Anatolien – die andere Türkei
Das ist das andere Klischee – ein Eselkarren in einer weiten, baum- und strauchlosen Landschaft mit rostfarbenen, weich gerundeten Bergen, die irgendwie an Bilder erinnern, wie man sie aus der Mondmission von Apollo 15 im Hinterkopf hat. Ob die Türkei deshalb den Halbmond in der Fahne aufgenommen hat?
Eine zurückgebliebene Gesellschaft scheint hier überdauert zu haben: ein behäbig geruhsames Leben in Rückstand und Armut, gleichzeitig aber auch aggressiv bis zur Blutrache, wenn es um die Ehre, eine fortgelaufene Tochter, Wasser oder Land geht.
Eine karge, staubige, trockene Welt tut sich hier auf, in der Heimat der Kurden. Vereinzelt können sich Oliven- und Mandelbäume in die trockene Krume krallen, wenn unterirdische Grundwasseradern die geringen Niederschläge in den Tälern sammeln, während zwei mächtige Ströme – Euphrat und Tigris – in ihren Tälern enorme Wassermengen nach Süden transportieren und im „Zweistromland“ Mesopotamien seit Jahrtausenden eine blühende Kultur ermöglichen.
Hier, im trockenen Anatolien, liegt das antike Kernland der Türkei: hier haben die Hethiter ein Reich errichtet, unter dessen Streitwagen die Reiche Mesopotamiens, des alten Ägypten und des antiken Griechenlands erzitterten.
Kernanatolien:
Umgeben von hohen Gebirgen ist das etwa 800‑1500 m hoch gelegene und meist trockene Kernland Anatoliens geschützt und zugleich von Regenwolken abgeschnitten. Hierher wurde die Hauptstadt Ankara (800 m Höhe) verlegt, um im zurückgebliebenen Anatolien deutliche Entwicklungsanreize zu geben. Rund um Ankara hat sich auch etwas Industrie niedergelassen, hauptsächlich wird aber Landwirtschaft mit Obstanbau und Weizen betrieben. Durch die Trockenheit konnte sich ein ausgedehnter Salzsee, der Tuz-Golü, bilden.
Hier haben die Armenier und die Kurden ein Jahrtausende altes Siedlungs- und Rückzugsgebiet.
Externe Links:
Internetseite der „Informationsstelle Kurdistan e.V.“ (PKK): Zur Geschichte und Politik der Arbeiterpartei Kurdistans — (www.nadir.org)
Linkliste Kurdistan
Karte von Kurdistan — (http://krisen-und-konflikte.de)
Kurdistan — (www.bessereweltlinks.de)
“Kurdistan” — ein unerfüllter Traum — (www.zdf.de)
Und von hier aus haben die Turkmenen – ein Teilstamm der Oghusen – den Siegeszug gegen Byzanz angetreten, um als Osmanen den westlichen Teil der Islamischen Welt zu beherrschen. Ein Siegeszug, der die Türken bis vor die Tore Wiens brachte – und den Wienern den Türkentrank, der als Kaffee den Siegeszug ins Abendland fortsetzen sollte.
Ostanatolien
Pontus und Taurus treffen sich hier zu einem bis über 5000 m hohen Gebirge. Der höchste Berg ist der Ararat, der „Nationalberg der Armenier“. Hier wird meist Sommerweidewirtschaft betrieben und Getreide angebaut. Ostanatolien ist noch immer das Armenhaus Europas.
Die einzige Chance für diese kurdischen Gebiete der Türkei, Armut und Unterentwicklung zumindest in Ansätzen zu überwinden, ist der Handel mit den Nachbarn — Syrien, Irak und dem Iran. Industriebetriebe sind nur in den Städten wie Malatia, Sivas und Erzurum zu finden. Bereits unter Saddam hatten die Lastwagenkolonnen zwischen Iraks kurdischem Norden und dem türkisch-kurdischem Osten für etwas Einkommen im Gebiet gesorgt. Aus Kamel- und Schafhirten waren 20- 30.000 Kleinunternehmer geworden, die zum Teil mit schrottreifen, selbst umgebauten Lastwagen Öl aus dem irakischen Norden in die Türkei brachten und im Gegenzug Lebensmittel und anderes von der Türkei in den Irak transportierten. Der Krieg gegen Saddam hatte diesen Grenzhandel unterbrochen — aber heute (2006) sind die Schlangen an den Grenzabfertigungsstellen länger als zuvor. Die Versorgung der amerikanischen Truppen im Irak wird im Wesentlichen über die Türkei abgewickelt. Etwa 70 % des Materialbedarfs und ein knappes Drittel des Treibstoffs, den die US-Truppen benötigen, wird dem Vernehmen nach über die Türkei in den Irak transportiert. Rund 3.000 Lastwagen sollen täglich (Stand Oktober 2007) die Grenze zwischen beiden Staaten passieren.
Bereits von 2002 bis 2003 sind die türkischen Exporte in den Irak um knapp 160 Prozent gestiegen. Damit wird der “Kurdenprovinz” langsam ein bescheidener wirtschaftlicher Aufschwung ermöglicht. Besonders interessant für die Kurden ist dazu das Wahlergebnis zu den türkischen Parlamentswahlen von 2007: 21 prokurdische Abgeordnete erhalten Fraktionsstatus. Damit ist erstmals seit 1994 wieder eine Kurden-Partei im Parlament vertreten. Viele Kurden erhoffen sich nun einen neuen Impuls im Kampf um mehr Rechte für ihre Volksgruppe.
Auch die türkische Aussöhnung mit Syrien — im Januar 2004 besuchte Präsident Baschar al-Assad die Türkei — holt Ostanatolien aus seiner Abgeschiedenheit. Gaziantep (das sich zum regionalen Industriezentrum entwickelt) und Urfa, der Marktplatz für landwirtschaftliche Produkte, sind auf die syrische Großstadt Aleppo hin orientiert.
Heute versucht die Türkei mit Stauseen, Wasserkraft- und Bewässerungsprojekten das Wasser von Euphrat und Tigris zu nutzen, was bei den Nachbarn Syrien und Irak – die auf möglichst große Wassermengen aus den Flüssen angewiesen sind – nicht auf besondere Gegenliebe stößt.
„1977 beschloss die türkische Regierung das GAP (Güneydogu Anadolu Projesi: Südostanatolien-Projekt). Es umfasst den Bau von 22 Staudämmen an Euphrat und Tigris, die von den Stauseen ausgehenden Kanäle von 1000 Kilometer Länge sollen 1,7 Millionen Hektar Bewässerungsland erschließen, die Südostanatolien zur Kornkammer und zum Gemüsegarten des Nahen Ostens machen sollen. Der Bewässerungsfeldbau ermöglicht intensivere Bewirtschaftung und höhere Erträge als der bisher vorherrschende Regenfeldbau. In der Landwirtschaft sollen so zwei Millionen zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen werden.
Es ist geplant, in die meisten der Staumauern Kraftwerke einzubauen, die für die Entwicklung Südostanatoliens und der gesamten Türkei zuverlässig saubere Energie liefern. Herzstück der Staudammtreppe am Euphrat ist der 1992 fertig gestellte Atatürk-Stausee, der das anderthalbfache Volumen des Bodensees speichern kann. Die Türkei hofft, später in von einem Schiff gezogenen “Wassertaschen” aus Kunststoff oder durch Pipelines Wasser in trockenere Staaten des Nahen Ostens verkaufen zu können. Die GAP-Region ist weitgehend Siedlungsgebiet der Kurden, die sich zum Teil in Bezug auf ihre Kultur und die Menschenrechte in der Türkei nicht genug respektiert fühlen.“
Rainer Scheckel; nach Jörg Barandat: “Die Türkei in der Wasserfalle.” In: Jörg Barandat (Hrsg.): Wasser — Konfrontation oder Kooperation. Baden-Baden: Nomos 1997, S.158ff.
Inzwischen sind mehr als die Hälfte dieser Staudämme in Betrieb. Aus dem Atatürk-Staudamm wird die heiße, trockene Tiefebene von Urfa über eine gigantische Wasserröhre mit dem kostbaren Bewässerungsnass versorgt, um Gemüse und Baumwolle zu ernten.
Nahe der Ortschaft Ilisu am Tigris soll der Damm für den zweitgrößten Stausee des Südostanatolien-Projekts GAP [Güneydogu Anadolu Projesi] entstehen. Der Stausee soll 313 Quadratkilometer umfassen, mehr als 90 Orte und wertvolle Zeugnisse früher Kulturen werden darin untergehen. 78000 Menschen, meist Kurden, müssen umgesiedelt werden. Ein akzeptabler Umsiedlungsplan existiert nicht, und die Bedingungen in der Region rücken das Ziel einer angemessenen Neuansiedlung in fast unerreichbare Ferne. Für das Projekt wurde weder das Einverständnis der Betroffenen noch der flussabwärts liegenden Staaten eingeholt oder gesucht. Kurdische Menschenrechtler befürchten durch den Dammbau nicht wieder gut zu machende Schäden für die kurdische Kultur und lehnen ihn deshalb ab.
Da die Bauträger das Ilisu-Projekt nicht ohne ausländische Hilfe verwirklichen können, haben sie in sieben Staaten, darunter Deutschland, Großbritannien, Schweiz und USA, welche die Kraftwerksausstattung liefern sollen, um Exportkredite nachgesucht. Nichtstaatliche Organisationen, so genannte NGOs (Non-Government-Organisations) wie IRN (International Rivers Network) und WCD (World Commission on Dams) versuchen, die Entscheidungsträger in den Industrieländern über die Probleme des Damms aufzuklären und ihn zu stoppen. Eine schwedische Firma ist bereits aus dem Projekt ausgestiegen und die Weltbank wird keine Gelder dafür bereit stellen.
Externer Link:
IRN — Beyond Big Dams — an NGO Guide to the WCD — (www.irn.org)
Studiengesellschaft für Friedensforschung e.V.:
Wasser – die Macht der Türkei“ — (www.studiengesellschaft-friedensforschung.de)
Südanatolien
Istanbul — das ist der Standpunkt für den Handel, im Schnittpunkt der ost-westlich verlaufenden Land und der Süd-Nördlich verlaufenden Seeverbindungen, an der Nahtstelle zwischen Europa und Asien — aber Anatolien, Südanatolien gar? Dort kreuzen sich keine großen Handelsrouten, dort gibt es kein Tourismuspotential wie in Antalya — und die Landwirtschaft alleine wird auch nur Produkte geringer Wertschöpfung herstellen, Baumwolle zum Beispiel.
Im Südosten der Türkei, zwischen Adana am Seyhan im Westen, dem Taurus-Gebirge im Norden, dem Euphrat im Osten und der syrischen Grenze im Süden hat sich um die Hafenstadt Iskenderun und der Stadt Kahramanmaras an den Ausläufern des Taurus-Gebirges und am Menzelet-Stausee dennoch ein kleines wirtschafliches Wunder abgespielt. Südanatolien hat sich als idealer Standort für die Produktion entpuppt. Die Region hat sich innerhalb von 20 Jahren mit einem Industrieproduktionswert von 1,5 Mrd. $ (Stand: Juli 2007) zu den fünfzehn größten Industrieproduzenten aller 81 türkischen Provinzen entwickelt. Nach Auffassung der örtlichen Industrie- und Handelskammer kann bereits im Jahr 2008 ein Produktionswert von 2,5 Mrd. $ erreicht werden. Kahranmanmaras — und ein gutes Dutzend anderer anatolischer Industriestädte, die “anatloischen Löwen”, — haben (m Wesentlichen ohne große staatliche Förderprogramme) der Region zu einem einzigartigen Wachstum verholfen. Die ersten Industriebetrieb entstanden 1984 unter der Reformregierung Turgut Özal. Aus kleinen Baumwollfarmen entstanden kleine Fabriken zur Weiterverarbeitung. Aus Händlern und Bauern sind Industrielle geworden. Die 1985 von Henfi Öksüz gegründete Baumwollmanufaktur ist heute (2007) ein Industrieimperium mit einem Umsazt von 400 Mio. $ und Wachstumsraten von 20 %. Zu den Textilwerken ist eine Zementfabrik gekommen, und das Investitionsvolumen 2007 beträgt alleine bei diesem Familienkonzern 125 Mio. $. Nur etwa 1 % der Investitionen in den Wirtschaftssektor der Region kommt von ausserhalb. Begründet wird dieses “anatolische Wunder” mit einer eisernen Arbeitsmoral, die von Soziologen als “muslimisch-calvinistisch” bezeichnet wird. Die Einheimischen investieren ihr Einkommen nicht im Verbrauch, sondern in der Textil- und Nahrungsmittelindustrie, in der Herstellung von Küchengeräten (Töpfe, Pfannen) sowie im Bausektor. Das so investierte Kapital trägt Früchte und wird gleich wieder in den weiteren Ausbau der Familienbetriebe gesteckt. Das Familieneinkommen liegt dort inzwischen über dem Landesdurchschnitt, und wird dank der Neigung, die Erträge erneut zu investieren, mit Sicherheit zu weiteren wirtschaftlichen Blüte der Region beitragen. Die “Grenze des Wachstums” wird lediglich durch das schlechte Bildungssystem gesetzt — kein Wunder, dass die Industriebosse inzwischen auch das Sponsoring entdeckt haben — unter anderem mit der Gründung und Finanzierung von Schulen.