“Jahrelanges Wachstum hat den Ehrgeiz der Türken geweckt: Sie wollen in der Weltwirtschaft ganz vorn mitspielen. Bei Auslandsinvestitionen haben sie sogar die Inder abgehängt.”
(Aus der FTD vom 12.02.2008)
“Die TÜRKEI glänzt mit ihen Wirtschafsdaten. Scheinbar über Nacht wurde sie zum Modell der muslimischen Welt. Premier Erdogan ist der selbstherrliche Architekt dieses Wunders”
(stern — 03.11.2011 — S. 35 ff)
Das türkische BIP wurde (Stand 2006) zu 26 % von der Industrie erzielt. Handel und Gastgewerbe folgen mit 20 %, Transport und Kommunikation mit 14 %, Finanzdienstleistungen mit 5 % und sonstige Dienstleistungen mit 21 % — der Dienstleistungssektor gehört also zur wichtigsten Branche der Türkei. Land und Forstwirtschaft trägt nur 9 %, die Bauwirtschaft 5 % zum BIP bei.
Die Türkei ist (oder war?) auch für ausländische Investoren ein interessanter Platz. Während 2004 noch etwas weniger als 3 Mrd. $ im Land investiert wurden, waren dies 2007 bereits 22 Mrd. — innerhalb von drei Jahren hatte sich die ausländische Investition mehr als versieben(!)facht. Erst die Finanzkrise 2008/2009 brachte einen deutlichen Einbruch, der möglicherweise durch interne Querelen, den Richtungsstreit im Land und mangelnden Reformeifer verstärkt wurde.
Türkische Wirtschaft:
Die wirtschaftliche Entwicklung der modernen Türkei lässt sich in drei Phasen beschreiben.
Die erste Phase begann mit Atatürk und dauerte von 1923 bis etwa 1950. Diese Phase war geprägt durch einschneidende, umstürzlerische Reformen Atatürks und (nach 1938) durch Ismet Inönü. Hier wurde der Grundstein — weg von der feudalistisch islamischen Struktur des osmanischen Kalifats zur modernen, laizistischen Türkei gelegt,
In der zweiten Phase — 1950 konnten die Türken zum ersten Mal wählen — begannen die unterschiedlichen Strömungen um Macht und Einfluss zu ringen. Die Türkei wurde wesentlich pluralisitscher, musste sich aber auch extremistischer Umstürzler aus allen Lagern — sowohl marxistisch-revolutionärer Terroristen wie den rechtsextremen “Idealistenvereinen” (ülkücüller) erwehren. In dieser Zeit musste (?) das Militär zweimal (1971 und 1980) eingreifen, um die zunehmenden Auseinandersetzungen zu ersticken. Auch der politische Islam begann sich, personalisiert durch die Aktivitäten Turgut Özals und Erbakans zu regen. Mit Turgut Özal (+ 1993) erhielt die Türkei einen politischen Führer, der persönliche Frömmigkeit zugleich mit ökonomischem Sachverstand und Wirtschaftsreformen verbinden konnte. Trotzdem gelang es den etablierten Parteien nicht, sich vom Pfrundewesen für die Parteianhänger und unendlichen Skandalen (“Susurluk”) zu lösen. Insbesondere nach dem Tode Özals bis zum “Großen Knall” verfiel die politische Kultur des Landes immer mehr, dazu kam es zu wirtschaftlichen Problemen. Bereits der erste nach dem Militärputsch von 1983 frei gewählte Ministerpräsident Turgut Özal hatte begonnen, die türkische Wirtschaft radikal zu privatisiern. Der hierdurch ausgelöste Wachstums- und Modernisierungsschub führte aber auch zu den Begleiterscheinungen einer wirtschaftlichen Umstruktierung, die mit der “Notenpresse” bekämpft wurden. Auch der Bürgerkrieg gegen die Kurden verschlang Milliarden — das wirtschaftliche Wachstum war “auf Pump” finanziert und wurde durch die heißlaufende Notenpresse am Laufen gehalten. Diese “Blase” platzte im Februar 2001.
Der Aufstieg der Türkei — die “dritte Phase” - bekann mit einem “Knall”.
Im Februar 2001 konnte der Staat die “Zwangswechselkurse” zum US-$ nicht mehr halten. Das Land verpulverte — in Erfüllung eines Vertrages mit dem Internationalen Währungsfonds — seine gesamten Devisenreserven für Stützungskäufe. Als kein Geld mehr vorhanden war wurde der Wechselkurs der türkischen Lira freigegaben — und die Lira verlor über Nacht fast die Hälfte ihres Wertes. Die Preise explodierten, viele Unternehmen mussten schließen — und die Arbeitslosigkeit erreichte einsame Rekordmarken. Als “Retter in der Not” wurde der stellvertretende Chef der Weltbank, Kela Dervis, gewonnen — der mit einem Milliardenkredit des Internationalen Währungsfonds den Staatsbankrott gerade noch abwenden konnte.
Inzwischen geht es seit Jahren stabil bergauf. Seit dem Herbst 2002 — dem ersten fundamentalem Wahlsieg Erdogans — wächst das BIP der Türkei jährlich durchschnittlich um 7,2 %. Die einst katastrophale Inflationsrate von knapp 70 % ist auf 8,6 % (Stand Juli 2007) gesunken. Die Türkei lockt mit ihrer Infrastruktur und Steuerprivilegien auch weiterhin Investoren an. In 251 Industrie- und 21 Freizonen (Stand: Sommer 2008), letztere auch noch mit Steuerprivilegien ausgestattet, entstehen “Cluster” der Wirtschaftsentwicklung.
Und langsam zeichnet sich eine vierte Phase ab: nach Jahren des Aufstiegs erfolgt eine Konsolidierung. Nach BIP-Steigerungen von bis zu 9,4 % gegenüber dem Vorjahr (2004) konnten 2007 und (voraussichtlich) 2008 nur aten von etwas unter 5 % erreicht werden. Eine über 10,5 % ansteigende Inflationsrate (2007) und zur Inflationsbekämpfung hohe Zentralbankzinsen von bis zu 20 % sorgten dafür, dass Kredite teuer werden — und Investitionen teuer wurden.
Die aktuelle wirtschaftliche Entwicklung:
Die türkische Wirtschaft konnte zuletzt über mehrere Jahre hin mit deutlichen Wachstumsraten aufwarten — und 2005 ein BIP von 340 Mrd. US-$ erwirtschaften. Seit 2002 wächst die türkische Wirtschaft durchschnittlich um 7,5 % — und auch im “Schwächejahr 2006” konnte noch ein Wachstumsschub von 6,1 % verzeichnet werden. Ein Anteil von 2/3 des BIP entfiel auf den Dienstleistungssektor, wärend die Landwirtschaft — die unser Bild von der (anatolischen) Türkei prägt — nur 12 % zum BIP beitrug. Bisher hat sich das Wirtschaftsleben des Landes — wie bereits im Teil “Regionen” geschildert — im Wesentlichen im Raum um Istanbul und entlang der westlichen Küsten am Mittelmeer abgespielt. Kein Wunder also, dass sich die Türkei wirtschaftlich nach Europa orientierte. Nach Meinung des Leiters der Wirtschaftsberatung PricewaterhouseCoopers wird in der Mitte dieses Jahrhunderts die Türkei — mit China, Indien, Russland, Brasilien, Indonesien und Mexico — wirtschaftlich mächtiger sein als jeder der derzeitigen G‑7 Staaten.
Die Weltfinanzkrise hat 2009 auch vor der Türkei nicht halt gemacht. Das Wirtschaftswachstum fiel 2009 gegenüber dem Vorjahr um 4,7 % ab. Die Investitionen blieben um fast 20 % hinter dem Vorjahr zurück — und “der kranke Mann am Bosporus” schien in eine erneute Krise zu taumeln. Dann allerdings hat sich die türkische Wirtschaft in einem Maße erholt, das so nicht erwartet worden war. Bereits 2010 haben die Wachstumsraten bei den Investitionen (knapp 18 %) — auch getragen vom starken Binnenkonsum der über 70 Millionen Türken (+ 7 % in 2010) — wieder das “Vorkrisenniveau” erreicht. Die Industrieproduktion wird voraussichtlich um 10 % wachsen und damit den Vorjahreseinbruch (- 9 %) mehr als wett machen. Und der Aufschwung hält an. 2012 lag das Wachstum der türkischen Wirtschaft bei 8,5 %. Da die Nachfrage der Türken selbst nicht befriedigt werden kann wird kräftig importiert — vor allem aus Südosteuropa. Aber auch Deutschland (10 % der importieren Waren sind “made in Germany”) profitiert von der Nachfrage aus der Türkei.
Mit dem “Marmary-Bahntunnel” wird das TRACECA (TRAnsport Corridor Europa Caucasus Asia) — Bahnprojekt im Jahr 2013 den Schienenschluss zwischen Europa und Asien vollziehen. Gleichzeitig wird an der dritten Bosporusbrücke — und am dritten Großflughafen geplant.
Knapp 60 % des im Land investierten Auslandsmittel stammen aus der EU. Etwa 50 % des türkischen Exports fließt in die EU, aber auch in Russland und — zunehmend — in den zentralasiatischen Staaten sind türkische Maschinenbauer, Pharmaunternehmer und Textilfabrikanten zunehmend in führenden Positionen im Markt vertreten. Daimler lässte in den Werken Hosdere und Davutpasa Lastwägen und Autobusse fertigen. Yilmau Redüktör ist zu einem auch für Europa wichtigen Zulieferer (Getriebe) geworden. Der türkische Haushaltswarenhersteller Arcelik (Kühlschränke, Waschmaschinen) mutiert zu einem High-Tech-Unternehmen.
Auch in der Türkei kann die Automobilindustrie als Symbol für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes gelten. Nicht nur, dass in den Automobilfabriken hunderte und tausende von Arbeitsplätzen entstehen — auch der lokale Absatz und die nachgefragte Typenvielfalt zeigt den Bedarf — und das Einkommen — breiter Bevölkerungsschichten. Rund 1000 Unternehmen mit 250.000 Arbeitsplätzen produzieren zur Zeit in der Türkei in diesem Industriesektor. Mit einer angestrebten Produktion von mehr als zwei Millionen Fahrzeugen im Jahr 2010 möchte sich die Türkei auch in den Reigen der zehn größten Fahrzeughersteller der Welt einreihen.
Derzeit (2007) nimmt auch der inlandische Automobilmarkt zu. Das ist kein Wunder, wenn man bedenkt, dass das Land mit seinem Motorisierungsgrad noch hinter seinen europäischen Nachbarländern Bulgarien und Rumänien zurücksteht.
Allerdings ist die Automobilindustrie der Türkei (noch) weitgehend auf den Export hin orientiert. In der Türkei laufen nicht nur die Kleintransporter Fiat Doblo und Ford Transit Connect vom Band. Im September 2007 wurde im Gemeinschaftsunternehmen Tofas (Fiat und Koc Holding) die Produktion des vollständig in der Türkei entwickelten Kleintransporters Minicargo aufgenommen, der auch von Peugeot und Citroen (PSA Group) vertrieben werden wird. Über 160.000 Fahrzeuge sollen zunächst jährlich gebaut werden — zu 95 % für den Export. Bis 2010 soll die Produktion sogar die Millionengrenze erreichen. Renault lässt die Modelle Megane und Clio komplett in der Türkei fertigen. Dazu kommen die Exportfertigungen für Toyota (Corolla), Honda (Zivic) und Hyundai (Accent). Die Automobilindustrie profitiert dabei vor allem von den — im Verhältnis zu Westeuropa um etwa 4/5 niedrigeren — günstigen Lohnkosten, den dennoch hohen Qualitätsstandards und den günstigen kurzen Transportwegen in die EU.
Eigene Energieversorgung:
Wie alle wirtschaftlich wachsenden Staaten benötigt auch die Türkei immer mehr Energie. Die Nachfrage nach Stromversorgung wächst jährlich um 7 bis 8 Prozent. Die Kraftwerke erzeugen rund 41.000 Megawatt — und jährlich kommt ein Bedarf von rd. 3.000 Megawatt hinzu.
Allerdings: die Möglichkeiten zur Erzeugung von Strom aus Wasserkraftwerken sind nahezu ausgeschöpft. Atomkraftwerke sind in einer potentiell von Erdbeben bedrohten, unstabilen Region auch nicht ideal.
Die Türkei setzt daher vermehr auf Windenergie. Nach Schätzungen von Experten sollen potentiell knapp 90.000 Megawatt erzeugbar sein. In einer “ersten Welle” sind ab 2004 bis 2006 Anlagen in Höhe von 1.000 Megawatt genehmigt worden. Im Jahre 2008 wird sich die Kapazität von Windpakranlagen von 280 auf etwa 560 Megawatt verdoppeln. Eine “zweite Welle” erbrachte weitere Anträge, von denen bis 2015 zwischen 4.500 Megawatt nach vorsichtigen Schätzungen) bis zu etwa 15.000 Megawatt errichtet werden könnten — die Kapazität von 15 Atomkraftwerken.
Gazprom liefert der Türkei derzeit (Stand Januar 2009) 63 Prozent des Gasverbrauches ist zu noch größeren Lieferungen bereit. Im Jahr 2007 waren das rund 25 Milliarden Kubikmeter, von denen zehn Milliarden über die Blue-Stream-Leitung bereitgestellt wurden.
Russlands Öllieferungen an die Türkei belaufen sich auf etwa 1,8 Milliarden Dollar im Jahr, hinzu kommen noch 1,2 bis 1,3 Milliarden Dollar für Erdölprodukte.