Atatürk:
Immer wieder – zuletzt bei den Ausführungen zum Mittelmeer – haben wir ATATÜRK erwähnt, den Vater der heutigen Türkei, der den Türken nicht nur ein neues Leben, sondern ihnen vor der Weltöffentlichkeit auch ein neues Image verschaffte.
Auch heute noch bekennen sich die meisten Türken überzeugt zum Kemalismus, der das Gesicht der modernen Türkei widerspiegelt.
Das “Osmanische Reich” war ein Vielvölkerstaat. Araber, Armenier, Griechen, Kurden und Türken bildeten zusammen die Staatsvölker, die Herrschaft der Osmanen war vor allem auch durch das Kalifat religiös legitimiert. Die sunnitisch-islamische Nationalität (millet-i-hakime) beherrschte die anderen Nationalitäten, die “millet-i-mahkume”. Damit wurde das Staatsvolk durch die Zugehörigkeit zum (sunnitischen) Islam definiert. Als die areligiösen und rassistischen Jungtürken 1908 Sultan Abdülhamid II stürzten trat anstelle der “millet-i-hakime” erstmals die “ulusalcilik” (vom türkischen ulus für Nation).
Atatürk war der Sieger im Kampf gegen die Griechen 1922, und die Woge des Sieges trug den überzeugten Modernisten an die Spitze des Staates. Mit der Beendigung der rund dreitausendjährigen griechischen Besiedlung wurden auch gleich einige andere türkische Fragen gelöst. Das Sultanat wurde abgeschafft, 1923 die Republik proklamiert und die Familie Osman — seit rund 600 Jahren mit 37 Herrschern an der Macht — ins Exil getrieben. 1924 wurde auch das Kalifat aufgelöst. Damit war zwar ein säkularer Staat geschaffen — aber noch keine Nation. Der neue Staat sollte zugleich auch der Nationalstaat der Türken sein. Der Staat und seine Institutionen machten sich zur Aufgabe, eine homogene (und nicht pluralistische) Nation zu formen. Auf diesem homogenisierenden Nationalismus (“Ya sev ya terk” — Liebe es oder verlasse es) beruhen die (nicht nur historischen) Konflikte mit den nichttürkischen und auch nichtislamischen Minderheiten der Armenier, Griechen und Kurden. Auch der in Westeuropa berüchtigte Strafrechtsparagraph 301 (Herabwürdigung des Türkentums) hat hier seine Ursache.
Atatürk führte dazu typisch westliche, europäische Werte in der türkischen Gesellschaft ein:
die Türkei wurde ein säkularer Staat, mit einer strikten Trennung von Religion und Staatswesen, die Schulpflicht eingeführt und der Fez (Männerkopfbedeckung) verboten.
Die Frauen brauchten keinen Schleier mehr zu tragen, politische Rechte wurden Ihnen zuerkannt und die Gleichberechtigung der Frau wurde vor dem Gesetz garantiert. Auch die Namensgebung wurde reformiert. Seit 1934 existieren Nachnahmen, und Mustafa Kemal nahm den Familiennamen “Atatürk” (Vater aller Türken) an — womit nicht nur die Erinnrung an die Osmanen und deren “osmanisches Reich” zurück gedrängt wurde, sondern der Name “Türke”, der bis dahin mehr ein Schimpfwort gewesen war, “rehabilitiert wurde”.
- Eine Sprachkommission begann damit, das osmanische Türkisch von persischen und arabischen Lehnwörtern zu reinigen, und — in Anklang an die Jungtürken und deren Vision von “Turan” — wurde ein Geschichtsbild erarbeitet, das die Osmanische Herrschaft in den Kontext der gesamttürkischen Geschichte stellte.
Atatürk führte 1928 das lateinische Alphabet ein, mit dem die seit dem 8. Jahrhundert benutzten Schriften des göktürkische, uygurischen und vor allem arabischen abgelöst wurden und im gleichen Jahr der Satz, dass der Islam die Staatsreligion der Türkei sei, aus der Verfassung gestrichen,
der Islam sollte auf türkisch und nicht mehr auf arabisch gelehrt werden – ein ähnlicher Schritt, wie dies Luther für die Deutschen und der Mönch Kyrill für die Slawen vorexerziert hatten
in der Türkei wurde ein modernes Schulsystem nach europäisch-westlichem Muster eingeführt
die Türkei wurde nicht nur eine Republik, die islamisch religiöse Führungselite wurde abgeschafft, die Medresen, Theologieschulen und die Scharia-Gerichtshöfe geschlossen, und die religiösen Orden und Bruderschaften verboten (1925),
- anstelle der Scharia wurden europäische Rechtssysteme im Handels‑, Straf- und Zivilrecht eingeführt,
die Streitkräfte wurden modernisiert und zu Garanten der kemalistischen Reformen. Tatsächlich haben die Streitkräfte mehrfach in das politische Geschehen eingegriffen, aber nach entsprechenden Verfassungsänderungen jeweils wieder zivile, gewählte Regierungen zugelassen.
Der Tod von Kemal Atatürk im Jahre 1938 war ein schwerer Schlag für die moderne Türkei. Seither hat sich der “Kemalismus” weiter entwickelt.
Heute — so scheint es — dient der Bezug auf Atatürk vor allem auch einem anwachsenden türkischen Nationalismus als Basis. Der staatlich geförderte Nationalpatriotismus ist dazu auch heute noch das Bindeglied aller Gesellschaftsschichten.
Die rechten Nationalisten, deren ideologische Basis die in den achtziger Jahren entwickelte “türkisch-islamische Synthese” (unter dem Motto der “milliyetcilik”), ist (Erbakan nannte seine Bewegung “Milli Görüs” — Nationale Sicht)
und die linken Nationalisten (die dem jungtürkischen Erbe der “ulusalcilik” nahe stehen und den Verkauf von Immobilien an Ausländer als “Ausverkauf der Türkei” brandmarken)
kooperieren inzwischen unter dem Begriff “kizilelma” (der an die mythische Urheimat der Türken — “goldener Apfel” — erinnert) bei der Ablehnung einer Öffnung der Türkei nach Aussen einerseits und von erweiterten Rechten der nationalen Minderheiten andererseits.
Allerdings haben die Jahrzehnte eines säkularen Staates nach Atatürk, die Einbindung der ehemaligen Gastarbeiter in die westlich-europäische Welt und die modernen Kommunikations- und Informationsquellen (Medien) im ohnehin schon „lockeren türkischen Islam“ erhebliche Spuren hinterlassen.
Etwa 75 % aller türkischen Staatsbürger strebten noch 2004 die Mitgliedschaft der Türkei in der EU an, und (sogar oder gerade) Premier Erdogan von der konservativ-islamischen Regierung führte, wie der SPIEGEL berichtet, eine „Stille Revolution“ der Türkei durch, die den Staat zu einem modernen Brückenkopf im Islam machen könnten. Inzwischen ist — wie die Süddeutsche Zeitung am 7. Sept. 2006 unter Bezug auf eine noch vor dem Libanon-Krieg durchgeführte Repräsentativumfrage meldete — nur noch eine knappe Mehrheit der Türken für einen EU-Beitritt.
Externer Link:
Türkei: Stille Revolution — (www.spiegel.de)
Es erscheint erstaunlich, dass ausgerechnet Vertreter der Streitkräfte, die bisher als „Hüter der reinen Lehre Atatürks“ in Erscheinung getreten sind, den „go west“ – Kurs der Politik mit Argusaugen betrachten und unverhohlen ihre Bedenken äussern.
Vom Aufstieg Erdogans:
Als im November 2002 Neuwahlen stattfanden wurden die etablierten Parteien von den Wählern abgestraft. An ihrer Stelle trat die AKP von Tayyip Erdogan. Der “Mann aus dem Volk” hatte es als begnadeter Redner in der nationalistisch-religiösen Partei MSP von Necemit Erbakan bereits 1991 zu einem Parlamentssitz gebracht — den er allerdings aufgrund von Intrigen Erbakans nicht antreten konnte. 1994 schaffte Erdogan es gegen den Widerstand von Erbakan, mit einer relativen Mehrheit von über 20 % das Amt des Oberbürgermeisters von Istanbul zu erobern. Es war ein Sieg der Armen, der Vorstädte über das Zentrum, das Istanbuler Bürgertum. Erdogan bgeann, auch die Armenviertel mit Wasser- und Stromleitungen zu versorgen, die Müllabfuhr auch in den Armenvierteln ins Laufen zu bringen — und die grassierende Korruption so weit einzudämmen, dass die Stadtverwaltung plötzlich über Geld verfügen und Verkehrsprojekte umsetzen konnte. Im Frühsommer 1999 war Erdogan — der eine dreimonatige Haftstrafe wegen “aufrührerischer Reden” antreten musste — bei der armen Bevölkerung Istanbuls auf dem Höhepunkt seiner Popularität angekommen. Den gleichzeitigen Absturz der Fazilet — der Partei Erbakans, die in den Parlamentswahlen vom April 1999 nur noch 15 Prozent der Stimmen erhielt — nutzte Erdogan um eine eigene Partei zu gründen. Der “schwarze Donnerstag”, der 12. Februar 2001, war die Chance für diese neue Vereinigung.
Die Wahl vom 3. November 2002 wurde zu einer Zäsur, wie sie bisher nur die Militärs mit ihren Putschen erreicht hatten. Alle bis dahin im Parlament vertretenen Parteien verfehlten die Zehnprozenthürde. Im Parlament konnten lediglich Erdogans neu gegründete AKP — und die alte, kemalistische CHP einziehen, die zuvor als außerparlamentarische Opposition agieren musste. Die AKP konnte die Stimmen der alten bürgerlichen und durch Korruptionsaffairen belasteten Parteien und der frommen Erbakan-Wähler einheimsen. Die AKP — mit einer stabilen knappen 2/3 Mehrheit der Sitze ausgestattet, konnte die unter Kermal Dervis begonnene Wirtschaftspolitik unangefochten fortführen. Anstatt die Zahlungsprobleme mit der Druckmaschine zu bekämpfen wurde die Inflation kontinuierlich bekämpft. Die Inflationsrate unterschritt 2003 — nach mehreren Jahrzehnten — wieder die 20 % Marge. Dies führte zu neuen — internationalen — Investitionen beim “kranken Mann am Bosporus”. Getragen von dieser Unterstützung konnte die Regierung der AKP in den ersten fünf Jahren mehr Reformen anpacken als alle säkularen Vorgängerregierungen in den fünf Jahrzehnten zuvor.
Die Parlamentswahlen am 22. Juni 2007 bestätigten den fulminanten Aufstieg der AKP. Der Wähler akzeptierte die Entwicklung der AKP zu einer Partei der Reform und der „neuen türkischen Mitte“. Der Wahlerfolg der AKP spiegelt den sozialen Aufstieg der neuen, eher ländlichen und deshalb auch islamisch-konservativen Schichten zu einer gut situierten, religiös- konservative Mittelschicht wieder. Erdogans konservativ-religiöse Partei AKP (Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei) verfügt über 341 der 550 Sitze und hat damit auch im neuen Parlament die absolute Mehrheit. Auf den Wahllisten der AKP sind allerdings nicht nur Kopftuch tragende Frauen und schnurrbärtige Männer in das Parlament gelangt. Die Wahlliste spiegelt ein breites Spektrum der Bevölkerung wieder — Frauen ohne Kopftuch wie Nursume Memecan, Computerexpertin mit jahrelanger Erfahrung in der New Yorker Bankenwelt, Wirtschaftsfachleute wie Mehmet Simsak, bisher Investmentbanker bei Goldmann-Sachs in Lindon, und Überläufer aus anderen Parteien. Erdogan repräsentiert die “Schwazren Türken”, ursprünglich die arme Bevölkerungsschicht des Landes, die einen religiösen Hintergrund hat und sich zunehmend modernisiert und zu einer breiten Mittelschicht wandelt. Ein Verbotsverfahren hat die AKP erst im Jahr 2007 (mit knapper Not) überstanden.
Die kemalistische CHP bildet mit 99 Abgeordneten die größte Oppostionspartei als Vertreter der “Weißen Türken”, auf Europa orientiert, westlich erzogen und wohlhabend — und auch der rechtsgerichteten Partei der Nationalen Bewegung (MHP) gelang mit 70 Mandaten nach fünf Jahren die Rückkehr in die Volksvertretung. 21 prokurdische Abgeordnete, die als Unabhängige zur Wahl am 22. Juli angetreten waren, haben sich der Partei der demokratischen Gesellschaft (DTP) angeschlossen und erhalten so Fraktionsstatus. Damit ist erstmals seit 1994 wieder eine Kurden-Partei im Parlament vertreten.
Die beiden “großen Strömungen” der politischen Türkei stehen sich aber auch nach wie vor unversöhnlich gegenüber. Die “alten Eliten” der säkularen Türkei aus dem westlich orientierten Istanbul werden durch Militär, Kapital und den Konzern und Medienunternehmer Dogan (“Hürriyet”, “Milliyet”, “CNN Türk TV” und “Kanal D”) repräsentiert, die “neue Elite” der islamisch orientierten Türkei um Erdogan vom Medienkonzern Calik mit der auflagestarken Zeitung “Sabah” und “ATV”. Nur wenige “neutrale” Medien wie z.B. die Tageszeitung “Taraf” können sich zwischen den beiden Fronten behaupten.
Externer Link:
Eurasisches Magazin — keine Angst vor Islamisierung
Neue Aussenpolitik:
Die Machtübernahme der “neuen Elite” hat auch zu einer Änderung der aussenpolitischen Orientierung des Landes geführt. Das bisherige beständige Anklopfen an den verschlossenen Türen der EU unter dem Aussenminister und Euro-Optimisten Ali Babacan hat mit dem türkischen Außenminister, Politikprofessor Ahmet Davutoglu auf der Basis seines 2001 erschienenen Buches Stratejik Derinlik [Strategische Tiefe] eine Öffnung und wohl auch erweiterte Orientierung erfahren. Bereits in seinem ersten Treffen als Aussenminister am 4. Mai 2009 wurde der aserbaidschanischen Vize-Außenminister empfangen. Davutoglu arbeitet, im Einvernehmen mit Erdogan, nicht nur an der Bereinigung des diplomatischen Konflikts zwischen der Türkei und Armenien — sondern vor allem am Ausbau der Beziehungen zu den turksprachigen Ländern der ehemaligen GUS. Darüber hinaus werden mehr und mehr die Nachbarn der islamischen Welt in die Aussenpolitik der Türkei einbezogen — vom Balkan (Bosnien-Herzegowina) über die arabsichen Nachbarländer (Syrien) bis zum Iran, zu dem die Türkei inzwischen gut nachbarschaftliche Beziehungen unterhält.
Diese Politik als “neo-osmanisch” zu bezeichnen, geht fehl. Es geht der Regierung nicht nur um eine Verbesserung zu den Staaten, die (wie Syrien) aus dem osmanischen Reich hervorgegangen sind. Der Iran etwa war nie Bestandteil des osmanischen Imperiums sondern immer auch regionaler Rivale.
Auch der Begriff von “Großturkestan” trifft es nicht ganz. Der Türkei geht es nicht nur um die turksprachigen Staaten Zentralasiens. Natürlich bemüht sich die Türkei um diese Staaten mit ihrer ethnisch verwandten Bevölkerung besonders, und steht dabei auch in Konkurrenz zum Iran und zu Saudi Arabien.
Die Türkei soll künftig umfassend profitieren — von ihrer geostrategischen Lage, als Brücke zwischen der westlichen und islamischen Welt, sowie von ihrer Rolle als Drehscheibe für den Öltransport nach Europa.