Warnung vor Überhitzung:
Allerdings wird auch vor „Konjunkturdellen“ vor allem in der Automobilindustrie, im Bankenwesen und im Immobiliensektor gewarnt.
Internationale Automobilkonzerne wie Volkswagen, General Motors, BMW und andere hätten die Absicht, die Fahrzeugproduktion von 1,4 auf mehr als 4 Millionen Exemplare jährlich zu steigern, was eine Absatzkrise verursachen könne. Zudem sei das labile Banksystem dank unsicherer, „fauler“ Kredite in marode Staatsunternehmen bedenklich. Die chinesische Regierung hat tatsächlich erst Anfang 2004 begonnen, das Kreditwachstum zu bremsen und auch die Banken auf strengen Wirtschafts- und Ertragskurs zu trimmen.
Inzwischen kann die chinesische Regierung es sich leisten — ja, sie ist fast gezwungen — eine neue Devise auszugeben: nun heisst das Motto “harmonische Gesellschaft” und “nachhaltige Entwicklung”. Problematisch ist vor allem ein immer größerer Mangel an Fachkräften in den Küstenprovinzen. Vor allem in den Städten Peking, Schanghai und Shenzhen werden qualifiierte Fachkräfte heftig umworben. Es gibt rund 800 Millionen Arbeitnehmer in dem riesigen Land, und jedes Jahr verlassen gut vier Millionen Absolventen die Universitäten. Aber nur eine kleiner Teil davon genügt den Anforderungsprofilen der internationalen Konzerne, die Fremdsprachenkenntnisse, Kreativität und Teamfähigkeit nachfragen. Chinas Bildungssysem ist noch auf den alten konfuzeanischen Tugenden aufgebaut — auswendig lernen, die Kopie des Perfekten — das ist wichtiger als Kreativität und Teamarbeit, und Fremdsprachenkenntnisse sind dünn gesät. Demensprechend “teuer” werden qualifizierte Fachkräfte. Dies zwingt Investoren über neue Niederlassungen in anderen Städten und Provinzen nachzudenken.
Um die Entwicklung gezielt zu steuern macht das chinesische Landesamt für Statistik eine
Liste der 100 besten Städte Chinas für Investition bekannt,
die alle deutliche Erfolge bei der Erhöhung der Arbeitseffizienz der Regierung, der Erleichterung des Marktzugangs, der Erweiterung der Finanzdienstleistungen und der Verstärkung des Umweltschutzes erzielt haben. Rund 70 Prozent der Städte auf der Liste befinden sich in Ostchina (Quelle: CRI, 10. Dezember 2006).
Wachstumseinbruch:
In Folge der globalen Finanzkrise 2008 / 2009 erfolgte auch ein Einbruch im Wirtschafswachstum des Landes. Der Nachfragerückgang aus dem Ausland belastet die im Wesentlichen auf Export ausgelegte Wirtschaft Chinas massiv.
Betrug das Wirtschaftswachstum im Jahr 2007 noch 13,0 %, so war 2008 ein Rückgang auf 9,0 % zu verzeichnen — das geringste Wirtschaftswachstum seit 7 Jahren. Mit massiven Zinssenkungen und Erleichterungen für die Hypothekenaufnahme sowie einem gigantischen Infrastrukturpaket von 450 Mrd. € (4 Billionen Yuan — rund 15 % des BIP) für Flughäfen, Eisen- und Autobahnen steuert Peking — das bis 2008 noch vor den ungesunden Folgen des Wachstums warnte — dagegen. Vor allem der Binnenmarkt soll angekurbelt werden. Beinahe täglich wird von Chinas Provinzregierungen und der Zentrale eine neue Investitionswelle angekündigt. Die Auswahl der Empfänger und die Größenordnung der Investitionen für Stromerzeuger (10 Mrd. Yuan) und Telekomnetze (170 Mrd Yuan), das bereits genannte Infrastrukturprogramm oder ein neues Gesundheitssysem (850 Mrd. Yuan bis 2011) zeigen, das Peking gezielt in die weitere Verbesserung der Wirtschaft und damit in die Verbesserung der Lebensbedingungen investiert. Tatsächlich haben diese “Konjunkturspritzen” gewirkt. Nach dem ständigen “Wachstumseinbruch” von 13 % des BIP (gegenüber dem Vorjahr) im 1. Quartal 2007 auf (immer noch stolze) 6 % zum Jahreswechsel 2008/2009 ist wieder ein Wirtschaftswachstum von 12 % im 1. Quartal 2010 (gegenüber dem Vorjahr) geworden. China hat dabei vor allem auch auf eine Stärkung der Binnennachfrage gesetzt (etwa indem deutliche Lohnerhöhungen zugelassen wurden), um die Exportabhängigkeit zu reduzieren — gleichzeitig aber durch die Koppelung des Renminbi an den US-Dollar die eigenen Exportindustrie gestützt. So ist es China gelungen, im Laufe des Jahres 2008 den “Exportweltmeister Deutschland” mit einem Exportvolumen von weit über 900 Mrd. Euro zu überholen. Chinas Banken haben dieses Konjunkturprogramm durch lockere Kreditgewährungen unterstützt. Die Darlehensvergaben stiegen von 3.146 Mrd. Yuan (2006) über 3.534 Mrd. Yuan (2007) und 4.904 Mrd. Yuan (2008) auf 9.577 Mrd. Yuan (2009). Bankexperten befürchten, dass ein großer Teil dieser Kredite “faul” sind und nicht zurückgezahlt werden können.
Besondere Sorge bereiten dem Staatsrat und dem Zentralkomitee der Kommunistischen Parteioffenbar die auf 130 Millionen Menschen geschätzten Wanderarbeiter, deren Existenz durch die Folgen der globalen Finanzkrise gefährdet ist. Rund 20 Millionen sollen nach der Urlaubspause zum Jahreswechsel in 2009 bereits ihre Stellen verloren haben. Es handelt sich vielfach um Bauern aus dem Umkreis der wachsenden Städte, die ihre Felder mehr oder weniger freiwillig und oft ohne genügende Kompensation an Immobilieninvestoren veräußer mussten. Jeder Prozentpunkt Produktivitätssteigerung kostet nach einer Berechnung des Landwirtschaftsministeriums drei weitere Millionen Bauern die Ackerflächen. Eine zweite große Gruppe sind die Landbewohner aus den inneren Provinzen, die durch die Umweltbedingungen der ohnehin kargen Scholle nichts mehr abgewinnen konnten und die nun ihr Glück in den Boomcentern des Landes versuchten und sich in den Städten auf Baustellen und in Fabriken als Tagelöhner um ein Auskommen bemüht. Das jährliche Pro-Kopf-Einkommen auf dem Land ist in den letzten Jahren dank solcher Tätigkeiten auf etwa 500 Euro gestiegen. Nach einer Schätzung des Staatlichen Forschungszentrums für Landwirtschaft stammten im Jahr 2008 vierzig Prozent der Einkünfte auf dem Land von dieser Gruppe, die offiziell auch immer noch dem jeweiligen Herkunftsort verbunden ist. Anspruch auf Unterkunft, Krankenversorgung, auf Kindergarten- und Schulbesuch für die Kinder dieser Tagelöhner besteht nur im jeweiligen Herkunftsort.
Weitere “Sorgenfalten” bereite der chinesichen Regierung die Explosion der Häuserpreise — droht hier eine Immobilienblase ähnlich dem Debakel in den USA?
Die Krise bietet Peking aber auch die Chance, Folgen des vorhergehenden ungesunden Wachstums zu beseitigen. So können — bei krisenbedingt geringerer Energienachfrage — die veralteten und umweltschädlichen Kohlekraftwerke vom Netz genommen und erneuert oder umgerüstet werden.
Ein weiteres bemerkenswertes Detail sei hier nur am Rande festgestellt: Trotz des oben geschilderten Einbruchs des BIP in den Jahren 2007 und 2008 ist der durchschnittliche Jahreslohn in der verarbeitenden Industrie in China seit Jahren steil angestiegen, von etwas über 1.000 € (im Jahre 2000) auf 3.050 € im Jahr 2009. China ist nicht mehr die “Billigwerkbank”. Gerade in den boomenden Küstenprovinzen werden qualifizierte Arbeitskräfte knapp — das stärkt die Arbeiter bei den Lohnforderungen. Und die Streikbereitschaft der Arbeiter nimmt zu. Nach Angabe der “NGO” China Labour Bulletin wurden im Jahr 2008 rund 127.000 Proteste von Arbeitnehmern gezählt. “Die Unterdrückung von Arbeiterorganisationen wie vor zehn Jahren sehen wir heute nicht mehr” - so zitiert die FTD Georfry Crothall von China Labour Bulletin. Die “Billigindustrie” wechselt dagegen den Standort — von den “teuren Küstenprovinzen” zunehmend ins Hinterland, was auch dort zur Entwicklung beiträgt.