Sozialistische Republik Algerien
Durch einen blutigen Regierungsputsch von 1965 gelangte der Oberbefehlshaber der Armee, Oberst Boumedienne an die Macht. Boumedienne orienterte sich in der Zeit des „Kalten Krieges“ an den kommunistischen Staaten, was sowohl in der Distanz zur ehemaligen Kolonialmacht Frankreich wie auch als Gegengewicht zu einer Islamisierung der Gesellschaft zu verstehen ist. Auch Algerien sollte nach sozialistischem Vorbild industriealisiert werden. Unter dem Leitbild eines “islamischen Sozialismus” setzte Boumedienne als Staatschef und Vorsitzenden des Revolutionsrats (1965 — 77) die bereits vorher begonnene Politik der Verstaatlichung von Industrieunternehmen fort. Gestützt auf die Einnahmen aus dem Erdölexport, setzte er sich vor allem die Erweiterung des Bereichs staatseigener Industrien zum Ziel.
Ähnlich wie sein Vorgänger Ben Bella versuchte Boumediène, die Oulémas insbesondere deren islamistischen Flügel, durch Konzessionen einzubinden. Anders als etwa Bourguiba in Tunesien, änderte Boumediène die Rechtslage der Frauen nicht fundamental in Richtung Gleichberechtigung. Die algerische “Nationalen Charta” (die Grundlage der Verfassung werden sollte) von 1976, und per Referendum bestätigt wurde, schrieb zwar die führende Rolle des FLN im Staat fest und legte Algerien auf einen den Bedingungen der Dritten Welt angepassten Sozialismus fest. Aber gleichzeitig wurde darin auch der Islam zur Staatsreligion erklärt.
Die an der Küste liegenden Stadtzentren konzentrieren sich auf die Industrieproduktion. Die hochwertigen Eisenerze von Quenza werden im Stahlkombinat El Hadjar/Annaba verhüttet.
Algerien verstaatlicht die französischen Erdöl- und Gasgesellschaften. Die im Friedensabkommen von 1962 ausgehandelten besonderen Beziehungen waren damit beendet. In der Folgezeit partizipierte Algerien am Ölboom; deren Erträge vor allem die Machthaber vereinnahmten. Dennoch konnte ein bescheidener Wohlstand für viele Algerierinnen und Algerier entstehen. Doch die Probleme wuchsen.
Nach dem Tod Boumediennes (27.12.1978) wählte die FLN Chaldi Bendjeddid im Januar 1979 zu ihrem Generalsekretär und nominierte ihn für das Amt des Staatspräsidenten. Nachdem ihn die Bevölkerung in direkter Wahl (Februar 1979) in diesem Amt bestätigt hatte, ernannte er im März 1979 M. ben A. Abdelfhani zum Ministerpräsidenten.
Die neue Staats- und Parteiführung schlug einen wirtschaftlich pragmatischen Kurs ein.
Allerdings zeichneten sich bereits 1980/81 ethnische Konflikte ab. Eine Arabisierungskampagne führte zu Unruhen unter den Berbern, die vor allem die Anerkennung ihrer kulturellen Eigenständigkeit forderten.
Die wirtschaftliche Scheinblüte platzte Ende der 80er Jahre. und die sozialen Kehrseiten der hastig betriebenen, vom Regime verordneten Industrialisierung wurden sichtbar. Algerien war pleite. Der IWF diktierte Preiserhöhungen. Algerien geriet aus dem sozialen Gleichgewicht: Hier eine Nomenklatur, die einen guten Teil der nicht mehr so üppig sprudelnden Öl- und Gaseinnahmen für sich beanspruchte; dort die Obdachlosen und die Jugendlichen, die zwar eine Schulbildung erhalten hatten, aber mit keinem Arbeitsplatz rechnen konnten. Im Müssiggang, in der Enttäuschung und dem Ressentiment dieser sozialen Schicht fanden die Islamisten einen reichen Nährboden. 1988 kam es zum Aufstand. Mehrere hundert, möglicherweise bis zu 5000, Jugendliche wurden erschossen oder anderweitig umgebracht. Doch führte dieser Aufstand zu einer neuen Welle demokratischer Bewegungen. Das Regime hatte abgewirtschaftet. Im Jahr 1989 wurde eine neue Verfassung verabschiedet, die eine politische Vormachtstellung der FLN lockerte und anderen politischen Gruppierungen die Tür öffnete. In Algeriens neuer Verfassung wurde das Mehrparteiensystem verankert, der Sozialismus dagegen nicht mehr erwähnt.
Bei den Wahlen 1990 und 1991 wurden (meist noch aus Protest) die Islamisten gewählt, doch bevor im entscheidenden zweiten Wahlgang die Islamisten die absolute Mehrheit bei den Parlamentswahlen erringen konnten, putschte das Militär.
1991 – 1997 Bürgerkrieg
Mit diesem Bürgerkrieg in Algerien scheinen die meisten westlichen Länder wenig anfangen zu können: Ein Krieg zwischen einem „(sozialistisches?) Militärregime“ und den »Islamisten«, in dem man beim besten Willen keine Partei ergreifen kann. Zwei Kräfte bekämpfen sich dort. Der Staat einerseits, die islamistischen bewaffneten Gruppen andererseits. Die Anzahl der Todesopfer des Bürgerkrieges wird allerdings alleine von 1991 bis 1997 auf mindestens 100.000 Tote geschätzt. Systematische Folter, geheime Gefängnisse, 5000 «Verschwundene», mindestens 50’000 politische Gefangene und die zunehmende Militarisierung und Brutalisierung der ganzen algerischen Gesellschaft — eine solche Gewaltorgie prägt eine Gesellschaft. Es kann den europäischen Nachbarn daher nicht egal sein, was sich südlich des Mittelmeeres in Algerien abspielt.
Wie kam es zu diesem Blutrausch?
1991 hatte das algerische Militärregime die algerischen Wahlen abgebrochen, als sich ein Sieg der Islamischen Heilsfront (FIS) abzeichnete. Die fundamentalistische FIS forderte einen Gottesstaat und ist in Algerien verboten.
Seit 1991 herrschte in Algerien Bürgerkrieg, Der militärischer Arm der FIS, die AIS (Islamische Armee des Heils), vor allem aber die mörderische Splittergruppe GIA (Bewaffnete Islamische Gruppe), terrorisieren die Bevölkerung mit Massakern und Attentaten. Die GIA bezeichnet ihre Bluttaten als “Opfergabe an Gott”.
Zwischen 1993 und 1995 forderte der Algerische Bürgerkrieg wöchentlich manchmal über 500 Todesopfer.
Der Krieg hat beispiellose Formen und eine bislang unbekannte Gewalt angenommen, besonders seit der Verbreitung der Milizen in ländlichen und vorstädtischen Gebieten.
Zwischen 1993 und 1997 stellten drei große Herausforderungen eine Bedrohung für die algerische Regierung dar:
- die Herausbildung einer politischen Alternative,
- das Entstehen einer islamistischen Guerilla
- und der finanzielle Ruin des Staates.
Das Hervortreten der zahlreichen paramilitärischen Gruppen (Milizen, „Todesschwadronen“, Spezialeinheiten etc.) und die sich ständig spaltenden bewaffneten islamistischen Gruppen hatten das Wesen des Krieges bestimmend verändert. Es gab nicht mehr den Krieg der „Islamisten“ gegen eine „Sozialistische Regierung“, es gab einen Bürgerkrieg der sich vor allem gegen die Zivilbevölkerung, gegen Frauen und Kinder richtete und in Massakern im Jahre 1997 seinen Höhepunkt fand. Jede Woche war von Massakern zu lesen: nachts wurden Dörfer und Städte überfallen, den Frauen, Kindern, sogar Babys wurden die Kehlen durchschnitten oder sie wurden geköpft. Am 30.09.97 berichtete die Nachrichtenagentur Reuter davon, dass moslemische Fundamentalisten elf Lehrerinnen überfallen und ermordet haben. Auch ihnen wurden die Kehlen durchgeschnitten. Zuvor waren die Frauen mehrfach bedrängt worden, ihre Arbeit aufzugeben.
Externer Link:
Algerien — (www.sozialwiss.uni-hamburg.de)