Exkurs: Sunnitischer Islam
Wer heute über den sunnitischen Islam nachdenken will, der kommt an Ägypten nicht vorbei. Zunächst einmal ein paar Fakten: etwa 90 % der 1,4 bis 1,5 Mrd. Muslime weltweit, der zweitgrößten monolithischen Religion, gehören der sunnitischen Richtung des Islam an, der in vier recht früh gegründete Rechtsschulen (7.- 8. Jhdt) die der Hannefiten, Shafiten, Hambaliten und Malikiten (benannt nach den Lehrern der Schulen) und unzählige Gruppierungen und Organisationen gespalten ist. Diese sind eher offen, pragmatisch — auch gegenüber der Wissenschaft eingestellt.
Es gibt — seit der Abschaffung des Kalifats — kein umfassendes und letztentscheidendes Führungsamt wie die Institution des Papstes in der katholischen Kirche. Der sunnitische Islam ist von daher heute mit den evangelischen Kirchen vergleichbar. So wie dort die “Bibel”, die “Heilige Schrift” die Grundlage einer Erkenntnis ist, die jeder Gläubige selbst gewinnen muss und kann, so ist im sunnitischen Islam der Koran als Heilige Schrift und die Sunna sowie die Hadith als Rechtsgrundlage einer gottgewollten irdischen Ordnung zu verstehen, die von den Muftis, den Theologen und Rechtsgelehrten des Islam interpretiert wird. Für Hunderte Millionen Sunniten besteht der Glaube vor allem in der Erfüllung religiöser Pflichten — vom fünfmaligen Gebet über die Mildtätigkeit für die Armen, den strikten Fastenregeln des Ramadan und der Pilgerfahrt nach Mekka.
Wenn man die Sunniten allgemein mit den evangelischen Kirchen vergleicht, dann bietet sich ein weiterer Vergleich mit einer Minderheitsform der Sunniten, der fundamentalistisch wahabitischen Lehre an, die dann etwa einer Gruppierung der fundamentalistischen “Evangelikalen” entspräche. Der Schiismus, die Theokratie des Iran, könnten dann grob vereinfacht mit der hierarchischen Struktur der katholischen Kirche im Christentum verglichen werden.
Ägypten ist die Heimat von zwei elementaren Instanzen im sunnitischen Islam:
Da sind zum einen die Theologen und Rechtswissenschaftler der bereits genannten, altehrwürdigen Al-Azhar, die von sich beansprucht, den “Leitstand der sunnitischen Orthodoxie” zu bilden. Die Fatwas, also Rechtsgutachten, der Dozenten der al-Azhar und insbesondere der Vorsitzenden des Rechtsgutachterrates (arab. dar al-ifta) genießen bei Sunniten besondere Beachtung, die in ihrer Tragweite wohl den offiziellen Verlautbarungen der christlichen Kirchen gleichkommt, obwohl auch die Fatwas der al-Azhar nach sunnitischer Lehre keine Rechtsverbindlichkeit besitzen, sondern letztlich Privatäußerungen des betreffenden Gelehrten darstellen. Diese Rechtsgelehrten (Muftis) haben teilweise große Autorität. Sie erstellen solche Rechtsgutachten, indem sie nach seinem besten theologischen Wissen nach den Richtlinien seiner Rechtsschule, der sie angehören, die an sie gerichteten Frage beantworten. Auch eine Frau kann das Amt eines Muftis ausüben, das Amt des Richters, der letztendlich rechtsverbindliche Regelungen trifft, ist nach dem islamischen Gesetz dagegen Männern vorbehalten.
Zu den bedeutendsten sunnitischen Rechtsgelehrten der Gegenwahrt zählen
Dr. Muhammad Sayyed Ahmad al-Masir: Dozent für Islamische Kultur der al-Azhar Universität Kairo/Ägpyten
Dr. Su’ad al-Saleh: Dozentin für Islamisches Recht an der Universität al-Azhar, Kairo/Ägypten
Dr. Ali Djum’a Muhammad: Vorsitzender des Rechtsgutachterrates der Universität al-Azhar Kairo/Ägypten
Sheich ‘Atiya Sakr: Ehemaliger Vorsitzender des Rechtsgutachterrates der Universität al-Azhar Kairo/Ägypten
Die Bedeutung de Al-Azhar wurzelt in der Zeit, als das Abbasidische Kalifat nach der Eroberung Bagdads durch die Mongolen (1258) durch die Flucht einiger Abbasiden in Ägypten neu begründet werden konnte. Seit 1261 befand sich das Kalifat der sunnitischen Abbasiden — verbunden mit dem religiösen Führungsanspruch über alle Muslime — in Kairo, und erst die Eroberung Ägyptens durch die Osmanen (1517) führte dazu, dass der Führungsanspruch des Kalifats auf die osmanischen Sultane übertragen wurde. Der Kalif, der Nachfolger des Propheten — so die seinerzeit herrschende Meinung — sollte nicht nur der religiöse Führer der islamischen Gemeinschaft, der Umma, sein, sondern darüber hinaus in der Lage, die Gemeinschaft im Dschihad, im Heiligen Kreg, zu verteidigen und zu führen. Deshalb wurde den mächtigen Sultanen des Osmanischen Reiches und erstmals nicht (mehr) einem Angehörigen der Familie Mohammeds (wie das vorher der Fall war) das Kalifat übertragen. Das Amt des Kalifen kann in seiner spirituell-religiösen Ebene mit dem des Papstes vergleichen werden — zugleich aber verbunden mit einer politisch und militärischen Führungsmacht, die den osmanischen Sultanen innewohnte.
Dennoch hat sich die Bedeutung Ägyptens für die sunnitische Lehre des Islam bewahrt. Die theologischen Universitäten in Ägypten (Kairo) und der Türkei (Istanbul) können seither als die “Hochburgen” der sunnitisch-islamischen Theologie bezeichnet werden.
Ägypten ist auch die Heimat der “Muslimbrüder” — einer sunnitischen Gemeinschaft unter der Leitung von Mohammed Mahdi Akef (seit 2004), die im Gaza-Streifen die Gründung der Hamas gefördert hat. Die “Muslimbrüder” entstanden 1928 im Kampf gegen die britischen Kolonialherren. Der Ägypter Sayed Qutb radikalisierte die Gemeinschaft mit der These, der gewaltsame Widerstand gegen eine ungerechte Regierung im eigenen Land sei Muslim-Pflicht. Die Muslimbrüder sind in Ägypten — obwohl sie offiziell der Gewalt abgeschworen haben — verboten, konnten aber durch Einzelpersönlichkeiten im politischen Leben durchaus Einfluss gewinnen. Heute sind die Vertreter der Muslimbrüder die wichtigste Opposition in Ägyptens Parlament. Sie haben Ägypten mit einem Konglomerat an Bildungs- und Sozialeinrichtungen überzogen und die Repräsentanten dieser Einrichtungen werden über die Listen anderer Parteien werden in das Parlament gewählt. Mit denselben Methoden konnten Verbindungen der Bruderschaft auch in die benachbarten arabischen Länder geknüpft werden. Die Hamas in Palästina, die seit dem Tod Arafats (2004) die säkulare Al Fatah verdrängt, ist bereits genannt. Muslimbrüder gehören dem Parlament Jordaniens an, arbeiten in Syrien im Untergrund, organisieren sich im Libanon und im Irak. Das theologische Grundgerüst der Moslembrüder gibt ein Interview wieder, das die Süddeutsche Zeitung mit dem Geologie-Professor Mohammed Habib (Assiut-Universität) und stellvertretendem “Obersten Leiter” der Bruderschaft führte und am 8./9.12.2006 abdruckte. Nach einem Bekenntnis zur Gewaltfreiheit und Demokratie wird zitiert:
“Die Demokratie muss zusammengehen mit unseren Normen und Werten. Wir vertreten Pluralismus, Unabhängigkeit der Gerichte, Volkssouveränität. Also gibt es keinen Widerspruch zwischen Islam und Demokratie. Aber kein Gesetz darf der Scharia, dem islamischen Gesetz, entgegenehstehen. Das ist ein göttliches Gesetz. Es regelt alle Lebensbereiche. Wir müssen ihm stets folgen. Aber es gibt Konstanden und Dinge, die man ändern kann. … Es gibt kulturelle Eigenheiten der Araber, die wir bewahren müssen. Aber wenn es um die Werkzeuge der Demokratie (die freiw Wahl der Regierung) geht, dann können wir sie akzeptieren. … Wir wollen einen zivilen Staat. Er darf einer religiösen Theokratie nicht ähneln. Das heißt nicht, dass wir eine religiöse Basis des Staates ablehen. Aber Regierung und Gerichte müssen unabhängig sein.”
Bei den ersten Wahlen nach dem Sturz Mubaraks (Arabellion 2011) konnte die Partei für Gerechtigkeit und Freiheit der Muslimbruderschaft weitaus als größte Partei im neu gewählten Parlament eintreten. Sie sind eine Mittelstandspartei nach dem Vorbild der türkischen AKP. und repräsentieren vor allem konservative Ärzte, Geschäftsleute, Ingenieure, und Studenten..
Radikal fundamentalistisch überholt werden die Muslimbrüder durch die Salafisten, die nach Schätzungen aus Ägypten für den Wahlkampf 2011 mit bis zu 100 Millionen Dollar aus Saudi Arabien unterstützt wurden. Der Begriff „Salafiyya“ weist auf die rückwärts gewandte Orientierung der Mitglieder hin. Heute werden Salafisten jedoch als Anhänger des fundamentalen, saudi-arabischen Wahhabismus angesehen. “Viele ihrer bis zu 100.000 Mitglieder in Ägypten hätten in Saudi-Arabien gearbeitet und seien in den 70er- und 80er-Jahren von dort zurückgekommen” zitiert die Welt Said Ghallab, Professor für Politikwissenschaften an der Pharos-Universität in Alexandria.
Wie sehr restriktives Gedankengut inzwischen in Ägypten die Geistesfreiheit und Wissenschaft beeinträchtigt zeigt das Schicksal von Prof. Nasr Hamid Abu Zaid, der als hermeneutisch geschulte Literaturwissenschaftler den religiösen Text Koran nach den Bedingungen und Möglichkeiten seiner Rezeption hinterfragt und damit als “Apostat” > zwangsgeschieden < und de schon 1995 ins Exil getrieben wurde.
Über weitere wichtige sunnitische Richtungen wie den strengen Wahabismus (Saudi Arabien) mit der daraus hervorgegangenen Fundamental-Lehre des Bin Laden, den offenen, auch wissenschaftlichen Disput nicht scheuenden “aufgeklärten Islam” (Türkei) und den postsowjetischen Sunni-Islam (Eurasien ‑Türkische Einheit — der Traum von Großturkestan, Russland und Kaukasus) werden wir in den jeweiligen Länderdossiers berichten — wobei hier ausdrücklich darauf hingewiesen wird, dass es sich hierbe um extreme Minderheiten der sunnitischen Ausrichtung handelt.
Genauso wird der Schiismus einen Platz im Hauptland der schiitischen Lehre, im Iran-Dossier finden, was allerdings nicht heißt, dass der Schiismus auf den Iran beschränkt sei. Aserbaidschn, Irak und Libanon, der Jemen und ein Teilgebiet im mittleren Afghanistan werden ebenfalls durch die Schiiten geprägt.
Ägypten befindet sich — wie die gesamte islamische Welt — in einem schwierigen, fast mörderischen Spagat zwischen Tradition und Moderne, der die Gesellschaft zu zerreißen droht.
Externer Link:
Fundamentalist ist immer der andere — (www-user.uni-bremen.de)