Staatsreligion Islam?
Wenn wir in den letzten Zeilen immer wieder von der säkularen Türkei gesprochen haben, dann bedarf dies einer einschränkenden Konkretisierung. Die Türkei versteht sich als laizistischer Staat — tatsächlich herrscht in ihr ein “sunnitischer Staatsislam”, in dem Land werden andere Religionen wie Christen gerade noch in Form von eingetragenen Vereinen geduldet.
Diese “Schlechterstellung” trifft aber nicht nur die christlichen Kirchen und ihre Ordensgemeinschaften — sondern alle religiösen Gemeinschaften, die sich der staatlichen Religionsbehörde und ihrer sunnitischen Ausrichtung des Islam nicht unterstellen.
Beispiel: Derwische
Auch islamische Orden wurden geschlossen und verboten, wie etwa die Loge der Derwische, die sich mit ihrem Tanz in einen ekstatischen Zustand versetzen. Die islamischen Mystiker (oder sufis) predigen die Liebe zwischen Gott und den Menschen und streben Armut und Askese an. Der Sufismus wendet sich sowohl gegen die Autorität der (schiitischen) Imame als auch gegen die absolute Gehorsamsforderung gegen Gott, die die Sunniten erheben. Diese mystische Bewegung wurde anfänglich von den orthodoxen islamischen Theologen stark bekämpft. Sie waren der Meinung, daß der Sufismus die Tugend der Liebe an die Stelle des Gehorsams setzt. Im Laufe seiner Entwicklung, die sich vor allem in Iran vollzog, ging der Sufismus mit Ordensgründungen einher. Die Ordensbrüder wurden Derwische genannt, die mystische Ekstase auch mit Hilfsmitteln wie Musik und Tanz erreichen wollten. Das Gebet der Derwische — Musik und Tanz — ist völlig untypisch für das islamische Gebet, schlägt aber eine Brücke zwischen Islam und Christentum. Der Tanz der Derwische, die besondere, ritualisierte Form des Gebetes dieser Gemeinschaft, in der jede Gestik, die Hand- und Fußhaltung eine besondere Bedeutung hat, ist inzwischen von der UNESCO als Weltkulturerbe anerkannt.
Zum Beispiel Mawlawiya:
Mawlawiya wird ein vom persischen Dichter und Mystiker Djalal ad-Din Rumi (1207–73) im kleinasiatischen Konya gegründeter Orden genannt. Seinen Namen erhielt er von dem Ehrennamen seines Gründers — Mewlana (unser Herr). Mewlana, der Begründer dieser besonderen Glaubensrichtung im Islam, war im 13. Jahrhundert ein engagierter Verfechter einer islamsichen Reformation mit charismatischen Ansprachen über die Liebe zu Gott, ober Frieden und Versöhnung unter den Menschen — also ein absoluter Kontrapunkt zur These vom “Heiligen Krieg” und Gewaltverherrlichung, die gerade heute die westliche Öffentlichkeit bei der Diskussion um den Islam umtreibt. Die Gemeinschaft wurde 1925 verboten. In einem der ältesten Ordenshäuser in Istanbul, im Stadtteil Beyoglu in der Galip Dede Caddesi (einer steilen Gasse, die nach Galip Dede, einem mystischen Derwisch-Dichter des 17. Jahrhunderts benannt ist) hat sich heute wieder eine Derwisch-Gemeinde etabliert, der “Verein der modernen Freunde von Mewlana”, der sich offiziell der Brauchtums- und Kulturpflege widmet und zahlenden Touristen die Teilnahme am “tanzenden Gebet” als Zuschauern ermöglicht. Und im Logenhaus (offiziell einem Museum) tanzen (und beten) Frauen gemeinsam mit den Männern. Auch heute noch: eine Revolution für den Islam. Und gleichzeitig: ein Gesichtspunkt, der gerade bei jungen, “modern” denkende Menschen das Interesse für die Derwische weckt.
Zum Beispiel Bektashiya:
Bektashiya ist ein von Hadjdji Bektash Wali (*1337) gegründeter türkischer Orden in Anatolien und auf dem Balkan. Auch dieser Orden wurde 1925 wurde in der Türkei verboten. Seit etwa 1950 erfährt er eine neue Blüte. Die Ordensmitglieder leben in Klöstern zusammen und praktizieren eine Beichte mit Absolution und ein kultisches Mahl mit Brot, Käse und Wein. Die türkischen Aleviten (siehe nächste Seite) haben mit dem Orden der Bektasi Derwische einen sehr spirituellen Hintergrund.
Historische Wurzeln:
1. Die Osmanischen Sultane als Kalifen:
Der Kalif war als Nachfolger Mohammeds mit der politischen und religiösen Führung der gesamten muslimischen Gemeinschaft betraut. Der ursprüngliche auch mit weltlicher Macht versehende Titel des “Kalifen” — im Sinne eines obersten Führers der Muslime — wurde seit dem Führungskampf der sunnitischen Abbasiden (Bagdad) und Umayyaden (Spanien) sowie der schiittischen Fatimiden untereinander zu einem religiösen Führungsanspruch. Die Institution des Kalifats leiteten die islamischen Theologen und Juristen aus dem Koran her. In Sure 38 heißt es: “Oh Da’ud (König David), siehe, wir machten dich zu einem Stellvertreter (chalifa) auf Erden; So richte zwischen den Menschen in Wahrheit…”. Über dem Kalifen steht allein das religiöse Gesetz, die Schari’a, die aus den Rechtsquellen Koran, Sunna, idschma (Konsens) und qiyas (Analogieschluss) schöpft und an die auch der Kalif gebunden ist.
Nach (späterer) offizieller osmanischer Geschichtsdarstellung hat das Kalifat der Osmanen bereits 1517 begonnen, als der osmanische Sultan Selim I. Syrien und Ägypten eroberte und das dortige Sultanat der Mameluken beseitigte. In deren Hauptstadt Kairo hatten seit 1261/62 — quasi als Marionetten der Mameluken — auch Titular-Kalifen aus der von den Mongolen gestürzten Abbasiden-Dynastie residiert. Sultan Selim, so die osmanische Darstellung, habe nach 1517 den letzten in Kairo ohne eigentliche Machtbefugnisse amtierenden abbasidischen Kalifen al-Mutawakkil III. (1508–1516, erneut 1517) dazu gebracht, ihm offiziell das Kalifat zu übertragen. Seither beanspruchte das Osmanische Kalifat (1517-1924) die dritte unter den Sunniten allgemein anerkannte Kalifen-Dynastie zu sein. Nach der Niederlage des ersten Weltkriegs wurde der osmanische Sultan mit der Gründung der laizistischen Republik 1923 entmachtet, wonach dann durch die Regierung der Türkei 1924 auch das Kalifat abgeschafft wurde.
2. Muslime und andere Nationalitäten bei den Osmanen:
In der osmanischen Zeit waren die Bewohner der Türkei in Nationalitäten (Millet) aufgeteilt. Die sunnitisch-islamische Nationalität (millet-i-hakime) beherrschte die anderen Nationalitäten, die “millet-i-mahkume”. Damit wurde das Staatsvolk durch die Zugehörigkeit zum (sunnitischen) Islam definiert. Die Angehörigen anderer Religionsgemeinschaften, insbesondere die Juden, die Chaldäer, die griechisch-orthodoxen, armenischen, syrisch-orthodoxen und maronitischen Christen galten als nicht als volle türkische Staatsbürger sondern als Ausländer.
Heutige Auswirkungen:
In der Türkei wirkt diese historische Enwicklung in der nach wie vor bestehenden Diskriminierung anderer Relgionsgmeinschaften nach. In einem Urteil des türkischen Kassationshof vom 8. Mai 1974 wurde ein neues Stiftungsgesetz, dass den nichtmuslimischen Stiftungen, also vor allem den genannten Religionsgemeinschaften den Besitz (Erwerb) von Immobilien untersagt, bestätigt — denn die Nichtmuslime seien Ausländer. Aufgrund dieser Entscheidung wurde eine größere Menge kirchlicher Immobilien enteignet, so das griechisch-orthodoxe Priesterseminar bei Istanbul, was zum “Austrocknen der griechisch-orthodoxen Kirche” in der Türkei beitrug. Obwohl der ökumenische Patriarch Bartholomäus I., der in seinem Sitz in Istanbul (früher Byzanz) eine der ältesten christlichen Traditionen repräsentiert, ein in der Türkei geborener türkischer Staatsbürger ist (wie übrigends der armenische Patriarch Mesrob II auch), wurde die Religionsfreiheit in der Türkei mit dieser Praxis erheblich beschränkt.
In einem Bericht des “Kontrollrats des Staatspräsidenten” vom Sommer 2006 wird diese Auffassung immer noch vertreten. Diese praktischen Handhabung ist mit dem Europäischen Verständnis eines laizistischen Staates nicht vereinbar.
Ausserhalb der Türkei — in der Gemeinschaft islamischer Staaten — hat die Türkei trotz der Abschaffung des Kalifats und dem damit verbundenen Führungsanspruch über alle Muslime nach wie vor höchste Anerkennung. Die OIC (Organizatin of Islamic Nations) hat bei den letzten Wahen (Stand 2006) einen türkischen Theologen als Präsideten gewählt, nicht aber den saudischen Vertreter.
In West- und Zentraleuropa werden (mit Ausnahme von Frankreich und den Staaten der iberischen Halbinsel, die eine geschichtliche Affinität zu den Muslimen aus Algerien und Nordafrika haben) Muslime vorwiegend als türkische Staatsangehörige erlebt. Gerade der Wirtschaftsboom im Nachkriegsdeutschland hat zur vermehrten Zuwanderung türkischer Gastarbeiter geführt, die als Arbeitskräfte kamen und als Menschen mit Familien blieben. Europa ist zunehmend gefordert, sich mit der türkisch-islamischen Kultur auseinander zu setzen, die inzwischen auch in den größeren europäischen Städten heimisch geworden ist. Eine Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) vom April 2005 setzt sich intensiv mit der individuellen Integration der Muslime in den europäischen Staaten auseinander. Diese innereuropäische Aufgabe korrespondiert mit der Frage, inwieweit die Türkei als muslimischer Staat auch in der Europäischen Union integriert werden kann. Eine der hierzu entscheidenden Fragen ist das Verhältnis von Religion und Gesellschaft, die Frage von Toleranz gegenüber Andersgläubigen und von Diskriminierungsfreiheit (sowohl aus religiösen wie aus ethnischen, geschlechtlichen, sexuellen oer weltanschaulichen Gründen), die über die EU-Antidiskriminierungsrichtlinie zum europäischen Rechtsstandard geworden ist.
Externer Link: Tagesschau — Die Türkei auf dem Weg nach Europa?
Zukünftige Tendenzen?
Der türkische Staat bildet die islamischen Prediger aus, die dann auch als Staatsangestellte besoldet werden. Damit hat sich die türkische Regierung die zumindest indirekte Kontrolle der Moscheen gesichert.
Die türkischen Sunniten dürften überwiegend den Hanafiten zuzurechnen sein. Diese sind die Anhänger der nach dem irakischen Imam Abu Hanifa (699–767) benannten Rechtsschule. Sie betonen die Vernunft und die Logik, wenn es um einen Rechtsentscheid geht. Inder, Türken und die Dynastie der Osmanen haben sich dieser Rechtsschule angeschlossen.
Die in der Türkei führenden theologische Fakultät in Ankara wurde 1949 gegründet. Sie ist heute eine wichtige Reformstimme für die Koran-Interpretation in der Welt des Islam. Fast alle Dekane der 23 theologischen Fakultäten des Landes sind Absolventen der islamischen Universität von Ankara und haben starken Einfluss bei der staatlichen Religionsbehörde DIB, die vom Reformtheologen Bardakoglu von der Marmara-Universität in Istanbul geleitet wird. Diesem “Präsidium für Religionsangelegenheiten” (Diyanet Isleri Baskanligi) unterstehen die 75 000 Moscheen des Landes. Es bezahlt die 88 000 Imame und Muezzine, und es entsendet fast fünfhundert Imame an die Moscheen in Deutschland. Der Spitzenvertreter des türkischen Islam, Ali Bardakoglu , der im November 2002 von der neu gewählten moderat islamistischen Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt (AKP) ernannt wurde, steht für einen wissenschaftlich fundierten Islam, dessen Interpretation nicht in der blinden Rezitierung von Versen sondern im hitsorischen Kontext erfolgen müsse.
Quelle: “Der Koran muss im historischen Kontext interpretiert werden” — (www.welt.de)
Unter Bardakoglu nimmt der Einfluß der theologischen Fakultäten der Türkei und ihrer modernistischen Theologen auf das Diyanet zu. Auch Dozenten in Ankara betrachten den Koran als an seinen historischen Kontext gebunden. Dieser kritisch-historische Ansatz der wissenschaftlichen Theologie ist konservativ-fundamentalistischen Islamisten wie den Wahabiten fremd. Bei den heute von der DIB aprobierten Geistlichen handelt es sich zumeist um gebildete Kleriker, die den Islam auf wissenschaftlicher Ebene kennen. Es sind im westlichen Sinne aufgeklärte und liberale Denker, die den muslimischen Glauben, den Koran, als demokratische Religion und Kultur verstehen, der auch die Rechte der Frauen schützt und bewahrt.
Aischa als Vorbild
Bardakoglu hat die Einstellung von Frauen als Predigerinnen durchgesetzt. Die Türkei folgt damit dem Beispiel Indiens. Anwar Muazzam, Ex-Dekan ihrer Fakultät der Osmaniyya-Universität, sagte dem britischen Sender BBC: “Es gibt keinen einzigen Koranvers und keinen einzigen Hadith, dass Frauen nicht Mufti werden dürfen.” Muazzam erinnerte daran, dass Aischa, die Lieblingsfrau des Propheten, nach seinem Tod zu einer religiösen Autorität wurde und der Gemeinde zur Verfügung stand. “Es gibt im Islam weibliche Gelehrte, warum soll es keine weiblichen Muftis geben?” so der indische Theologe.
Frauen in leitenden religiösen Ämtern werden in Istanbul, Ankara, in Berlin oder Paris erstmals Fatwas zu Frauenangelegenheiten erlassen. Damit werden sie an eine Tradition anknüpfen, die zu Lebzeiten des Propheten lebendig war. Nach einer authentischen Überlieferung (“sahih hadith”) kam eines Tages eine Gruppe von Frauen zum Propheten und fragten ihn, wie sie sich am besten waschen sollten. Der Prophet drehte sich daraufhin zu seiner Frau Aischa und sagte: “Erkläre du es ihnen.”
Ein Schritt zum richtigen Islam?
Inwieweit die Türkei auch Wegbereiter für einen aufgeklärten Islam sein kann, der in der Auseinandersetzung mit modernen wissenschaftlichen Methoden eine neue Blüte erreichen könnte, ist derzeit allerdings nicht erkennbar. Nasr Hamid Abu Zaid hat in einem Artikel in der NZZ (Der Islam — neu gedacht) im April 2005 einige Denkansätze vorgestellt, die zu einer Harmonie von Wissenschaft und Islam führen könnten — und zur Integration des Islam und europäischer Geisteswissenschaft (die letztendlich — wie das Beispiel “Algebra” zeigt — auch islamischem Denken entwurzelt). So arbeitet die türkische Religionsbehörde seit etwa 2004/2005 an einer neuen Kommentierung des “Hadith”, der Aussprüche und Handlungen des Propheten und einem entsprechenden Kommentar des Koran.
Dabei geht es darum, wie die FAZ berichtet, den Islam in seinem historischen Kontext richtig zu verstehen — also um keine Reformaion, sondern um eine Rückbesinnung auf die historischen Wurzeln, die den heutigen Lebensumständen entsprechend zu verstehen sind. Mehmet Görmet, der Herausgeber dieser Ausgabe, wird in der FAZ mit einem Beispiel zitiert. “Ein Hadith verbiete es der Frau, länger als drei Tage ohne männliche Begleitung zu reisen. Andererseits habe Mohammed in einer anderen Rede davon gesprochen, dass er sich den Tag herbeiwünsche, an dem Frauen auch lange Entfernungen allein zurücklegen könnten. Der erste Hadith sei nur entstanden, weil es damals für Frauen nicht sicher gewesen sei, allein zu reisen.”