Ölrausch am Nordpol
Wettlauf zu den Energieressourcen der Arktis
Man fühlt sich um mehr als 100 Jahre zurück versetzt in das Ende des 19. Jahrhunderts, als am Klondike in Alaska ein regelrechter Wettlauf in den unwirtlichen arktischen Norden einsetzt. Menschen kämpfen sich über verschneite Pässe, um sich Schürfrechte zu sichern. In einem weitgehend rechtsfreien Raum gilt, wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Das Einschlagen eines Pflockes begründet Rechtsansprüche auf ein auszubeutendes Gebiet.
Ist dies wirklich schon mehr als 100 Jahre her? Da liefert uns das Fernsehen im August Bilder von einer fast 4.000 m unter dem Nordpol in den Meeresboden gesteckten russischen Fahne. »Hier zu förderndes Öl ist russisches Öl«, lautet die subtile Botschaft. Ist dies wirklich so? Gilt auf dem Meeresboden am Pol wie vor hundert Jahren in Alaska das Recht des zuerst Kommenden? Kann man mit dem Einrammen einer Flagge in den Meeresboden die dort liegenden Ressourcen für sich beanspruchen?
Dieser Artikel wird mit freundlicher Genehmigung der “MarineForum — Zeitschrift für maritime Fragen” veröffentlicht.
Interpretierbares Seerecht
Bis in die 50er Jahre ist die Verteilung der Hoheitsgewässer relativ einfach geregelt. Es gilt eine Dreimeilenzone, später eine Zwölfmeilenzone. Außerhalb ist die »Hohe See« für jeden nicht nur frei befahrbar, sondern auch nutzbar, zum Beispiel zum Fischfang. Dann aber werden unter dem Meer Öl und Gas- Vorkommen entdeckt, und es wird die Technologie entwickelt, sie auch aus der Tiefe zu fördern.
1958 einigt man sich in Genf auf die Konvention zum Festlandssockel (Convention on the Continental Shelf). Nun kann ein Staat die auf dem Festlandssockel vor seiner Küste im Meer (Fische) oder unter dem Meeresboden (Mineralien, fossile Brennstoffe) befindlichen Ressourcen sein eigen nennen. Das definierte Gebiet reicht zunächst einmal bis zu einer Wassertiefe von 200 m.
So weit so gut; das scheint erst einmal eindeutig, auch wenn die Verteilung doch sehr ungleich ausfällt. Während vor der Küste einiger Länder der Meeresboden gleich steil abfällt, ist im Norden Russlands der sibirische Festlandssockel an manchen Stellen sogar 1.500 km breit. Flache Meere wie z.B. die Nordsee müssen zwischen den Anliegernationen in z.T. sehr kontroversen Verhandlungen aufgeteilt werden.
Streit entzündet sich dann an einem Nebensatz. Da heißt es bei der Definition des Festlandssockels auch »… oder, über diese (200-m-Linie) hinaus bis zu einer Tiefe, in der (dem Küstenstaat) noch ein Abbau der Ressourcen möglich ist«. Damit gilt nun also de facto: je fortschrittlicher z.B. die Ölfördertechnologie, desto größer der territoriale Anspruch. Nun sehen sich plötzlich die technologisch in der zweiten Reihe stehenden Länder im Nachteil. Wo sie selbst die Ressourcen nicht nutzen können, dürfen sich ungehindert Andere gütlich tun.
Die 1973 einberufene UN-Seerechtskonferenz (UNCLOS) will u. a. auch diese Probleme lösen. Nach neun Jahren kontroverser Diskussionen verabschiedet sie 1982 das Seerechtsübereinkommen (SRÜ), das verschiedene, teils sich überschneidende Zonen für die Ausübung der Hoheitsgewalt und die Ausbeutung von Ressourcen definiert. Nun darf ein Küstenstaat in einer bis zu 200 sm auf See reichenden Ausschließlichen Wirtschaftszone (AWZ, engl.: Exclusive Economic Zone – EEZ) allein (eben ausschließlich) über die natürlichen Ressourcen, also Meeresbewohner und Bodenschätze, verfügen und deren wirtschaftliche Nutzung steuern.
Außerhalb dieser definierten Zone beginnt internationales Gebiet, in dem grundsätzlich jeder Zugang zu dort lagernden Ressourcen hat. Wer hier Mineralien oder fossile Brennstoffe fördern will, meldet seinen »Claim« bei der International Seabed Authority (ISA) an, die in diesem Gebiet als quasi internationale Behörde deren Abbau organisiert und überwacht. Damit scheinen nun alle Unklarheiten beseitigt. Das Abkommen wird denn auch von mehr als 150 Staaten ratifiziert und ist in diesen seit 1994 geltendes Recht. Leider zeigen sich im Gesetzestext dann aber doch wieder Ungereimtheiten. Gerade die Nutzung der AWZ dominiert bis heute seerechtliche Streitigkeiten. Probleme gibt es z.B. an Meerengen und Randmeeren, wo gar kein 200 sm breiter freier Seeraum vorhanden ist.
Aber auch an anderen Stellen überlagern sich Ansprüche, und diese begründen sich ausgerechnet im SRÜ, das doch eigentlich Klarheit schaffen soll. Die »Crux« findet sich im Artikel 76, der breiten Spielraum für Interpretation bietet. Hier ist nämlich plötzlich auch noch die Rede von einem »geologischen Kontinentalschelf«, der die untermeerische Fortsetzung des Festlandes darstellt und somit zur Wirtschaftszone eines Staates dazugerechnet werden müsse. Auch hier besteht »das Recht, Mineralien und nicht-lebende Ressourcen« (Fischfang ist also ausgenommen) abzubauen, und »andere Staaten dabei auszuschließen«.
Dieser geologische Kontinentalschelf ist die »natürliche Fortsetzung der Landmasse bis zur äußeren Grenze des Kontinents«. Das SRÜ liefert auch eine – komplizierte – Formel für die Bestimmung der Ausdehnung dieses Gebietes, aber auch bei deren Anwendung bleiben die geografischen Grenzen nur sehr unscharf. So ist nicht verbindlich definiert, was genau unter »Fortsetzung der Landmasse« zu verstehen ist. Ist dies »morphologisch« zu sehen, gilt also überall dort, wo der Meeresboden der Form der Landmasse folgt? Oder »geologisch«, d.h., die geologische Beschaffenheit des Meeresbodens entspricht der der Landmasse? Oder »tektonisch«, d. h., Steine am Meeresgrund haben den gleichen erdgeschichtlichen Ursprung wie Steine an Land? Welcher dieser Faktoren kann einen rechtlichen Anspruch auf die Ausbeutung von Ressourcen begründen?
Da dies nicht eindeutig geklärt ist, pickt sich zunächst einmal jede Nation für sich »die Rosinen« heraus, und hier begründen sich auch die aktuellen Expeditionen in die Arktis. Nach der SRÜ-Formel kann die Grenze des geologischen Kontinentalschelfs nämlich bis zu 100 sm jenseits der 2.500-m-Wassertiefenlinie liegen, reicht also bis weit in die Tiefsee hinein.