“Früher hieß es, wenn die USA verschnupft sind, dann hat Brasilien eine schwere Grippe. Doch nun leiden die USA und Europa an einer Lungenentzündung — und Brasilien hat nicht einmal einen Schnupfen. Das Land wirkt derzeit wie eine Insel der Ruhe in einer kriselnden Weltwirtschaft.”
(WirtschaftsWoche Nr 51 v. 19.12.2011)
“Brasilien wid bald zu den fünf größten Wirtschaftsmächten weltweit gehören. Das Land von kontinentaler Größe verfügt über Trümpfe, die in de Weltwirtschaft wichtig gewirden sind.
Mit Öl und Biotreibstoffen, mit Wasser- und Atomkraft, mit Sonnen- und Windenergie ist Brasilien auf dem Weg zur Energie-Großmacht. Die gewaltigen Rohstoffvorkommen und das landwirtschaftliche Potential machen es zu einem führenden Lebensmittelproduzenten und industriellen Zulieferer der Weltwirtschaft. 190 Millionen Brasilianer bilden einen großen Binnenmarkt, der die Wirtschaft in einer unsicheren Weltwirtschaft stabilisiert. Private, staatliche und ausländische Unternehmen arbeiten dort nebeneinander — von Kleinbetrieben bis zu Großkonzernen mit eigener Forschung, eigenen Prdukten und Marken. .…”
(Alexander Busch, “Wirtschaftsmacht Brasilien”, Hanser-Verlag 2011)
c) Industriealisierung und Wirtschaftsentwicklung:
Brasiliens Industriealisierung begann als Folge des zweiten Weltkriegs. 1941 — als der Hunger nach Stahl immer größere Formen annahm — finanzierten die USA das riesige Stahlwerk Volta Redonda in der Nähe von Rio de Janeiro, mit dem die Industriealisierung Brasiliens neue Formen annahm. Dennoch war Brasilien über lange Jahre hin vor allem eines: Rohstofflieferant für Nordamerika. Brasilien sicherte den USA noch im zweiten Weltkrieg seine gesamte Produktion von Bauxit, Beryllium, Eisen, Nickel, Industriediamanten, Mangan, Glimmer, Quarz, Kautschuk und Titan zu und erhielt dafür Waffen und Ausbauhilfe für seine Streitkräfte. Symbol für diese “Lieferantenrolle” isnd Bergbaukonzerne wie die Firma “Companiha Cal do Rio Doce” (CVRD), die sich in den ersten Jahren seiner Existenz vor allem um die Erschließung und Ausbeutung der reichen Rohstofflager des Landes bemühte. Die Investitionen von CVRD gehen heute nicht nur in die Erschließung und Förderung von Rohstoffen, sondern einen weiteren Schritt weiter.
Wertschöpfungskette im eigenen Land fördern:
In Zusammenarbeit des größten Bergbaukonzerns Brasuliens — Tinto — mit deutschlands größten Stahlkocher Thyssen Krupp entstand — wie bereits gesagt — für 5,2 Mrd. € in Sepetiba in der Nähe von Rio de Janeiro ein Stahlwerk mit Hafen, Kokerei und Kraftwerk, um auch an der Veredelung der Erzvorkommen profitieren zu können. Die Hütte mit 5 Mio. t. Jahreskapazität sollte von 2009 oder 2010 an rd. 2 Mio. t. Stahlbrammen nach Deutschland und rd. 3 Mio. t. in die Walzwerke der Nafta-Wirtschaftsgemeinschaft, vor allem in die USA, liefern. Sie kann als Beispielhaft für die internationale Zusammenarbeit gelten, die Brasilienvom Rohstofflieferanten zu einer verarbeitetenden Wirtschaftsmacht wandelt. So waren u.a. Hochtief und MAN Ferrostahl beim Bau der gewaltigen Anlage involviert. Der brasilianische Rohstoffkonzern Vale zählt zu den drei größten Erzproduzenten weltweit. Die Förderung aus dem Bundesstaat Minas Gerais wird über das Meer — mit eigenen Schiffen — bzw. mit der Bahn angeliefert (wobei Vale ein Großteil der brasilianischen Eisenbahnlinien in seinem Besitz hat). Der deutsche Stahlkocherkann sich mit diesem Joint venture gegen die steigenden Rohstoffpreise absichern — und zugleich mit einem neuen Stahlwerk näher “am Kunden” produzieren, mit einem Stahlwerk, das trotz der massiven Kostenüberschreitungen beim Neubau wohl immer noch deutlich günstiger errichtet werden konnte als eine vergleichbare Anlage in Deutschland.
Rund 50 km von Rio de Janeiro wurde das flache Marschland der Bucht von Sepetiba in Santa Cruz als Standort der knapp 10 km² großen Mammutanlage (im Umfeld einer zwaznzig Jahre vorher sillgelegten Zinkanreicherungsanlage) ausgewählt. Die geschätzten Kosten haben sich bis zur Inbetriebnahme der Anlage mehr als verdoppelt — denn tragfähiger Boden konnte erst in einer Tiefe von über 30 m unter dem sumpfigen Mangrovengebiet gefunden werden.
Eine rund 3 km lange Hafenpier mit zwei 90 m hohen, in China gefertigten Entladebrücken dient der Anlandung von 4 Millionen Jahrestonnen Kohle — und dem Abtransport von Rohstahlbrammen. Die Kohle wird nach der Anlieferung über Förderbandanlagen direkt in eine Kokerei (2 Mio. t. Jahreskapazität Koks), verbracht, die vom chinesischen Citic-Konzern errichtet wurde. Von da wird Koks weiter in zwei gewaltige Hochöfen transportiert, die von Spezialisten aus Luxemburg gebaut wurden und zusammen eine Jahreskapazität von 5 Millionen Tonnen Stahl haben. Dabei werden die gleichen Umweltschutzstandards (Kontroll- und Filtersysteme) verwendet, die auch in Deutschland angewandt werden. So werden die in Kokerei, Hochöfen und dem Stahlwerk entstehenden Prozessgase in einem eigenen Kraftwerk (mit Gasturbinen der französischen Alstom und einer Leistung von knapp 500 Megawatt) verstromt. Die Hälfte der so gewonnenen Energie kann in das nationale Stromnetz abgegeben werden und dient u.a. der Versorgung der nahen Millionenstadt Rio de Janeiro.
Mit der Herstellung von Stahl-Brammen wird das brasilianische Interesse an der Abschöpfung der Produktionskette kein Ende haben. Nur zwei Jahre nach der Inbetriebnahme des Stahlwerks wird immer lauter über eine Erweiterung nachgedacht — nun ist ein Walzwerk im Gespräch, das u.a. Bleche für die brasilianische Autoindustrie, Stahlplatten für die neuen Werften und (natürlich) Baustahl für die zahlreichen Baustellen des Landes herstellen soll.
Thyssen Krupp reiht sich dabei nahtlos in eine Reihe namhafter Unternehmen ein — seit Mitte der Neunziger Jahre gehört Brasilien mit China zu den Staaten mit den höchsten ausländischen Direktinvestitionen. Begünstigt wird dies durch eine rigide Abschottungspolitik der brasilianischen Regierung: wer im brasilianischen Markt uneingeschränkt tätig sein will, der muss auch Technologie mitbringen, und in Forschung und Arbeitsplatze im Lande investieren. 35 Milliarden Dollar wurden 2007 als Nettodirektinvestitionen in Brasilien angelegt — ein Wert, der den Vergleich mit China und Indien nicht zu scheuen braucht. Nachdem die Fabriken die Auslastung (August 2004: > 80 %) mit Zusatzschichten steigern konnten, hat der Aufschwung inzwischen auch den Arbeitsmarkt erfasst. Bis zum August des Jahres 2004 konnte die Beschäftigungsquote in der Industrie um 5,2 Prozent gesteigert werden, eine Jahresprognose (2005) von über 7 Prozent Beschäftigungszuwachs wurde gestellt, und das bei in gleicher Größenordnung steigenden Löhnen, die damit einen vollen Inflationsausgleich ermöglichten.
Seit 2002 wächst das BIP des Landes schneller als die Bevölkerung — in den Jahren von 2003 bis 2011 (trotz der globalen Wirtschaftskrise) konnte Brasilien ein Wirtschaftswachstum von durchschnittlich 4 Prozent erreichen. Brasiliens Wirtschaftswachstum wird zunehmend durch die Binnennachfrage angekurbelt. In der ersten “Dekade” des Jahrhunderts wurden über 20 Millionen Arbeitsplätze geschaffen und die Arbeitslosenquote um 5,2 % gesenkt. Gleichzeitig stieg der gesetzliche Mindestlohn um knapp 75 %. Sinkende Arbeitslosigkeit führt zu steigenden Löhnen — und die gezielte Unterstützung der armen Bevölkerungsgruppen durch Sozialprogramme (die durch die hohen Staatseinnahmen bei steigendem Wirtschaftswachstum finanziert werden können) haben die Mittelschicht gestärkt. Nach brasilianischen Maßstäben gehören inzwischen 120 Millionen der (fast) 190 Millioonen Einwohner (Stand 2011) zur stetig wachsenden Mittelschicht. Immer mehr Menschen in Brasilien können sich immer mehr leisten. Brasilien gehört bei so unterschiedlichen Gütern wie Computern oder Kosmetik inzwischen zu den größten Absatzmärkten weltweit. Und Brasilien gehört weltweit zu den zehn größten Wirtschaftsmächten.
Tatsächlich verfügt Brasilien inzwischen über mehrere “Cluster”, also verschiedene Wirtschaftszentren.
Rio de Janeiro wurde dank der vor der Küste liegenden Ölvorkommen zum Energie- und Ölzentrum, wobei im Süden, im Südosten und Nordosten Brasiliens schon seit den 70er Jahren drei große Raffinieriezentren entstanden.
Sao Paulo ist nicht nur die Stadt mit den Niederlassungen von über tausend deutschen Konzernen, sondern Finanz- und Börsenzentrum. Diese Branche profitiert von der ab 1995 aufgetretenen “brasilianischen Bankenkrise”, die zur Stärkung der brasilianischen Banken unter schärferer Finanzkontrolle führte. Die seinerzeit in Brasilien erprobten Rezepte werden heute (2011) auch wieder in Europa diskutiert und von der EZB angewandet. Die aus der Krise gestärkt hervorgegangenen brasilianischen Banken wie Bradesco (Marktkapitalisierung: ca. 80 Mrd. $) oder Itaú Unibanco (die aus der Fusion von Itaú und Unibanco entstandene Holding ist mit einer Marktkapitalisierung von 110 Mrd. $ bewertet) gehören heute (2011) zu den weltweit größten und wichtigsten Finanzinstituten.
Santos ist einer der geschäftigsten Umschlagplätze im Süden des Doppelkontinents.
Um die Freihandelszone von Manaus entwickelt sich ein gewaltiges Industriezentrum, und
die Rohstofflager von Belo Horizonte haben zur Entwicklung der dortigen Stahl- und Schwerindustrie beigetragen.
Problem Bildung:
Mitte des 20. Jahrhunderts wurde Brasiliens erste Universität gegründet. Und das dokumentiert auch Brasiliens eigene Probleme. Erst unter der Ägide von Präsident Lula wurde massiv in die Bildung investiert. 18 neue Universitäten, fast 300 technische Berufsschulen (bis dahin waren nur 140 in Betrieb) dokumentieren das Bestreben des Landes, aufzuholen. Und es erklärt auch, warum Brasiliens in der Wirtschaftskrise der letzten Jahre für die arbeitslosen Intellektuellen aus Portugal zu einem begehrten Auswanderungsland wurde.