Arabischer Maghreb — Algerien

Algerien Algeria

 

 

1997 – Hoff­nung auf poli­tis­che Lösung
Para­dox­er­weise schien ger­ade die in Anbe­tra­cht dieser Mas­sak­er dro­hende „Gewal­tausweitung“ den Anlass dafür zu geben, dass inner­halb der Armee und der islamistis­chen Verbindung von AIS und FIS die Bedin­gun­gen für eine Ver­söh­nung geschaf­fen wur­den. Das kollek­tive Mor­den von Kindern, Frauen und Greisen im Laufe des Jahres 1996/97 hat­te bewirkt, dass sich die poli­tis­che Klasse Alge­riens und auch die inter­na­tionale Gemein­schaft zunehmend des Dra­mas bewusst wur­den, das sich hin­ter ver­schlosse­nen Türen abspielt. Die Mas­sak­er stellen einen Wen­depunkt in dem Bürg­erkrieg dar.  Durch diese kollek­tiv­en Ermor­dun­gen ist die Armee um den Erfolg gebracht, den sie auf­grund der pos­i­tiv­en Ergeb­nisse ihrer Sicher­heit­spoli­tik seit dem Abbruch des Wahlver­fahrens für sich ver­buchen kon­nte. Es war dem Mil­itär­regime ja tat­säch­lich gelun­gen, ver­schieden­ste bewaffnete Islamis­ten­grup­pen auszumerzen.

  • Gle­ichzeit­ig mussten die poli­tis­chen Parteien der Oppo­si­tion, die sich für eine friedliche Lösung des Kon­flik­ts aussprechen, als offen­sichtliche Tat­sache anerken­nen, dass die algerische Armee wieder eine wichtige Machtin­stanz ist. Ihr Erfolg im Hin­blick auf die islamistis­che Gueril­la ste­ht außer Frage. Polizei und Armee funk­tion­ieren. Eine Lösung des Kon­flik­ts kon­nte nach den Mas­sak­ern nur mit – und nicht gegen die Mil­itär­regierung erfolgen.

  • Die islamistis­chen Fun­da­men­tal­is­ten selb­st ver­loren mit diesen Mas­sak­ern let­z­tendlich die Unter­stützung der Bevölkerung. Eine Gueril­la, die sich unter der Zivil­bevölkerung nicht mehr wie der „Fisch im Wass­er“ bewe­gen und ver­ber­gen kann, ver­liert ihre Schlagkraft.

  • Die vier Men­schen­recht­sor­gan­i­sa­tio­nen amnesty inter­na­tion­al, Human Rights Watch, Inter­na­tionale Liga für Men­schen­rechte und Reporter ohne Gren­zen forderten am 15.10.97 in ein­er gemein­samen Erk­lärung die UN-Men­schen­recht­skom­mis­sion auf, eine Son­der­sitzung über die Lage in Alge­rien einzu­berufen. Auch die EU – und damit vor allem auch die ehe­ma­lige Kolo­nial­macht Frankre­ich — sei gefordert.

Inzwis­chen hat­te allerd­ings der interne Har­mon­isierungs- und Befriedung­sprozess Alge­riens begonnen.
Mit Aus­nahme der Islamis­chen Ret­tungs­front (FIS) nah­men im Juni 1997 alle Parteien, die bis dahin die soge­nan­nte „Ver­weigerungs­front“ bilde­ten, an den Wahlen teil und erk­lärten sich bere­it, ihre Sitze in der algerischen Nation­alver­samm­lung einzunehmen. Im Sep­tem­ber des­sel­ben Jahres kündigte der bewaffnete Arm des FIS, die Islamis­che Armee des Heils (AIS), die Ein­stel­lung des bewaffneten Kampfes an, die am 1. Okto­ber in Kraft trat.
Seit 1997 gehen die meis­ten Schätzun­gen von weniger als 500 Toten im Monat aus. Die Zahlen stützen die Posi­tion der Regierung, die von ein­er Verbesserung der „öffentlichen Sicher­heit“ spricht.
Die 1993 vor der Zahlung­sun­fähigkeit ste­hende Regierung von Ahmed Ouyahyia verkün­det Ende des Jahres 1997, dass sie über eine Währungsre­serve von 8,5 Mil­liar­den Dol­lar ver­fügt und nicht beab­sichti­gen würde, den Struk­tu­ran­pas­sungs­plan im Jahr 1998 zurück­zuziehen. Inner­halb von weni­gen Jahren gelang es dem algerischen Regime, die Sit­u­a­tion zu seinen Gun­sten zu wen­den. Dieselbe Regierung, die 1993 kurz vor dem Zusam­men­bruch ste­ht, beze­ich­nete 1997 die Gewal­tak­te inner­halb des Lan­des als eine „Ran­der­schei­n­ung“.

1998 bis ? – der Bürg­erkrieg geht weiter:
Das Bekan­nt wer­den der fürchter­lichen Mas­sak­er in Alge­rien, denen zu Beginn des Jahres teil­weise mehrere hun­dert Men­schen zum Opfer fie­len, schreck­te die Weltöf­fentlichkeit ein wenig auf. Die Lage im Land selb­st wird immer undurch­sichtiger: Das Regime hat das staatliche Gewalt­monopol aufgelöst und ca. 200.000 “Patri­oten” zur Selb­stvertei­di­gung bewaffnet. Diese führen nun auf eigene Rech­nung Krieg. Dabei ver­schär­fen sich die Kämpfe, die hin­ter den Kulis­sen aus­ge­tra­gen wur­den. Der für Feb­ru­ar 1999 angekündigte vorzeit­ige Rück­tritt des Präsi­den­ten-Gen­er­als Zer­oual eben­so wie die Ent­mach­tung seines wichtig­sten Rat­ge­bers, des früheren Geheim­di­en­stchefs Gen­er­al Bet­chine führten zu einem Machtwech­sel, der im April 1999 zur Wahl eines neuen Präsi­den­ten — Abde­laz­iz Boute­fli­ka – führte.
Auch unter Boute­fli­ka hat der Bürg­erkrieg ohne Fron­ten und Gesichter kein Ende gefun­den. Die Erwartun­gen, die viele auf Boute­fli­ka geset­zt hat­ten, wur­den ent­täuscht. Die einzi­gen Erfolge, die er errin­gen kon­nte, waren außen­poli­tis­ch­er Natur. So kon­nte er sowohl die Beziehun­gen zu Frankre­ich verbessern (was auss­chließlich mit wirtschaftlichen Inter­essen zu erk­lären ist, denn Paris küm­mert sich tra­di­tionell wenig um die Men­schen­rechtssi­t­u­a­tion in ihren ehe­ma­li­gen “Kolonien”), als auch im Krieg zwis­chen Äthiopi­en und Eritrea eine kon­struk­tive Rolle als Ver­mit­tler spie­len. Um die Lage im Land ste­ht es dage­gen nach wie vor schlecht.
Die algerische Zeitung “Libéra­tion” gab einen makabren Witz wieder, nach dem der Absturz der franzö­sis­chen “Con­corde” 100 Tote gefordert habe, der Absturz der algerischen “Con­corde” aber 1.000. Gemeint ist damit die “zivile Ein­tra­cht” (franzö­sisch: con­corde), die Boute­fli­ka durch eine großzügige Teil­amnestie und soziale Wiedere­ingliederung reuiger Ter­ror­is­ten ursprünglich stiften wollte. Arrang­iert hat­te sich lediglich der bewaffnete Arm der Islamis­chen Heils­front, die AIS-Islamis­che Ret­tungsarmee, aus deren Rei­hen der Großteil der ins­ge­samt 5.500 “Reuigen” kommt.
Andere bewaffnete Grup­pen set­zen ihren Kampf mit unver­min­dert­er Härte fort und scheinen auch über genü­gend Nach­wuchs zu ver­fü­gen. “Islamis­che” Züge trägt deren “Kampf” keineswegs. Die Über­fälle auf die — meist ländliche — Zivil­bevölkerung dienen sowohl der unmit­tel­baren Erbeu­tung von Rindern und Schafen, als auch der Vertrei­bung der bäuer­lichen Bevölkerung von ihren Grundstücken.
Nach einem Bericht des algerischen mil­itärischen Sicher­heits­di­en­stes sind im Jahr 2000 ins­ge­samt 1.025 “islamistis­che” Unter­grund­kämpfer getötet wor­den. Dem standen 603 getötete Sicher­heit­skräfte und 117 “Dor­fwächter” gegenüber.

Auf­s­tand der Berber
Anfang des Jahres 2001 provozierten algerische Regierungsvertreter zudem einen Auf­s­tand der Kabylien. Die Kabylen, Berber wie die Chaouis im Aurès-Gebirge, die Tuareg im Sahel oder die Chleuhs in Marokko, ver­ste­hen sich als unter­drück­te Min­der­heit mit eigen­er Kul­tur. Im März wur­den Ein­heit­en nach Tizi ver­legt. Gen­dar­men mis­shan­del­ten Jugendliche in Beja­ia, erpressten Bauern in Boud­ji­ma, belästigten Ladenbe­sitzer in Tizi. Die Stim­mung kochte hoch. Am 18. April wurde Mohamed Guer­mah von der Strasse weg ver­haftet. Auf dem Posten richtete ihn ein Gen­darm mit ein­er Salve aus der Maschi­nen­pis­tole hin. Aus­gerech­net in Beni Douala, dem Geburt­sort des ermorde­ten Sängers Matoub Lounes, eines radikalen Region­al­is­ten. Aus­gerech­net im April, am Vor­abend des Gedenk­tages für die Nieder­schla­gung des “Berber­früh­lings” 1980. Damals hat­ten sich die Kabylen für ihre kul­turellen Rechte erhoben.
Sei­ther wird der Bürg­erkrieg Alge­riens, der sich zunächst als Krieg zwis­chen Islamis­ten und ein­er Sozial­is­tis­chen Mil­itär­regierung darstellte, zusät­zlich durch mas­sive eth­nis­che Kon­flik­te ver­stärkt und über­lagert. Auch wenn die islamistis­chen Ter­ror­is­ten weit­ge­hend ihre Waf­fen niedergelegt haben, der Bürg­erkrieg geht mit niedriger Inten­sität und in ander­er Gemen­ge­lage weiter.

Langsame Beruhi­gung der Lage:
Alge­riens blutiges Jahrzehnt wurde während Boute­flikas ersten Amt­szeit Ver­gan­gen­heit (ab 1999) langsam been­det. Ob er es per­sön­lich durch seine Poli­tik der ¸¸zivilen Ein­tra­cht” bewirk­te, ob die ¸¸Aus­rot­ter” unter den Gen­erälen die Extrem­is­ten im Unter­grund so weit dez­imierten, dass sie keine Gefahr mehr im All­t­ag sind, ob das sym­pa­thisierende Umfeld nicht zulet­zt durch die verän­derte inter­na­tionale Lage aus­trock­nete — für das Ver­ständ­nis der Algerier ist das alles weniger wichtig. Für sie zählt allein das Ergeb­nis: Sie kön­nen wieder ohne Todesäng­ste schlafen. Tausende von Kämpfern stiegen von ihren Bergen und nah­men die ver­sproch­ene Amnestie an.

Sei­ther befind­et sich Alge­rien — auch gesellschaftlich — in einem Umbruch. Etwa die Hälfte der Algerier ist jünger als 25 Jahre, und drängt auf einen Arbeits­markt, der nur den gebilde­teren aus­re­ichende Arbeitsmöglichkeit­en offeriert. ein “run auf Bil­dung” ist die Folge.