Lateinamerika — Argentinien (Argentina)

 

Argentinien

Wirtschaftliche Entwick­lung:
Argen­tinien unter­schei­det sich von vie­len Entwick­lungsstaat­en, da seine Ausstat­tung mit Pro­duk­tions­fak­toren eher der­jeni­gen eines Indus­tri­es­taates entspricht. So ver­fügt Argen­tinien über das größte südamerikanis­che Eisen­bahn­netz, das von der Haupt­stadt bis nach Patag­o­nien im tief­sten Süden das Land erschließt. Diese guten Voraus­set­zun­gen kon­nten jedoch nur unzure­ichend in eine dauer­hafte wirtschaftliche Entwick­lung umge­set­zt wer­den. So wird Argen­tinien als mod­ernes aber nur eher teil­weise entwick­eltes Land bezeichnet.

In den 90er Jahren war Argen­tinien ein Muster­schüler des Inter­na­tionalen Währungs­fonds (IWF).

Zwis­chen 1998 und 2002 hat die argen­tinis­che Wirtschaft eine vier­jährige Phase tiefer Rezes­sion durch­laufen. Gle­ichzeit­ig wurde ver­sucht, mit dem 1:1 Kurs des Peso zum US-$ wirtschaftliche Sta­bil­ität vorzutäuschen. In Wirk­lichkeit wurde durch die völ­lige Über­be­w­er­tung des argen­tinis­chen Peso der Export argen­tinis­ch­er Waren und Dien­stleis­tungne unnötig ver­teuert, während gle­ichzeit­ig Luxu­s­güter aus den Indus­tri­es­taat­en des Nor­dens — aus den USA und Europa — den heimis­chen Markt über­schwemmten. Dadurch brach die argen­tinis­che Wirtschaft zusam­men.  Angesichts der schw­er­sten Wirtschaft­skrise sein­er Geschichte hat­te Argen­tinien am 23. Dezem­ber 2001 den Staats­bankrott erk­lärt und die Schulden­til­gung aus­ge­set­zt. Es war der größte Zahlungsaus­fall eines Staates in der neueren Geschichte. Die fol­gende Abw­er­tung führte zum Ver­lust von einem Wert von 2/3 der Bankguthaben. Die Inhab­er der Anlei­hen des südamerikanis­chen Staates erhiel­ten seit­dem wed­er Zins- noch Tilgungszahlun­gen. Als Folge von poli­tis­ch­er Insta­bil­ität, Ver­trauensver­lust der Märk­te, Ein­frieren der Bankkon­ten, par­tieller Zahlung­se­in­stel­lung, Abw­er­tung Ende 2001/Anfang 2002 ging das Brut­toin­land­spro­dukt (BIP) im Jahre 2002 um ca. 11 % zurück. Bauin­dus­trie, Finanzin­sti­tu­tio­nen, Fis­cherei und Han­del waren dabei die Sek­toren mit dem stärk­sten Abschwung. 

Der IWF und pri­vate Gläu­biger schlossen den Geld­hahn. Dann kol­la­bierte das lokale Finanzsys­tem und damit die langjährige 1:1‑Bindung des Pesos an den Dol­lar. Die Abw­er­tung war trau­ma­tisch, denn die Wirtschaft war zu einem hohen Grad „dol­lar­isiert“. Fast alle Verträge, von Pri­vatisierungsverträ­gen des Staates bis hin zu Mietverträ­gen mussten annul­liert wer­den. Viele Unternehmen mit Devisen­schulden im Aus­land melde­ten Konkurs an. Die Arbeit­slosigkeit schnellte hoch, die Armut­squote stieg auf über 50 Prozent.

Seit dem vierten Quar­tal 2002 hat eine kont­nuier­liche Erhol­ung einge­set­zt. Für 2003 ergab sich eine Zunahme des Brut­toin­land­spro­duk­ts um 8,7 %. „Argen­tinien kehrte schneller zum Wach­s­tum zurück als erwartet“, urteilt der IWF Anfang des Jahres 2005 in ein­er Lateinameri­ka-Studie. Nach Wach­s­tum­srat­en von fast zehn Prozent schätzt die Dres­d­ner Bank Lateinameri­ka das Plus für 2005 auf sechs Prozent.

Größte Umschul­dung der Finanzgeschichte – ein Weg aus der Krise?
Nach schwieri­gen Ver­hand­lun­gen kon­nte das Land im Feb­ru­ar 2005 seine Pri­vat­gläu­biger von der Umschul­dung überzeu­gen. Ungeachtet der mas­siv­en Wertein­bußen haben mehr als drei Vier­tel aller Besitzer argen­tinis­ch­er Staat­san­lei­hen in das umstrit­tene Umschul­dungsange­bot des südamerikanis­chen Lan­des eingewil­ligt. Die Regierung in Buenos Aires kon­nte glaub­haft machen, dass es kein anderes, besseres Umschul­dungsange­bot geben werde. Die Inve­storen hat­ten keine andere Wahl, als zu verkaufen oder zu tauschen.
Dabei wer­den alte Anlei­hen durch neue mit gerin­gerem Wert und niedrigeren Zin­szahlun­gen sowie län­geren Laufzeit­en erset­zt. Die (meist ital­ienis­chen) Anleger ver­lieren dabei rund 75 Prozent ihrer Ansprüche. Trotz­dem haben 76,07 Prozent der Bond-Hal­ter dem Umtausch zuges­timmt, nach Angaben von Regierungsmi­tar­beit­ern kon­nte Argen­tinien seine Staatss­chulden damit von 191 Mil­liar­den Dol­lar (rund 145,3 Mil­liar­den Euro) auf 125 Mil­liar­den Dol­lar reduzieren. Die Außen­stände Argen­tiniens machen zwar immer noch 80 Prozent des Brut­toin­land­spro­duk­ts aus, aber nun kann Argen­tinien die Gespräche mit dem Inter­na­tionalen Währungs­fonds (IWF) über neue Kred­itabkom­men wieder aufnehmen. Gegenüber dem IWF war Argen­tinien nie in Zahlungsrück­stand ger­at­en. Nur kurz vor der Umschul­dung hat­te die Regierung das laufende Kred­itabkom­men mit dem IWF auf Eis gelegt, um sich nicht aus Wash­ing­ton in die Restruk­turierung der Staatss­chulden hineinre­den zu lassen. Zeigt sich der IWF gnädig, stünde Argen­tiniens Wieder­auf­nahme in das inter­na­tionale Finanzsys­tem nichts mehr im Wege.

Seit eini­gen Jahren scheint Argen­tinien wieder auf dem Wacht­sum­sp­fad. Durch die drastis­che Abw­er­tung des Peso wur­den die Exporte (Soja, Weizen, Mais, Fleisch, Fahrzeuge) wieder erle­ichtert. Im Jahre 2006 ere­ichte der Export ein Vol­u­men von 46 Mrd. $. Dazu kom­men steigende Investi­tio­nen im Dien­stleis­tungs­bere­ich. Call­cen­ter sollen bis 2008 rund 60.000 Arbeit­splätze schaf­fen. Die Ver­di­en­ste wer­den nicht mehr auf die “hohe Kante” gelegt, son­dern aus­gegeben. Das Ver­trauen in die Wirtschaft ist bei den Argen­tiniern noch nach­haltig gestört. Für 2007 wer­den 500.000 Neuzu­las­sun­gen an PKWs erwartet, und wer trotz­dem Geld investieren will, der beschafft sich Immo­bilienbe­sitz — oder trans­feriert sein Ver­mö­gen in die USA oder nach Spanien. Dem ste­ht ein umgekehrter Devisen­trans­fer von Aus­län­dern gegenüber, die Traumap­parte­ments in bester Lage für ver­gle­ich­sweise niedrige Preise erwer­ben kön­nen. Der Immo­bilien­markt boomt genau­so wie der Kon­sum. Argen­tinien erzielte im Jahr 2006 ein Wirtschaftswach­s­tum von 9 %. Argen­tinien steuert — wie die meis­ten südamerikanis­chen Län­der — auf einen Energieeng­pass zu. Dies wird nach den Prog­nosen zu ein­er starken Wach­s­tums­bremse für das Land, di sich 2008 bis 2009 entsprechend auswirken wird.

Inzwis­chen (Stand Juli 2007) lei­det die Wirtschaft des Lan­des unter zunehmenden Energieeng­pässen. Vor allem die Stahl- und Chemieind­strie lei­det unter akuten Ratio­nal­isierun­gen. Die Indus­triepro­duk­tion stieg — vor allem auf­grund des Zuwach­ses in der Auto­mo­bilin­dus­trie, der knapp 30 % erre­ichte — im Juni des Jahres 2007 nur noch um 5 % gegenüber dem Stand des Vor­jahres. Daher erwä­gen auch Argen­tinien und Chile — wie Brasilien — den Bau von Atom­kraftwerken. In diesem Zusam­men­hang wird immer öfter erwäh­nt, dass Argen­tinien ein­er der weni­gen Staat­en ist, die in der Lage sind, Uran anzure­ich­ern. Allerd­ings ist ger­ade der teure Bau von Atom­kraftwerken für viele Län­der kaum zu schul­tern. Argen­tinien betreibt zurzeit zwei Atom­kraftwerke: das Werk Atucha 1 (rund 360 Megawatt) in der Prov­inz Buenos Aires und Embalse (600 MW) in der Prov­inz Cór­do­ba. Atucha 1, 1974 als erstes Atom­kraftwerk auf der Süd­hal­bkugel errichtet, wurde von der Siemens-Tocher KWU gebaut. An dem Atom­kraftwerk Atucha 2 in Argen­tinien wird seit 1981 gebaut. Zur Ver­schul­dung des Lan­des hat das AKW bere­its enorm beige­tra­gen, zur Stromver­sorgung allerd­ings noch nichts, da es nach wie vor nicht fer­tig gestellt ist.

Den­noch befürcht­en Ökonomen, dass die Umschul­dungsak­tion Argen­tiniens Ruf an den pri­vat­en Kap­i­talmärk­ten mas­siv beschädigt hat – ohne die struk­turellen Prob­leme zu beheben. Dage­gen ver­weisen Opti­mis­ten auf den Fall Rus­s­land, dass nach dem Rubelkrach und Default 1998 den Ruf des Parias auf den Finanzmärk­ten längst wieder abgelegt hat.

2008 wur­den mehrere Mil­liar­den Dol­lar Aus­land­schulden fäl­lig und nie­mand weiß, woher das Geld für Umschul­dung oder Tilgung kom­men soll. Die Regierung ver­suchte, durch eine Agrar­ex­port­s­teuer die entsprechende Finanzierung sich­er zu stellen. Ab März 2008 kam es durch geplante weit­ere Steuer­erhöhun­gen erneut zu Wirtschaft­stur­bu­len­zen und ein­er poli­tis­chen Krise im Land. Durch hohe Export­s­teuern — ange­blich, um Lebens­mit­tel den Bedürfti­gen des Inlands zukom­men zu lassen — wur­den die Erträge der land­wirtschaftlichen Lat­i­fun­di­en mas­siv reduziert. Im “Verteilungskampf” zwis­chen den Erzeugern aus dem Hin­ter­land und der städtis­chen Elite um Buenos Aires — einem ständi­gen Prob­lem der argen­tinis­chen Volk­swirtschaft — hat­ten sich (wieder ein­mal) die Städter durchge­set­zt, deren  “Abschöp­fungspoli­tik” trotz steigen­der Nach­frage und hoher Preise die Gewinne der Erzeuger zusam­men brechen lässt. Dass die kleinen und mit­tleren Pro­duzen­ten und damit auch die let­zten Reste der Mit­telschicht auf dem Land langfristig ver­schwinden, nahm die Regierung Kirch­n­er in Kauf.