Lateinamerika (Einführungsdossier)

 

 

Wenn man die Entwick­lung der let­zten Jahrzehnte zusam­men fassen will, dann kann man für ganz Lateinameri­ka etwa fünf Wach­s­tum­sphasen erkennen: 

  • von 1998 bis etwa 2002 bestand eine rel­a­tiv krisen­hafte Phase der Rezes­sion, in der der gesamte lateinamerikanis­che Wach­s­tum im jährlichen Durch­schnitt nur etwa 1,3 % betrug — bei über­steigen­dem Bevölkerungswach­s­tum fol­gte daraus eine Reduzierung des durch­schnit­tlichen Pro-Kopf-Einkom­mens um jährlich 0,4 %; Brasilien (1998/99), Chile und Venezuela (1999) und Argen­tinien und Uruguay (2001/2002) hat­ten mas­sive Probleme.
  • Danach fol­gte von 2003 ab eine starke Wach­s­tum­sphase mit einem jährlichen Durch­schnittswach­s­tum von 5 bis 6 %; im Jahre 2007 erre­icht­en alle lateinamerikanis­chen Län­dern ein gemein­sames Wirtschaftswach­s­tum von über 5,5 %. Dieses Wach­s­tum war vor allem durch die explodieren­den Rohstoff­preise verur­sacht. Dazu kam ein weltweit sink­endes Zin­sniveau, das zu Kap­i­tal­strö­men nach Lateinameri­ka führte. Diese Kap­i­talzus­tröme wur­den zur vorzeit­i­gen Rück­zahlung der Staatss­chulden (auf etwa 20 % des BIP) und zur Auf­s­tock­ung von Devisen­re­ser­ven genutzt. “Wenn sich dieses Wach­s­tum auch im Jahr 2008 erre­ichen lässt, dann hät­ten die Staat­en inner­halb von nur 5 Jahren einen Wirtschaft­szuwachs von mehr als 30 % erre­icht. Der IWF erwartete für 2008 in Chi­na ein Wach­s­tum von 10 %, in Rus­s­land von 6,8 % und für Südameri­ka zwis­chen 4,5 und 5 %.”  schrieben wir an dieser Stelle 2007.
  • Ab 2008/2009 führte die in den USA aus­gelöste Welt­fi­nanzkrise allerd­ings zu Rückschlä­gen. Zunächst (2008) war sog­ar ein weit­er­er Kap­i­talzu­fluss in Reko­rd­höhe von 128 Mrd. US-$ zu verze­ich­nen. Allerd­ings musste zugle­ich schon eine Reduzierung der Aus­landsin­vesti­tio­nen in Mexiko sowie dem anschließen­den Mit­te­lameri­ka und der Karibik verze­ich­net wer­den — den tra­di­tionellen Investi­tion­splätzen der USA. Das Han­delsvol­u­men mit den USA ging mas­siv zurück, das Han­delsvol­u­men mit der EU stag­nierte — und die asi­atis­chen Län­der, aber auch die Bin­nen­nach­frage began­nen, den Platz der US-Nach­frage einzunehmen. Das the­o­retis­che Konzept der “BRICS-Staat­en” schien sich auch in der Prax­is zu bewähren.
  • 2010/2011 kon­nten sich die Lateinamerikanis­chen Staat­en von dieser glob­alen Krise abkop­peln und an die “Vorkrise­nen­twick­lung” anknüpfen. Während die USA und Europa ein Jahreswach­s­tum von rund 1 % hat­ten, erre­ichte Lateinameri­ka im Schnitt wieder Wach­s­tum­srat­en von ~ 6 % (2010) und immer noch über 4 % (2011). Die Nach­frage der asi­atis­chen Staat­en — und die Expan­sion der Bin­nen­nach­frage führten zu diesem Ergeb­nis. Vor allem Län­der mit ein­er diver­si­fizierten Export­struk­tur, ein­er starken Reg­ulierung des Bank- und Finanzwe­sens, gerin­gen Ver­schul­dung, ein­er vor­sichti­gen Finanzpoli­tik, gerin­ger­er außen­wirtschaftlich­er Bindung an die USA und wach­sender Bin­nen­nach­frage kon­nten sich der glob­alen Finanzkrise entziehen. Gle­ichzeit­ig wur­den auch chi­ne­sis­che Inve­storen in Südameri­ka aktiv. Ins­ge­samt 31 Mrd. $ wur­den 2010 von Chi­na nach Lateinameri­ka geschickt, ins­beson­dere nach Brasilien und Peru (jew­eils 4,5 Mrd. $), Mexiko 81 Mrd. $), Venezuela und Chile. 
  • Ab 2012 erlahmte die eigen­ständi­ge Entwick­lung: das durch­schnit­tliche Wirtschaftswach­s­tum lag mit 3 % (eben­so 2013) zwar noch immer deut­lich über dem Ergeb­nis der Weltkon­junk­tur, aber doch auch unter der Erwartung. Chi­nas reduziertes Wach­s­tum führte zur gerin­geren Nach­frage — und die Erhol­ung in den USA und Europa (2013) führte dazu, dass Finanz­in­ve­storen ihre Anlagemöglichkeit­en wieder ver­mehrt in diesen Staat­en sucht­en — was zu einem mas­siv­en Druck auf die Währungskurse der lateinamerikanis­chen Währun­gen führte. Mit Aus­nahme von Brasilien wur­den die lateinamerikanis­chen Län­der von Inve­storen eher gemieden. Von den aus­ländis­chen Net­toin­vesti­tio­nen von 189 Mrd. $ (2012) wur­den 2/3 in Brasilien getätigt. Lediglich Chile scheint in den Augen der aus­ländis­chen Geldge­ber noch eine sta­bile Aus­gangs­ba­sis für lukra­tive Investi­tio­nen zu bieten. 
  • Die Aus­nahme Chile kann heute (2013) auf 3 Jahrzehnte sta­bile Wirtschaft­sen­twick­lung zurück­blick­en, bei ein­er durch­schnit­tlichen jährlichen Zuwach­srate von über fünf Prozent. 

Dabei bleibt fest zu stellen, dass die Sta­bil­isierung der Exportwirtschaft ins­beson­dere durch einen “Wech­sel der Kund­schaft” begrün­det ist. Der Anteil der USA reduzierte sich zwis­chen 1995 und 2010 um ca. 20 %. Der Anteil Europas blieb gle­ich, der Anteil der asi­atis­chen Län­der, ins­beson­dere Chi­nas, wuchs dage­gen entsprechend. Der Han­del zwis­chen Chi­na und Lateinameri­ka wuchs im Ver­gle­ich­szeitraum jährlich um 20 — 30 %.  2013 nahm Chi­na knapp 10 % der lateinamerikanis­chen Exporte ab — und für Brasilien und Chile (die bei­den sta­bil­sten Län­der der Region) ist Chi­na inzwis­chen der wichtig­ste Außen­han­delspart­ner, in Argen­tinien und Peru zweitwichtig­ster Han­delspart­ner gewor­den. Chi­nas Anteil am Außen­han­del liegt für Chile bei 22,8 %, Brasilien 17,3 %, Kuba bei 22,8 %, für Peru bei 15,3 % und für Venezuela bei 10,5 % (Stand 2011).

Lateinameri­ka zählt also glob­al zu den pros­perieren­den Wach­s­tums­ge­bi­eten — dicht hin­ter Chi­na, Indi­en und Rus­s­land. Kupfer aus Chile, Öl aus Venezuela, Eisen­erz aus Brasilien und Sojabohnen aus Argen­tinien — das sind nur einige der Pro­duk­te, die von den rohstof­fgieri­gen Staat­en Ost- und Südasiens immer mehr nachge­fragt werden.

Vor allem Brasilien wird seit der Amt­süber­nahme von Präsi­dent Luiz Iná­cio Lula da Sil­va im Jahr 2003 immer mehr zum Wirtschaftsmo­tor für ganz Lateinameri­ka. Die Infla­tion und das damit ver­bun­dene hohe Zin­sniveau kon­nten eingedämmt wer­den, was wiederum die pri­vate Nach­frage erhöhte. Brasilien befind­et sich dabei in Ein­klang mit Rus­s­land, Indi­en und Chi­na — und zählt zu den BRIC-Staat­en, die von Volk­swirtschaftlern und Invest­ment­ber­atern als “Mächte der Zukun­ft” beze­ich­net wer­den. Die Volk­swirtschaften dieser Staat­en ergänzen sich in nahezu ide­al­er Weise — sie wer­den daher häu­fig als “kom­ple­men­tär” beze­ich­net. Chi­na benötigt Ressourcen und Absatzmärk­te, Lateinameri­ka Absatzmärk­te und Investi­tio­nen. Rus­s­land wieder kann den südamerikanis­chen Län­dern mit tech­nol­o­gisch hochw­er­ti­gen Pro­duk­ten — ins­beson­dere auch im Waf­fensek­tor — preiswerte Alter­na­tiv­en zu west­lichen Sys­te­men bieten.

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