Nach den Verlusten der (bis auf armenische und kurdische) ethnisch nicht-türkischen Regionen ist die heutige Türkei im Wesentlichen auf ihr ethnisches Kernland beschränkt. Aus dem “Vielvölkerreich der Osmanen” wurde der heutige Staat “Türkei”, der sich im Wesentlichen auf das Staatsvolk der Türken stützt. Dennoch ist die Türkei ein Mosaik unterschiedlicher Regionen, die jeweils ein völlig eigenes Gepräge haben.
Türkische Regionen:
Das Sinnbild dieser Verbindung ist Istanbul,
die Stadt, deren Namen noch immer Tausenden einen verräterisch träumenden Glanz in die Augen treibt.
Es gibt kaum einen türkischen Liebesfilm, in dem sich die Paare nicht irgendwo am Bosporus zusammenfinden – auf der Fähre, am Ufer oder auf einem der Hügel mit einem wunderbaren Panorama über eine Stadt, die wie kaum eine andere die Symphonie von Abendland und Islam verkörpert.
Um 600 v. Chr. von den Griechen als Byzanz gegründet, später als Ost-Rom bekannt (weshalb die Griechen in der Türkei heute noch „Rum“ – Römer – genannt werden), um 324 n. Chr. nach dem oströmischen Kaiser Konstantinopel benannt (welches die römische Kultur nicht nur dem in den Wirren der Völkerwanderung versinkenden Abendland sondern später auch den islamischen Reichen übermitteln sollte) und seit der Eroberung durch die Türken (1453) Istanbul – alle Namen bezeichnen die eine Stadt, und alle Namen sind auch heute noch den meisten Menschen zumindest des Westens geläufig.
Die 31 km lange, an der schmalsten Stelle nur 660 Meter breite Meerenge zwischen Schwarzem Meer und Mittelmeer teilt die Stadt in einen europäischen und einen asiatischen Teil, und auch heute noch – so sagt man – liefern sich die zwei Fußballklubs Galatsaray und Fenerbahce dies- und jenseits der Meerenge einen friedlich emotionalen Wettstreit um die Vorherrschaft Europas oder Asiens.
Auf der europäischen Seite wiederum teilt das Goldene Horn (Halic) die Stadt in die südlich gelegene Altstadt Stambul (früher Byzanz) und den nördlich gelegenen Stadtteil Galata, dem ehemaligen Genueserviertel – in dessen Namen sich eine antike keltische Besiedlung erhalten hat – und dem Ortsteil Beyoglu, in dem Nachtschwärmer – Literaten, Lebenskünstler und Touristen — zwischen Discos, gediegenen Restaurants und kleinen Kneipen mit Live-Bands, zwischen Bauchtanz, Gebetshäusern und Bordellen wählen können – oder das Hamam besuchen, das streng nach Geschlechtern getrennte türkische Bad, das wohl in der Tradition der antiken, römischen Thermen steht, in dem Seele und Körper entspannen und gereinigt werden, in dem Generationen Klatsch und Massagen, Bäder und Entspannung genossen – und das heute zunehmend der Hektik der modernen westlichen Welt weicht.
Die europäischen Istanbuler, die im Westen wohnen und arbeiten, sollen, so heißt es, erhebliche Probleme mit Smog, Existenzkampf und Verkehrschaos haben, während die Istanbuler, die im Osten wohnen, die Zeit auf der Fähre für Erholung bei Tee und Konversation nutzen – und dabei Gott viel näher sein sollen.
Tatsächlich verbindet schon seit Jahrzehnten ein reger Fährverkehr die Kontinente, und zwei Hängebrücken stellen eine von Wind und Wetter unabhängige Verbindung sicher – aber was heißt hier wieder unabhängig: wenn der Nordostwind Poyraz und der Südwestwind Lodos um die Vorherrschaft in der Stadt kämpfen, dann liegen die Fähren am Ufer fest – und dann bricht auch der Verkehr auf den Brücken zusammen, so dass über Stunden kein Kontakt zwischen West und Ost möglich ist.
Aber ansonsten – da ist der Bosporus eine der am dichtesten befahrenen Wasserstraßen der Welt; Tagsüber eine Labsaal für die Seele, und Nachts ein Lichtermeer von Ausflugsschiffen, auf denen Hochzeitsgesellschaften den Bund fürs Leben feiern.
Ein Istanbuler, das ist einer der den Geruch des Wassers und den Geschmack des Weines kennt, der alle Fische benennen kann, die im Schwarzen Meer und dem Mittelmeer gefangen werden, der Wiener Hörnchen, Croissants und Kaffee zu genießen weiß;
ein Istanbuler, das ist immer weniger jemand, der zur griechisch-orthodoxen Kirche gehört, obwohl nach der türkischen Eroberung (oder sollte man sagen: nachdem den Türken die Stadt wie eine reife Frucht in die Hände fiel) der Sitz des ältesten Patriarchen der Orthodoxen Kirche und mit ihm ein großer Teil der griechischen Bevölkerung in Istanbul blieb,
ein Istanbuler, das ist immer mehr jemand, der sich gläubig zum Islam bekennt, und in Eyüp — nach Mekka, Medina und Jerusalem die viertwichtigste Stätte des Islam „vor der Haustüre“ — besuchen kann. Dabei hat der türkische Islam durchaus ein eigenes Gepräge, einen Hang zu Mystik und Magie – zu schamanistischen Relikten, zu Aberglauben – und zur Weltoffenheit, wie sie etwa den strengen Wahabiten Saudi-Arabiens ein Gräuel ist.
Der Besuch von Koranschulen ist Kindern unter 12 Jahren verboten, der Koran darf nur in türkischer Übersetzung gelehrt werden (ein Sakrileg für die Bewahrer der reinen Lehre, denen nur das Arabische als Sprache der Offenbarung genehm ist), und das führt dazu, dass heute viele die arabischen Gebete kaum mehr verstehen – geschweige denn den Koran in der ursprünglichen Schreibweise lesen können, seit dem das Land 1928 anstelle der arabischen die lateinische Schrift einführte.
Und dennoch: die Stadt des Diwan, die Stadt des Sultan, die Stadt des Kalifen – Istanbul, und nicht Ankara, ist auch heute noch Anziehungspunkt für die neue Elite der zentralasiatischen türkischen Staaten, die ihre Jugend heute nach Istanbul zur Schule und zum Studium schicken, und dabei vielleicht ein Stück sowjetischer „Weltlichkeit“ im Kulturstreit mit einer erstarkenden islamischen Kraft in Zentralasien aufrechterhalten.
In der Türkei haben die Juden und Christen volle Religionsfreiheit und besondere Rechte. Es gibt Kirchen und Synagogen, christliche und jüdische Schulen und Krankenhäuser. Der Amtssitz des Patriarchen, des Oberhauptes der griechisch-orthodoxen Kirche, befindet sich in Istanbul. Die große Mehrheit der türkischen Staatsbürger ist jedoch muslimisch, die meisten gehören der sunnitischen und ca. 20 % der alewitischen Konfession an
Überhaupt: diese strikte Trennung von Staat und Religion, die im toleranten Osmanischen Reich durchaus Tradition hat – der Sultan war Kalif, also der oberste geistliche Herrscher aller Muslime, zugleich aber Schutzpatron des orthodoxen Patriarchen – und seit Atatürk zum „Kernsatz“ der modernen Türkei wurde:
hier hat westlich-europäisches Gedankengut („ein jeder möge nach seiner Facon selig werden“) den Eingang in einem islamischen Staat gefunden, obwohl der Islam als ganzheitliches Lebensbild den Anspruch erhebt, eine Lebensweise darzustellen.
Als Mustafa Kemal ATATÜRK nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches und dem erfolgreichen Abschluss des türkischen Befreiungskrieges im Jahre 1924 das Kalifat abschaffte, setzte er dem Einfluss des Islams enge Grenzen, trennte nach westlichem Vorbild staatliche und religiöse Macht. ATATÜRK verwehrte dem Islam die Einfluss auf die weltliche Macht, um so die Schaffung einer modernen Gesellschaft vorzubereiten, was angesichts des Selbstverständnisses des Islams und der Überzeugung vieler Gläubiger natürlich revolutionär war.
Wandel einer Stadt:
Mit Atatürk begann ein Niedergang der Stadt, die über 2000 Jahre lang die Hauptstadt eines — nach damaligem Verständnis — Weltreiches war. Die Verlegung der Hauptstadt der modernen Türkei nach Ankara (1923) gab Istanbul dem Verfall preis, weil Atatürk die staatlichen Ressourcen in den Aufbau der neuen Hauptstadt steckte. erst in den 50er Jahren erwachte Istanbul aus seiner Agonie. “Spätaussiederl” — türkische Heimatflüchtlinge aus den kommunistischen Balkanländer und Landflüchtlinge aus Anatolien begannen, in die Stadt zu fluten. Seit 1960 verdoppelt sich jedes Jahrzehnt die Anzahl der Bürger Istandbuls. Bereits 1965 waren 2/3 der damals 1,7 Millionen Einwohner Istanbuls zugewandert. Heute leben rund 12 Millionen Einwohner im Einzugsbereich der Stadt. Das Heer der Zuwanderer zerstörte die historische Stadt, die zu verslumen drohte. Die Rettung brachten wieder anatolische Türken, die “Gastarbeiter in Deutschland”. Jedes mal, wenn die dort zu Geld gekommenen Verwandten in die Türkei reisten, musste eine Auslandsversicherung für deren Fahrzeuge abgeschlossen werden, und der ADAC war nur bereit, diese gegen die Hinterlegung einer Kaution von 1.000,- DM (zum Stand der 60er JAhre !) auszustellen. Unter Leitung von Celik Gülersoy — einem kemalistischer Europäer — übernahm der türkische Touring- und Automobilclub diese Versicherung, für eine Gebühr von 50,- DM, die an der Grenze zu entrichten war und vom türkischen Staat (der die Devisen kassierte) in Lira auf das Konto des türkischen Automobilclubs überwiesen wurde. Bei Millionen von Heimaturlaubern erhielt der Club wesentlich mehr Einnahmen, als für Pannendienst, Versicherung in der Türkei usw. benötigt wurde — und der Clubpräsident begann damit, die überschüssigen Gelder in Hotelprojekte in Istanbul zu stecken, mit denen die alte, historische — aber verfallende — Bausubstanz der alten osmanischen Herrschaftshäuser mit den Istanbuler Parks saniert und hergerichtet wurde. Und auch, wenn die Aera der unendlich fließenden Einnahmen seit dem Neunziger Jahren spürbar zurück gegangen ist (1991: zweiter Golfkrieg; 1994: Abschaffung der Zwangsversicherung, Aberkennung der Gemeinnützigkeit für den Automobilclub, Balkankrieg) — Denkmalschutz ist kein Fremdwort mehr, die historische Bausubstanz ist längst als idealer Wohnort für die Istanbuler Avantgarde entdeckt worden.
Istanbul ist die Heimat eines bunten Völkergemisches geworden. Sie alle sind Türken, die Migranten aus Anatolien und vom Schwarzen Meer, aus den ehemals kommunistischen Balkanstaaten und die in Istanbul schon immer ansässigen Familien. Sie alle sind Istanbuler, die Kasimpasa’li, die Bewohner des Istanbuler Stadtteils Kasimpasa — einem Armenviertel, dem auch Recep Taryip Erdogan entstammt -, genauso wie die künstlerische und wirtschaftliche Elite, die hoch über dem Bosporus oder direkt am Wasser in den alten osmanischen Villen wohnt und die wirtschaftlichen Geschicke des Landes beeinflusst.
Ein Istanbuler, das ist also jemand, der (zunehmend) ein Kopftuch bei einer jungen Studentin der Medizin genauso normal findet wie die Tatsache, dass immer mehr junge „almancilar“ – Nachkommen türkischer Gastarbeiter in Deutschland – in die Türkei zurückkommen und in Istanbul ein neues Zuhause finden, in einem Leben zwischen zwei Welten, und damit Atatürks Vision eines weltlichen, europäisch-islamischen Staates verwirklicht.
Istanbul – das ist eine multikulturelle Weltstadt, in der Juden, Christen und Mohammedaner, Griechen, Armenier und Kurden schon seit Jahrhunderten friedlich zusammen leben. 14 Millionen Einwohner bescheren der Hauptstadtregion — und damit der Türkei — mit gut ausgebildeten Nachwuchskräften, einem kaufkräftigen Mittelstand und einer weltoffenen Einstellung ein Wirtschaftswachstum, das den europäischen Nachbarn Tränen des Neids in die Augen treiben könnte.
Istanbul – das ist die Drehschreibe zwischen Asien und Europa, zwischen zwei Meeren, zwischen Islam und Christentum, zwischen Orient und Okzident …
Externer Link:
Eurasisches Magazin EM 09–07 · 30.09.2007: Istanbul — Straßenkino der Gegensätze
Multimedia online:
Die kulturelle Vielfalt, das breite Meinungsspektrum Istanbuls wird durch die Radio- und Fernsehwelt eindrucksvoll belegt. Seitdem – im Jahre 1990 – der erste Privatsender (unter der Leitung des Sohnes von Turgut Özal) „auf Sendung ging“ hat sich eine wahre Explosion ereignet. Über 1000 Rundfunksender – so genau kann das wohl niemand mehr wissen – und eine Vielzahl von TV-Produzenten streiten um die Gunst des Publikums.
Kein Wunder, dass das Spektrum von amerikanischen Serien, schnulzigen Liebespoem und einem kurdischen Exilsender bis hin zu verschleierten Frauen und einer Werbung für alkoholfreie Bars reicht und zwischen einem reinen Nachbarschaftsprogramm bis zum modernen Satellitenempfang das ganze Spektrum der heutigen Technik abdeckt.
Die moderne Türkei hat dann auch die Macht der elektronischen Medien erkannt – und mit Turksat und Eurasiasat ein Satellitenprogramm gestartet, das in die östlichsten Winkel der türkischen Sprachenwelt an Chinas Grenze reicht.
Istanbul uns seine Umgebung bilden auch heue noch das “Wirtschaftsherz” des Landes. Die Provinz Istanbul und Kocaeli sind die am meisten industriealisierten Provinzen des Landes. Nahe am Atatürk-Flughafen befindet sich eine “Freizone “, ein “Steuerparadies für Industrieunternehmen”, und weitere solcher Industrie- und Freizonen folgen in unmittelbarer Nachbarschaft. Auf halbem Weg nach Kocaeli liegt die Zone von Gebze (mit nahem Seehafen und Autobahnanschluss nach Europa), in Kocaeli ist die Freizone Bestandteil der wichtigen Werft.