staatsvermögen in Deutschland gepfändet, eine Blamage für dieses Land, und eine Belastung, mit der sich Russlands nachfolgende Politiker immer noch herumschlagen.
Ja, Russland musste in dieser Zeit ein gigantisches Umstrukturierungsprogramm durchlaufen:
- den Weg von der Diktatur zur Demokratie, und das bei einem Volk, das nahtlos von der Zarenherrschaft in die bolschewistische Diktatur wechselte. Hier mussten völlig neue Strukturen für eine neue Machtverteilung geschaffen werden, für die es in dem Riesenland keinerlei Vorbilder gab,
- dem Weg von der Planwirtschaft zur Privat- (Markt-)Wirschaft, und das bei einem Volk, dem über Jahrzehnte hin der “Kapitalismus” als die Wurzel allen Übels eingebleut worden war, wo privater Landbesitz zu millionfacher Ermordung der Kulaken, der Landwirte führte (die unter Stalin als Schmarotzer an der Gesellschaft bezeichnet wurden)
- und eine weitere Entwicklung — vom Sowjetreich (dem Überstaat ohne Nationen) zum rusischen Nationalstaat; wie würden die USA reagieren, wenn dieses Land ein Drittel seines Territoriums an unabhängige Indianerstaaten verlieren, die NATO aufgelöst und die USA weltweit keinerlei Einfluss mehr haben würden? Putin fasste den Zerfall des Landes 1991 wie folgt zusammen: “Millionen Menschen gingen in dem einen Land zu Bett und wachten in anderen Ländern auf. Über Nacht wurden sie ethnische Minderheiten in früheren Unionsrepubliken, während die russische Nation eine der größten, wenn nicht sogar das weltweit größte Volk wurde, das durch Grenzen geteilt ist.”
Und trotzdem: das Land zerfiel nicht im Bürgerkrieg wie das explodierende Jugoslawien, es gab keine verhungernden Menschen, keinen Militärputsch — aber eine weiterhin den Staat aufrecht erhaltende Bürokratie. Die seinerzeit 89 Gouverneue hatten sich allerdings vielfach zu Feudalfürsten entwickelt. Nach dem Vorbild der “Familie” (von Jelzin) grassierte auch bei den Gouverneuren Korruption und Willkür. Die Bundeskontrolle war zusammengebrochen. Justiz und Strafverfolgung wurden nach persönlichen Interessen behindert oder missbraucht.
Die mit all diesen Mammutaufgaben einhergehenden Schwierigkeiten führte dazu, dass Russland im Westen und bei den westlichen Konzernen wesentlich kritischer beurteilt wurde als das aufstrebende, aber gesellschaftspolitisch brutale, und nur in der Wirtschaft offene China. Trotz “Tien-an-men”: westliche Konzerne haben im “Absatzmarkt Chna” mehr Potential gesehen als in der in Umstrukturierung befindlichen rusischen Wirtschaft. Russlands Bemühungen um Demokratie wurden dagegen durch einen korrupten Raubtierkapitalismus konterkarriert.
China ist denn auch in der Wirtschaftsentwicklung eines der Vorbilder russischer Eliten. Aber dieses Vorbild ist nach wie vor von einer Parteidiktatur beherrscht, die imemr noch den alten Reflexen verfolgt — Tibet beweist es im Frühjahr 2008 erneut. Gleichzeitig setzten sich im russischen Volk die hehren westlichen Begriffe mit “negativen Inhalten” fest. Demokratie, Freiheit, Liberalisierung, Wohlstand — ist das nicht die ungezügelte Korruption der Politiker, Chaos und Arbeitslosigkeit, die Verelendung vieler und die unbegrenzte Bereicherung weniger. “Man muß darüber im klaren sein, daß kaum einer der heute reichen Teilhaber oder Eigentümer der großen russischen Konzerne sein Vermögen und seine Vermögensmacht auf einwandfreie Weise erworben hat. Wenn aus dem Kreise dieser Konzernherren, der sogenannten Oligarchen, gleichzeitig versucht wird, mit Hilfe ihrer finanziellen Macht auf die Politik des Staates einzuwirken, danns sind Konflikte mir der Regierung unausweichlich …” (Helmut Schmidt, Bundeskanzler a.D., in “DIE MÄCHTE DER ZUKUNFT”).
Es ist kein Wunder, dass das russische Volk sich bei all den Umwälzungen unter Jelzin nach einem funktionierenden, “starken Staat” sehnte. Eigentlich selbstverständlich — aber erst ein funktionierendes Staatswesen erlaubt die Freiheit des Einzelnen.
Und in dieser Situation betrat Putin die Bühne in Moskau, ein international erfahrende “Apparatschki”, der die Eingliederung der DDR in das westdeutsche Wirtschaftssystem (nd die Fehler, aber auch die positiven Entscheidungen) hautnah verfolgen konnte. Ja, Jelzin wurde wohl lebenslange Straffreiheit und Schutz vor Verfolgung zugesichert, aber das ist ein geringer Preis gegenüber dem, was Putin erreichte. Mit Unterstützung der Jablonko-Partei (die seinerzeit auch im Westen als die Partei mit dem größten Interesse an Wirtschaftsreformen und Demokratie bekannt wurde) und deren Parteiführer Grigorij Jawlinskij wurde eine stabilie Förderation gebildet. Die Regionen, die lediglich aufgrund von Subventionen der Zentralregierung überlebensfähig waren, sollten (bzw. sollen) mt starken Regionen verschmelzen. So entstand 2005 aus dem Gebiet Perm und dem Autonomen Bezirk der Komi-Permjaken die Region Perm. Auch die Autonomen Bezirke der Chanten und Mansen sowie der Jamal-Nenzen sollen nach mehr oder weniger sanftem Druck aus Moskau mit der sibirischen Region Kasnojarsk verschmelzen. Diese Strukturreform — und die Kürzung von Militärausgaben — erlaubten eine Etatumschichtung zu Gunsten des Bildungs- und Gesundheitswesens. Zum ersten mal in der russischen Geschichte wurde für die Zukunftsinvestition mehr Geld bereit gestellt als für das Militär.
In diesem Zusammenhang sei ein Rückblick auf das sowjetische Bildungssystem gestattet. Die besten Absolventen der Hochschulen konnten (nur) in den Sicherheitsdiensten ihre Karriere beschleunigen und sich zu hochqualifizierten Fachleuten entwickeln. Die “silowyje ministerstwa”, die “Machtministerien” mit bewaffneten Einheiten — Verteidigungsministerium, Innenminsiterium und Geheimdienst — waren die “Kaderschmieden” der russischen Elite. Diese Elite, die “Silowki” bildet eine Gemeinschaft, bei der Karrieren von persönlichen Beziehungen gefördert werden. Auch Putin entstammt dieser Nachwuchsschmiede, allerdings mit einem bemerkenswerten “Bruch”. Am 19. August 1991 erfolgte der Putsch gegen Michail Gorbatschow, und am 20. August verließ Putin den KGB, dessen Leiter in den Putsch verwickelt war. Für die Russen standen und stehen hinter diesem Datum große Entscheidungen: wer sich damals vom KGB distanzierte setzte ein Zeichen gegen die Rückentwicklung zum Stalinismus. Putin hat rasch gehandelt — und (für die Russen) zum richtigen Zeitpunkt. Am 21. August 1991 wäre es schon zu spät gewesen für dieses Zeichen. Putin arbeitete danach in der Stadtverwaltung von St. Petersburg, dort begann seine politische Karriere, die am 9. August 1999 als Ministerpräsident Russlands unter Boris Jelzin und am 31. Dezember 1999 als russischer Präsident ihren Höhepunkt erreichte — und die Agonie Russlands beendete. Der Präsident stärkte den Staat, und die Geheimdienst denen er seine Karriere verdankt. Dabei kehrte Putin zu der Art von Politik zurück, die er als “positiv” erlebt hat. Ein autoritärer Staat, in dem die Wirtschaft auch der staatlichen Fürsorge unterliegt — mit anderen Worten: Russlands “Oligarchen” können in die eigenen Taschen wirtschaften, solange sie sich (Beispiel: Chodorkowski) politisch nicht gegen den Kreml stellen.
Die Russen sind inzwischen wieder stolz auf ihr Land, patriotisch — und sie können auch stolz darauf sein, dass Russland nicht im Chaos versunken ist sondern (die Entwicklung der Devisenreserven beweist es) wieder zurück kehrt auf die internationale Bühne. Und da gehört ein Land auch hin, dessen Ausdehnung sich über elf Zeitzonen erstreckt, eine Großmacht, deren Atomwaffenpotential ausreicht, um die Erde in eine globale strahlende Wüste zu verwandeln.
Mit der Annexion der Krim 2014 hat Russland aber wohl “den Bogen überspannt”. Die Handlungen Russlands wurden im Westen als gnadenloses und kalt durchgerechnetes Kalkül verstanden — ohne Rücksicht auf vertragliche Zusagen zur territorialen Integrität der Ukraine. Die USA zeigen deutlich, dass sie bereit sind, diese “Herausforderung” anzunehmen. Obamas Sicherheitsberaterin Susan Rice beantwortete am 21. März 2014 die Frage, ob Washington seine gesamte Russlandpolitik überdenke, mit einem klaren Wort, mit: “Ja.” Und mit der Krim-Krise geht auch eine Wirtschaftskrise für Russland einher: Obwohl die russische Zentralbank seit Beginn der Krise 30 Milliarden Dollar für Stützungskäufe des Rubels ausgegeben hat, hat sich der Verfall der russischen Währung weiter beschleunigt. Gut zehn Prozent hat die Landeswährung bis zur vollzogenen Annexion im März 2013 gegenüber Dollar und Euro eingebüßt.
Russlands Politik zu Beginn des neuen Jahrhunderts:
“Das Konfliktpotential mit den USA wächst
Die Russen vertrauen Personen, nicht Parteien, und an erster Stelle vertrauen sie ihrem Präsidenten Putin. Während seiner Regierungszeit hat sich ein neuer Patriotismus in Russland entwickelt, der das riesige Land vielleicht auch in der Nach-Putin-Ära zusammenhalten wird. Das Misstrauen gegenüber Amerika wächst spürbar – mit ungewissem Ausgang. Zur Europäischen Union sucht Moskau dagegen weiter eine enge Partnerschaft.”
Zitat: Eurasisches Magazin, 05–06 · 30.05.2006, Interview mit Prof. Dr. phil. Eberhard Schneider Mitglied der Forschungsgruppe Russland / GUS bei der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik
„Die heutige Entwicklung in Russland ist vom Westen kaum mehr beeinflussbar. Der Westen hat seine historische Chance, auf Russland einzuwirken, vorerst vertan“ „Man muss schon weit in die Geschichte zurückblicken, um sich daran zu erinnern, wann es den Russen besser ging als heute“
Alexander Rahr, Programmdirektor Russland/Eurasien der Deutschen Gesellschaft für Außenpolitik (DGAP) in „Russland gibt Gas. Die Rückkehr einer Weltmacht“, Carl Hanser Verlag, 2008.
Der “Wiederaufstieg” Russlands unter Putin ist mit zwei Begleitentwicklungen gekoppelt: zum Einen erstarkt die unter Sowjetzeiten arg malträtierte russische Kirche wieder, zum Anderen greift gerade in der russischen Jugend — aber auch bei vielen Älteren — ein starker russischer Patriotismus um sich. Dieser Patriotismus wird durch das wirtschaftliche Erstarken des russischen Reiches — nach dem Zerfall der UdSSR und dem damit verbundenen “Gesundschrumpfen” gefördert.
Putins Nachfolger im Präsidentenamt — Dimitri Medwedew — hat ein wirtschaftlich erstarktes und selbstbewusstes Land übernommen. Auf dem jährlichen Wirtschaftsforum für Auslandsinvestoren in St. Petersburg konnte Medwedew daher im Juni 2008 selbstbewusst sagen: “Russland ist jetzt ein ’Global Player’ ”, und Hilfe bei der Überwindung der globalen Finanzkrise anbieten. Ziel seiner Politik sei es, Russland zu einem globalen Finanzzentrum und den Rubel zu einer führenden Währung zu machen. “Wir haben den Plan, Moskau zu einem weltweit bedeutenden Finanzzentrum auszubauen und den Rubel zur führenden regionalen Reservewährung zu machen”.
Dass Russland wieder selbstbewusst Politik betreibt musste Georgiens Präsident Saakaschwilli im August 2008 erfahren. Nachdem georgische Truppen am 7. August über die abtrünnige Provinz Südossetien hergefallen waren, schlugen russische Truppen die mit US-amerikanischer und israelischer Hilfe trainierten georgischen Streitmächte innerhalb kürzester Zeit zurück. Putin — nun als Ministerpräsident Russlands am “Ruder der Macht” rechtfertigt diese Aktion im ARD-Interview wie folgt (kursive Stellen wurden von ARD nicht gesendet):
Thomas Roth: Herr Ministerpräsident, nach der Eskalation in Georgien sieht das Bild in der internationalen Öffentlichkeit so aus – damit meine ich Politik, aber auch Presse: Russland gegen den Rest der Welt. Warum haben Sie Ihr Land mit Gewalt in diese Situation getrieben?
Wladimir Putin: Was meinen Sie, wer hat den Krieg begonnen?
Thomas Roth: Der letzte Auslöser war der georgische Angriff auf Zchinwali
Wladimir Putin: [Ich] Danke Ihnen für diese Antwort. So ist es auch, das ist die Wahrheit. Wir werden dieses Thema später ausführlicher erörtern. Ich möchte nur anmerken, dass wir diese Situation nicht herbeigeführt haben.
Wladimir Putin: Ich bin überzeugt, dass das Ansehen eines jeden Landes, das im Stande ist, das Leben und die Würde der Bürger zu verteidigen, eines Landes, das eine unabhängige Außenpolitik betreiben kann, dass das Ansehen eines solchen Landes mittel- oder langfristig steigen wird. Umgekehrt: Das Ansehen der Länder, die in der Regel die Interessen anderer Staaten bedienen, die die eigenen nationalen Interessen vernachlässigen – unabhängig davon, wie sie das auch erklären mögen –, wird sinken.
Roth: Sie haben die Frage trotzdem noch nicht beantwortet, warum Sie die Isolation ihres ganzen Landes riskiert haben…
Putin: Ich dachte, geantwortet zu haben, aber wenn sie zusätzliche Erklärungen brauchen, das mache ich. Unser Land, das die Würde und den Stolz unserer Bürger verteidigen kann, und die außenpolitischen Verpflichtungen im Rahmen der Friedensstiftung erfüllen kann, wird nicht in Isolation geraten, ungeachtet dessen was unsere Partner in Europa und USA im Rahmen ihres Blockdenkens sagen. Mit Europa und den USA endet die Welt nicht. Und im Gegenteil, ich möchte es nochmal betonen: Wenn Staaten ihre eigene nationale Interessen vernachlässigen, um außenpolitische Interessen anderer Staaten zu bedienen, dann wird die Autorität dieser Länder – unabhängig davon, wie sie das auch erklären mögen –, nach und nach sinken. D.h. wenn die europäischen Staaten die außenpolitischen Interessen der USA bedienen wollen, dann werden sie, aus meiner Sicht, nichts dabei gewinnen.
Jetzt reden wir mal über unsere internationalen rechtlichen Verpflichtungen. Nach internationalen Verträgen haben die russischen Friedenstifter die Pflicht, die zivile Bevölkerung von Südossetien zu verteidigen. Und jetzt denken wir mal an 1995 (Bosnien). Und wie ich uns Sie gut wissen, haben sich die europäischen Friedensstifter, in dem Fall repräsentiert durch niederländische Streitkräfte, nicht in den Konflikt eingemischt und haben einer Seite damit erlaubt, einen ganzen Ort zu vernichten. Hunderte wurden getötet und verletzt. Das Problem und die Tragödie von Srebrenica ist in Europa sehr bekannt. Wollten Sie, dass wir auch so verfahren? Dass wir uns zurückgezogen hätten und den georgischen Streitkräften erlaubt hätten, die in Zchinwali lebende Bevölkerung zu vernichten?
Roth: Herr Ministerpräsident, Kritiker sagen, Ihr eigentliches Kriegsziel war gar nicht, nur die südossetische Bevölkerung – aus Ihrer Sicht – zu schützen, sondern zu versuchen, den georgischen Präsidenten aus dem Amt zu treiben, um den Beitritt Georgiens über kurz oder lang zur NATO zu verhindern. Ist das so?
Putin: Das stimmt nicht, das ist eine Verdrehung der Tatsachen, das ist eine Lüge. Wenn das unser Ziel gewesen wäre, hätten wir vielleicht den Konflikt begonnen. Aber, wie sie selbst sagten, das hat Georgien gemacht. Jetzt gestatte ich mir, an die Tatsachen zu erinnern. Nach der nicht legitimen Anerkennung des Kosovo haben alle erwartet, dass wir Südossetien und Abchasien anerkennen. Alle haben darauf gewartet und wir hatten ein moralisches Recht darauf. Wir haben uns mehr als zurückgehalten. Ich will das auch nicht kommentieren. Ja, mehr noch, wir haben das geschluckt. Und was haben wir bekommen? Eine Eskalation des Konfliktes. Überfall auf unsere Friedensstifter. Überfall und Vernichtung der friedlichen Bevölkerung in Südossetien. Das sind Tatsachen, die angesprochen wurden. Der französische Aussenminister war in Nordossetien und hat sich mit Flüchtlingen getroffen. Die Augenzeugen berichten, dass die georgischen Streitkräfte mit Panzern Frauen und Kinder überfahren haben, die Leute in die Häuser getrieben und lebendig verbrannt haben. Georgische Soldaten haben, als sie nach Zchinwali kamen, — so im vorbeigehen – Granaten in die Keller und Bunker geworfen, wo Frauen und Kinder sich versteckt hatten. Wie kann man so etwas anders nennen, als Genozid?
Und jetzt zur Regierung in Georgien.
Das sind die Menschen, die ihr Land in die Katastrophe getrieben haben, die georgische Führung hat das mit eigenen Aktionen gemacht. Die Staatlichkeit des eigenen Landes torpediert. Solche Menschen sollten keinen Staat führen, ob groß oder klein. Wären sie anständige Personen, sollten sie unbedingt zurücktreten.
Roth: Das ist jedoch nicht Ihre Entscheidung, sondern die der georgischen Regierung.
Putin: Natürlich, jedoch kennen wir auch Präzedenzfälle, die einen anderen Charakter haben. Ich erinnere nur die amerikanische Invasion des Iraks und was sie mit Saddam Hussein gemacht haben, weil dieser ein paar schiitische Dörfer vernichtet hatte. Und hier wurden in den ersten Stunden der Kampfhandlungen auf südossetischem Territorium 10 ossetische Dörfer vollständig vernichtet (ausradiert).
Roth: Herr Ministerpräsident, sehen Sie sich denn im Recht, in das Territorium eines souveränen Staates, nämlich Georgien, vorzudringen und dort Bombardierungen durchzuführen? Ich selbst sitze hier nur aus purem Zufall mit Ihnen, da buchstäblich einige Meter von mir eine Bombe explodiert ist, die aus Ihrem Flugzeug abgeworfen wurde. Gibt Ihnen das aus völkerrechtlicher Sicht das Recht…
Putin: Wir haben uns absolut im Rahmen des Völkerrechts bewegt. Wir haben den Angriff auf unsere Friedensstifter, auf unsere Bürger als ein Angriff auf Rußland aufgefasst. In den ersten Stunden der Kampfhandlungen töteten die georgischen Streitkräfte mehre Dutzend unserer Blauhelme. Haben unseren südlichen Posten, da war südlicher und nördlicher, mit Panzern eingekreist und direkt beschossen. Als unsere Blauhelmsoldaten die Technik aus einem Hangar holen wollten, wurde ein Schlag mit dem Artilleriesystem „Grad“ ausgeführt. 10 Leute, die in diesen Hangar reingingen, wurden auf der Stelle getötet (lebendig verbrannt). Danach hat die georgische Luftwaffe Luftschläge in verschiedenen Punkten in Südossetien durchgeführt. Nicht in Zchinwali, sondern inmitten von Südossetien. Und wir sahen uns gezwungen, die Verwaltungspunkte der georgischen Streitkräfte, die sich außerhalb der Konfliktzone befanden, unschädlich zu machen. Das waren solche Punkte, von wo die Artillerieschläge und die Luftangriffe auf russische Blauhelme koordiniert und ausgeführt wurden.
Roth: Ich hatte ja gesagt, dass auch die Bombardierung der Zivilbevölkerung stattgefunden hat. Sie haben womöglich nicht alle Informationen.
Putin: Ich verfüge möglicherweise nicht über alle Informationen. Im Zuge der Kampfhandlungen sind Fehler möglich. Jetzt gerade hat die amerikanische Luftwaffe in Afghanistan einen Schlag gegen die Taliban durchgeführt und hat fast 100 Leute aus der Zivilbevölkerung getötet. Das ist die erste Möglichkeit. Die zweite, die wahrscheinlicher ist: die Verwaltungspunkte der georgischen Artillerie, der Luftwaffe und Radarstationen wurden mutwillig mitten in den Wohngebieten platziert, damit die Wahrscheinlichkeit der Luftschläge gegen diese minimiert wird. Sie haben die Zivilbevölkerung und Sie als Geiseln benutzt.
Roth: das ist eine Mutmaßung.
Roth: Der französische Außenminister Kouchner hat viele Sorgen geäußert in den letzten Tagen, als Minister der Ratspräsidentschaft. Er hat auch die Sorge geäußert, dass der nächste Konfliktherd um die Ukraine beginnt, nämlich um die Krim, um die Stadt Sewastopol. Ist die Krim das nächste Ziel, der Sitz der Schwarzmeerflotte?
Putin: Sie sagten das nächste Ziel. Wir haben auch hier kein Ziel gehabt. Deshalb ist es nicht korrekt, so zu reden. Und, wenn Sie gestatten, dann bekommen Sie eine zufriedenstellende Antwort: Die Krim ist kein kritisches Territorium, da hat es keinen ethnischen Konflikt gegeben, im Unterschied zum Konflikt zwischen Südossetien und Georgien. Und Russland hat längst die Grenzen der heutigen Ukraine anerkannt. Im Grunde genommen haben wir die Grenzverhandlungen abgeschlossen. Da bleiben nur Demarkationsangelegenheiten, das ist eine technische Angelegenheit. Und eine solche Frage riecht nach Provokation. Da gibt es innerhalb der Krim komplizierte Prozesse, Krim-Tataren, ukrainische Bevölkerung, russische Bevölkerung, also slavische Bevölkerung. Das ist aber ein internes Problem der Ukraine. Es gibt einen Vertrag über die Flotte bis 2017.
Roth: Wo stehen wir? Ist es nur eine Eiszeit, ist es schon ein kalter Krieg, hat das Wettrüsten schon begonnen oder schließen sie alles aus?
Putin: Russland strebt keinerlei Verschiebungen an, keinerlei Spannungen. Obwohl auch das sein kann. Wir wollen gutnachbarschaftliche, partnerschaftliche Beziehungen unterhalten. Wenn Sie erlauben, dann sage ich, was ich darüber denke. Es gab die Sowjetunion und den Warschauerpakt. Und es gab die sowjetischen Streitkräfte in der DDR, und man muss es ehrlich zugestehen, das waren Okkupationskräfte, die nach dem Ende des zweiten Weltkriegs in Ostdeutschland geblieben sind unter dem Deckmantel der Koalitionsstreitkräfte. Nach dem Zerfall der Sowjetunion, des Warschauerpaktes sind diese Okkupationskräfte weg. Die Gefahr von Seiten der Sowjetunion ist weg. Die NATO aber, die amerikanischen Streitkräfte, in Europa sind immernoch da. Wofür?
Um Ordnung und Disziplin in den eignen Reihen zu halten, um alle Koalitionspartner innerhalb eines Blocks zu halten, braucht man eine außenstehende Gefahr. Und Iran ist da nicht ganz passend für diese Rolle. Man will daher einen Gegner wiederauferstehen lassen und dieser soll Rußland sein. In Europa jedoch fürchtet uns niemand mehr.
Roth: Die Europäische Union in Brüssel wird über Russland reden. Es wird wohl auch über Sanktionen gegen Russland zumindest geredet werden, möglicherweise werden sie beschlossen. Macht Ihnen das irgend eine Art von Sorge oder ist Ihnen das egal, weil Sie sagen, die Europäer finden sowieso nicht zu einer Stimme?
Putin: Würde ich sagen, wir pfeifen drauf, es ist uns egal, würde ich lügen. Natürlich verfolgen wir alles sehr aufmerksam. Wir hoffen, dass der gesunde Menschenverstand triumphieren wird, und wir glauben, dass eine nicht politisierte, sondern objektive Einschätzung der Ereignisse gegeben wird. Wir hoffen auch, dass die Aktionen der russischen Friedensstifter unterstützt werden und die Aktionen der georgischen Seite, diese verbrecherische Aktion durchgeführt hatte, sanktioniert werden.
Roth: Herr Ministerpräsident, müssen Sie sich in Wirklichkeit nicht entscheiden? Sie wollen auf der einen Seite auf eine intensive Zusammenarbeit mit Europa nicht verzichten, Sie können es meines Erachtens wirtschaftlich auch gar nicht, andererseits wollen Sie trotzdem nach eigenen russischen Spielregeln spielen. Also auf der einen Seite ein Europa der gemeinsamen Werte, die Sie auch teilen müssen, andererseits spielen Sie nach russischen Spielregeln. Beides zusammen geht aber nicht…
Putin: Wir wollen nicht nach irgendwelchen besonderen Spielregeln spielen. Wir wollen, dass alle nach einheitlichen völkerrechtlichen Regeln vorgehen. Wir wollen nicht, dass diese Begriffe manipuliert werden, in einer Region die Regeln, in einer anderen die Regeln. Wir wollen einheitliche Regeln. Einheitliche Regeln, die die Interessen aller Teilnehmer berücksichtigen.
Roth: Wollen Sie damit sagen, dass die EU je nach Region nach unterschiedlichen Regeln handelt, die nicht dem Völkerrecht entsprechen?
Putin: Absolut. Wie hat man Kosovo anerkannt? Man vergaß die territoriale Souverenität der Staaten, die UN-Resolution 1244, die sie selbst beschlossen haben. Dort durfte man das und in Abchasien und Südossetioen nicht. Warum?
Roth: D.h. Rußland ist einzig und allein fähig die Regeln des internationalen Völkerrechts zu bestimmen. Alle anderen manipulieren, machen es wie sie wollen? Hab ich Sie richtig verstanden?
Putin: Sie haben mich falsch verstanden. Haben Sie die Unabhängigkeit Kosovos anerkannt? Ja oder Nein?
Roth: Ich selbst nicht, ich bin Journalist.
Putin: Die westlichen Länder. Im Grunde haben es alle anerkannt. Nur, wenn man es dort anerkennt, dann muss man auch die Unabhängigkeit von Abchasien und Südossetien anerkennen. Es gibt überhaupt keinen Unterschied. Der Unterschied ist ausgedacht. Dort gab es ethnische Spannungen und hier gibt es ethnische Spannungen. Dort gab es Verbrechen – praktisch von beiden Seiten‑, und hier kann man die wahrscheinlich finden. Wenn man etwas „gräbt“, dann kann man die bestimmt finden. Dort gab es die Entscheidung, dass beide Völker nicht mehr zusammen in einem Staat leben können, und hier wollen sie es auch nicht. Es gibt keinen Unterschied und alle verstehen es in Wirklichkeit. Das alles ist nur Gerede, um rechtwidrige Schritte zu decken. Das nennt man, das Recht des Stärkeren. Und damit kann sich Rußland nicht abfinden.
Herr Roth, Sie leben schon lange in Rußland, sie sprechen hervorragend, fast ohne Akzent, russisch. Dass Sie mich verstanden haben, wundert mich nicht. Das ist mir sehr angenehm, jedoch möchte ich auch sehr, dass mich meine europäischen Kollegen verstehen, die sich am 1. September treffen und über diesen Konflikt beraten werden.
Wurde die Resolution 1244 angenommen? Ja! Dort wurde unterstrichen geschrieben: territoriale Souverenität Serbiens! Die Resolution haben die in den Müll weggeworfen. Alles vergessen. Sie wollten die Resolution zuerst umdeuten, anders interpretieren, aber es ging nicht. Alles vergessen. Warum? Das Weißen Haus ordnete an, und alle führen aus! Wenn die europäischen Länder auch weiterhin eine solche Politik führen, dann werden wir über europäische Angelegenheiten in Zukunft mit Washington reden müssen.
Roth: Wo sehen Sie die Aufgabe von Deutschland in dieser Krise?
Putin: Wir haben zu Deutschland sehr gute Beziehungen, vertrauensvolle Beziehungen, sowohl politische als auch ökonomische. Als wir mit Herrn Sarkozy gesprochen haben, bei seinem Besuch hier, haben wir gesagt, dass wir keinerlei Territorien in Georgien wollen. Wir werden uns in die Sicherheitszone zurückziehen, die in den früheren internationalen Abkommen vereinbart wurde. Aber da werden wir auch nicht ewig bleiben. Wir betrachten das als georgisches Territorium. Unsere Absicht besteht nur darin, die Sicherheit zu gewährleisten und es nicht so zu machen, dass da Truppen und Kriegsgerät heimlich geballt werden. Und zu verhindern, dass da die Möglichkeit eines neuen Konfliktes entsteht. Dann begrüßen wir die Teilnahme von Beobachtern der EU, der OSZE und natürlich auch Deutschlands. Wenn die Prinzipien der Zusammenarbeit geklärt sind.
Roth: D.h. Sie werden ihre Truppen auf jeden Fall zurückziehen.
Putin: Natürlich. Es ist für uns als erstes wichtig, die Sicherheit in der Region sicherzustellen. Als nächstes Südossetien zu helfen, die eigenen Grenzen zu sichern. Danach haben wir keine Gründe mehr uns dort aufhalten zu müssen. Und währen dieser Arbeit würden wir die Kooperation mit der EU, OSZE nur begrüßen.
Roth: Was können Sie unter der Berücksichtigung der Umstände, in dem sich diese Krise befindet, der Beziehungen zur USA und Europa, zur Eskalation dieser Krise beitragen?
Putin: Als erstes, das habe ich bereits gestern Ihren CNN-Kollegen gesagt, dass diese Krise unter anderem von unseren amerikanischen Freunden, im Zuge des Vorwahlkampfes provoziert wurde. Das schließt auch die Nutzung der administrativen Ressourcen in einer sehr bedauernswerten Ausführung ein, um einem der Kandidaten eine Mehrheit sicherzustellen. In dem Fall, dem der Regierungspartei.
Roth: Das glauben Sie wirklich? [auf russisch]: Das ist kein Fakt
Putin: [auf deutsch]: Das ist kein Fakt. [weiter auf russisch] Wir wissen, dass es dort viele amerikanische Berater gegeben hat. Das ist sehr schlecht, wenn man eine Seite des ethnischen Konflikts zuerst aufrüstet und sie dann dazu drängt, die Lösung des ethnischen Problems auf militärischem Wege zu suchen. Das scheint auf den ersten Blick einfacher zu sein, als mehrjährige Verhandlungen zu führen, Kompromisse zu suchen. Das ist jedoch ein sehr gefährlicher Weg. Und die Entwicklung der Ereignisse hat es gezeigt.
Instruktoren, Lehrer im weiten Sinne, Personal, welches die Nutzung der gelieferten Technik zeigt, sie alle müssen sich wo befinden? Auf Übungsanlagen und in den Übungszentren. Und wo waren diese Leute? In der Kampfzone! Und das drängt den Gedanken auf, dass die amerikanische Führung über die vorbereitete Aktion gewusst und mehr noch an dieser teilgenommen hat. Ohne einen Befehl der obersten Führung dürfen sich amerikanische Bürger nicht in der Konfliktzone aufhalten. In der Sicherheitszone durften sich lediglich die zivile Bevölkerung, Beobachter der OSZE und die Blauhelme. Wir jedoch haben da Spuren von amerikanischen Staatsangehörigen gefunden, die keiner dieser Gruppen angehören. Das ist die Frage: wieso hat die Führung der USA es erlaubt, sich ihren Bürgern dort aufzuhalten, die dort kein Recht dazu hatten?Und wenn sie es erlaubt haben, dann hab ich die Vermutung, dass es mutwillig passiert ist, um einen kleinen, siegreichen Krieg zu organisieren. Und falls das schiefläuft, Rußland in die Rolle des Gegners zu drängen, um daraufhin das Wahlvolk hinter einem der Präsidentschaftskandidaten zu vereinigen. Natürlich dem der Regierungspartei, da nur diese über eine solchen Ressource verfügen kann. Das sind meine Ausführungen und Vermutungen. Es ist Ihre Sache, ob Sie mir zustimmen oder nicht. Aber sie haben das Recht zu existieren, da wir Spuren von amerikanischen Staatsangehörigen in der Kampfzone gefunden haben.
Roth: Und eine letzte Frage, die mich sehr interessiert. Denken Sie nicht, dass Sie sich in der Falle Ihres eigenen autoritären Systems befinden? Sie kriegen Informationen von Ihren Geheimdiensten und anderen Quellen, jedoch haben die Medien Angst etwas zu berichten, was nicht mit der Linie der Regierung übereinstimmt. Ist es nicht so, dass das von Ihnen geschaffene System, Ihnen die Möglichkeit eines breiten Sichtfeldes auf diesen Konflikt nimmt, auf die Geschehnisse in Europa und anderen Ländern?
Putin: Sehr geehrter Herr Roth, Sie haben unser politisches System als autoritär bezeichnet. Sie haben in unserer heutigen Diskussion auch mehrfach über unsere gemeinsamen Werte gesprochen. Woraus bestehen diese? Es gibt einige grundliegende Werte, wie das Recht zu leben. In USA z.B. gibtes immernoch die Todesstrafe, in Rußland und Europa gibt es die nicht. Heißt das denn, dass Sie aus dem NATO-Block austreten wollen, weil es keine vollständige Übereinstimmung der Werte zwischen den Europäern und Amerikanern gibt?
Jetzt zum Konflikt, über den wir heute sprechen. Wissen Sie denn nicht, was sich in Georgien die letzten Jahre abgespielt hat? Rätselhafter Tot des Ministerpräsidenten Shwania, Niederschlagung der Opposition, physische Zerschlagung von Protestmärschen der Oppositionellen, Durchführung der Wahlen während eines Ausnahmezustands und jetzt diese verbrecherische Aktion in Ossetien mit vielen Toten. Und da ist natürlich ein demokratisches Land, mit der ein Dialog über die Aufnahme in die NATO oder gar EU geführt werden muss. Und wenn ein anderes Land seine Interessen verteidigt, das Recht seiner Bürger auf Leben verteidigt, 80 unserer Leute wurden sofort getötet, 2000 aus der zivilen Bevölkerung wurden getötet und wir dürfen unsere Bürger dort nicht schützen? Und wenn wir das machen, dann nimmt man uns die Wurst weg? Wir haben die Wahl Wurst oder Leben. Wir wählen das Leben, Herr Roth.
Jetzt über den anderen Wert: Pressefreiheit. Sehen Sie nur wie diese Ereignisse in der amerikanischen Presse beleuchtet werden, die als leuchtendes Beispiel der Demokratie gilt. Und in der europäischen ist es ähnlich. Ich war in Peking, als die Ereignisse anfingen. Massierter Beschuß von Zchinwali, Anfang des Vorstoßes der georgischen Truppen, es gab sogar bereits vielfache Opfer, es hat keiner ein Wort gesagt. Auch Ihre Anstalt hat geschwiegen, alle amerikanischen Anstalten. So als ob gar nichts passiert. Erst als der Agressor „in die Fresse“ bekam, “Zähne rausgeschlagen” bekommen hat, als er seine ganze amerikanische Ausrüstung aufgegeben und ohne Rücksicht gerannt ist, haben sich alle erinnert. An das internationale Völkerrecht, an das böse Rußland. Da waren alle wieder auf der Stelle. Wieso eine solche Willkür [in der Berichterstattung]?
Nun zur „Wurst“: Wirtschaft. Wir wollen normale, wirtschaftliche Beziehungen zu allen unseren Partnern. Wir sind ein sehr zuverlässiger Partner, wir haben noch nie einen Partner betrogen. Als wir Anfang der 60er die Pipeline in die BRD gebaut haben, hat unser transatlantischer Partner den Deutschen geraten, diesem Projekt nicht zuzustimmen. Sie müssen das ja wissen. Damals hat die Führung Deutschlands die richtige Entscheidung getroffen und die Pipeline wurde zusammen mit der Sowjetunion gebaut. Heute ist eine der zuverlässigsten Gas-Quellen für die deutsche Wirtschaft. 40 Mrd. m³ bekommt Deutschland jedes Jahr. Und wird es auch weiterhin, das garantiere ich. Sehen wir uns das globaler an. Wie ist die Struktur unseres Exports in die europäischen Länder und auch in die USA? 80 % davon sind Rohstoffe (Öl, Gas, Ölchemie, Holz, Metalle). Das alles ist von der europäischen und Weltwirtschaft in höchsem Maße gefragt. Das sind sehr gefragte Produkte auf dem Weltmarkt. Wir haben auch die Möglichkeiten in hochtechnologischen Gebieten, die sind jedoch sehr begrenzt. Mehr noch, trotz rechtsgültiger Abkommen mit der EU beispielsweise über atomaren Brennstoff, werden wir rechtswidrig vom europäischen Markt ferngehalten. Wegen der Position unserer französischen Freunde. Aber sie wissen davon, wir haben mit denen lange diskutiert. Und wenn jemand diese Beziehungen aufgeben will, dann können wir nichts dagegen machen. Wir wollen das jedoch nicht. Wir hoffen sehr, dass unsere Partner ihre Pflichten genauso erfüllen, wie wir unsere.
Das war über unseren Export. Was Euren Export, also unseren Import, angeht, so ist Rußland ein sehr zuverlässiger und großer Markt. Ich erinnere mich jetzt nicht an genaue Zahlen, Import der Maschinenbautechnologie aus Deutschland wächst von Jahr zu Jahr. Dieser ist sehr groß heutzutage. Und wenn jemand uns nicht mehr beliefern will, dann werden wir das wo anders kaufen. Nur wer braucht das, verstehe ich nicht?
Wir drängen auf eine objektive Analyse der Geschehnisse und wir hoffen, dass gesunder Menschenverstand und die Gerechtigkeit siegen werden. Wir sind das Opfer der Aggression und wir hoffen auf die Unterstüzung unserer europäischen Partner.
Quellen:
Externer Link:
SPIEGEL-Dossier: Russland — Putins Reich