Aleviten — ein anderer Islam:
Die dem Islam angehörenden Türken sind Sunniten — in der Mehrheit: eine nicht ganz kleine Minderheit der Türken (Schätzungen sprechen von etwa einem Fünftel) gehört zu den Ali-Verehrern, den Aleviten, die im Westen zum “progressiven Teil” des Islam gezählt werden. Ali ibn Abu Talib, der von den Aleviten als einer der wichtigsten Denker und Kämpfer des Islam verehrt wird, war Vetter und Schiegersohn Mohammeds (verheiratet mit dessen Tochter Fatima), der vierte Kalif im sunnitschen Islam sowie der erste in der Reihe der schiitischen Imame.
Sie waren in der Geschichte der modernen Türkei immer etwas weltlicher gesinnt als ihre sunnitischen Brüder, und wurden wegen ihrer Neigung, linke Parteien zu wählen als “Kommunisten” abgestempelt. Dieses Votum erfolgt auch aus einer gewissen Opposition zur AKP und der “Republikanischen Volkspartei” CHP, die aus Sicht der Aleviten für eine sunnitische Türkei stehen und die Religionsbehörde Diyanet befürworten, die im ganzen Land den obligatorischen sunnitischen Religionsunterricht organisiert. Das schiitische Bekenntnis und der Verzicht auf weite Teile der sunnitischen Traditionen und Bräuche (Scharia) machte und macht die Aleviten “ohne Relgionsgesetz (Scharia)” zu einer Minderheit im sunnitisch geprägten Umfeld. Das war nicht immer so:
Die Aleviten verweisen gerne darauf, dass sie den Islam etwa zwei Jahrhunderte vor den Sunniten angenommen hätten. Als Persien schiitisch wurde hatten die turkmenischen Stämme im Südosten Anatoliens und in Aserbaidschan sich ebenfalls für diese Denkart des Islam entschieden. Die Osmanen — selbst sunnitisch geprägt — drängten die schiitische Ausprägung auch im Kampf gegen die Safewiden Irans zurück. Dennoch blieb der Schiismus im Volk erhalten. Die alevitische Literatur (Pir Sultan Abdal und Yunus Emre) gehört heute noch zu den beliebtesten Werken türkischer Dichtkunst. Die Angehörigen dieser Gruppe — in der Osmanischen Zeit als “Bektasi-Derwische” zu einem volkstümlichen Orden mit vielen Klöstern im gesamten osmanischen Bereich herangewachsen — waren bis Mitte des 19. Jahrhunderts sogar die Feldprediger (Militärgeistlichen) der osmanischen Elitetruppe, der Janitscharen. Kurz vor 1830 wurde der Orden gewaltsam aufgelöst und das Vermögen der sunnitischen Konkurrenz, den Naksbendi, übertragen. Die Ordensangehörigen flohen auf den Balkan, wo noch heute in Albanien und im Kosovo entsprechende Einflüsse feststellbar sind. Aber auch die in der Türkei weiter bestehenden alevitischen Gemeinden haben sich einen vergleichsweise “modernen Lebensstil” bewahrt. Die Aleviten wurden zu den wichtigsten Anhängern Atatürks, des Gründers der modernen Türkei, sie sind nach wie vor Verfechter westlicher, weltlicher Vorstellungen einer Trennung von Staat, Politik und Religion.