Afghanistan am Ende der Wirren?
Wo soll bei diesem Konglomerat an widersprüchlichen Interessen der Anfangspunkt der Verwirrungen gesetzt werden?
war dies der Sturz der einigenden Monarchie, die das Volk langsam in die Moderne führen wollte,
war dies die Invasion der sowjetischen Besatzungstruppen 1979, die nicht nur ein unruhiges Afghanistan an der Südflanke des Sowjet-Imperiums verhindern sondern auch noch den Zugriff zum indischen Ozean ermöglichen sollte,
war es die Zeit der Mujaheddin, die mit US-amerikanischer Unterstützung und Waffenhilfe gegen die sowjetischen Truppen vorgingen, um sich dann selbst in blutigen Kämpfen und wechselnden Bündnissen gegenseitig die Herrschaft streitig zu machen
oder
war es die Zeit der Taliban, denen es in kurzer Zeit gelang, widerstrebende Provinzherren und Kriegsfürsten an den Rand der Niederlage zu drängen?
Die Zeit scheint reif für eine friedliche Übereinkunft, für eine „Loja Djirga“, eine große Ratsversammlung, in der im Gespräch um einen Konsens gestritten und nicht mehr gekämpft wird. Die Provinzherrscher haben immense Waffenarsenale aufgebaut, die ein buntes Arsenal aus den Infanterie- und Bodentruppensystemen der Großmächte darstellen. Lieferungen der diversen Interessenten (UdSSR, Russland und USA) und erbeutete Waffensysteme stellen den Bestand vieler „offizieller Armeen“ in den Schatten. Es gibt genug Waffen, um noch über Jahre hinaus einen Bürgerkrieg von Warlords führen zu können. Aber um was soll gekämpft werden? Afghanistan liegt am Boden. Jahrzehnte an (Bürger-)Krieg haben Minenfelder und zerstörte Straßen und Brücken und Ruinen statt Häusern hinterlassen. Tausende sind verkrüppelt. Afghanistan stellt kaum mehr eine Bedrohung für seine Nachbarn dar – aber es wird von den unterschiedlichen Interessen seiner Nachbarn bedroht. Die Einflußsphären der atomaren Mächte treffen in Afghanistan aufeinander.
Zwischenstand 2006:
Inzwischen erstarken die Taliban wieder. Die südlichen Provinzen werden für die Alliierten immer schwieriger zu kontrollieren. Das Jahr 2006 sah regelrechte Feldschlachten, bei denen die Taliban die Angreifer waren und die Alliierten in ihren Stützpunkten belagerten. Das Jahr 2006 scheint all diejenigen im Westen, die auf ein posperierendes Afghanistan gesetzt haben, zu enttäuschen. Die Demokratisierung des Landes hat mit der Wahl von Präsident Hamid Karzai, einem Paschtunen vom Stamm der Popalzai, und den Parlementswahlen durchaus Fortschritte gemacht — und internationale Geberkonferenzen haben seit 2001 mehr als 8 Mrd. $ zur Verfügung gestellt, die bis 2007 abgerufen weren können; aber:
die Wirtschaft erholt sich nicht, und die in vor allem den Gebieten der Paschtunen erstarkten Taliban haben in einer “Frühjahrsoffensive” weite Landstriche im Süden unter ihre Kontrolle bringen können. Zehntausende internationaler Truppen mussten kurzfristig deutlich aufgestockt werden. Nach dem Muster des Irak wurden praktisch wöchentlich Bombenanschläge verübt — in praktisch allen Landesteilen, die von der “NATO-Friedenstruppe” kontrolliert und gesichert werden sollten. Über 80 Selbstmordanschläge hat es bis Ende November des Jahres gegeben, mit zunehmender Tendenz. Vor allem im Süden — im Paschtunen-Gebiet, in dem sich die Dschihad-Kämpfer als Schutzmacht der Bevölkerung aufspielen, verliert die von den USA geführte Interventionsstreitmacht zunehmend die Kontrolle.
Immer stärker zeichnet sich eine Bruchlinie entlang der Siedlungsgebiete der einzelnen afghanischen Völker ab.
Die Frontlinie läuft derzeit (November 2006) südlich der Hauptstadt Kabul quer durchs Land bis nördlich von Farah im Westen, und die südlich davon liegenden, von den Paschtunen bewohnten Siedlungsgebiet entwickeln sich zu “Killing Fields”.
Aus den Schlupfwinkeln in der pakistanischen Grenzregion um Quetta, der Hauptstadt Belutschistans, sickern die Taliban mit immer stärkerem Rückhalt in der Bevölkerung in das Siedlungsgebiet der Paschtunen ein. In den Koranschulen der Armen rekrutiert sich der von islamischen Agitatoren indoktrinierte Nachwuchs der Taliban. Diese Agitatoren gehören der pakistanischen Gesellschaft an. Sie sind in der Jamiat-Ulema-i-Islam und dem politisch einflussreichen Islamistenbündnis Muttahida Majlis-i-Amal (MMA) organisiert. Mit Unterstützung des pakistanischen Geheimdienstes werden — wie der SPIEGEL noch am 20.11.2006 berichtete — die Taliban-Kämpfer in pakistanischen Trainingscamps ausgebildet und nach Afghanistan geschleust.Afghanistan erlebt aber auch eine “Refundamentalisierung”. Nach dem Muster Saudi Arabiens wurde eine “Relgionspolizei” eingeführt, die über die Einhaltung der islamischen Sitten wachen soll.
Zwischenstand 2008:
Der Trend von 2006 hat sich auch zwei Jahre später noch fortgesetzt. Trotz über 50.000 ISAF-Soldaten haben sich die Taliban in den südlichen Provinzen des Landes weiter etabliert. Alleine 10 französische Soldaten fielen im August nur 50 Kilometer von Kabul entfernt einem gut vorbereiteten Hinterhalt zum Opfer. Gestärkt durch ein Friedensabkommen Pakistans mit paschtunischen Stammesführern können die Stammeskrieger ungestört nach Afghanistan eindringen, wo die staatlichen Behörden teilweise nur noch das Gebiet einer Provinzhauptstadt kontrollieren können.
Auch im Norden gibt es Anschläge — aber die usbekisch und tadschikisch stämmigen Volksgruppen lehnen sich traditionell gegen die paschtunische Vorherrschaft auf. Getragen durch die Drogen-Wirtschaft hat sich im Norden eine relativ ruhige Wirtschaftsblüte entwickelt. Durch den Norden führen die Schmuggelwege der Drogenkuriere um entlang der Seidenstraße und über Russland nach Asien und Europa zu verzweigen. Kunduz gilt als Drehkreuz, Faizabad als Hauptanbaugebiet für die Opiumwirtschaft. Dabei hat sich im Norden eine relativ freie Lebenseinstellung bewahrt. Mädchen können die Schule besuchen und Frauen auch ohne Begleitung das Haus verlassen. Das scheint auch den Einflüssen aus den nördlich gelegenen, ehemaligen Sowjetrepubliken zu verdanken zu sein, die der Säkularisation der kemalistischen Türkei entspricht.
Afghanistans Haupteinnahmen stammen immer noch aus dem Mohnanbau, der für 90 % des weltweiten Heroinkonsums verantwortlich ist — und die Drogenmafia soll ihre Kontakte bis in die höchsten Stellen der afghanischen Regierung haben.
Wenn es nicht gelingt, die Gewaltstrukturen in Afghanistan aufzubrechen, die Drogenwirtschaft zu zerschlagen und die Korruption einzudämmen, droht — so der Afghanistanexperte Thomas Ruttig von der Stiftung Wissenschaft und Politik im Gespräch mit dem EURASISCHEN MAGAZIN — ein Somalia-Szenarium mit Bürgerkrieg wie in den neunziger Jahren. “Eine Stabilisierung Afghanistans kann nur gelingen, wenn die Gewaltstrukturen und die damit verbundene bad governance, inklusive Drogenwirtschaft und Korruption, aufgebrochen wird. Nur so kann es uns als internationale Gemeinschaft gelingen, die große Mehrheit der afghanischen Bevölkerung wieder für uns zu gewinnen. Und nur wenn sich der Friedensprozess auf diese Kraft stützen kann, statt auf die diskreditierten Warlords etc., gibt es eine Chance für Frieden und Entwicklung. Dann kann man das Ruder vielleicht noch herumreißen.”
Afghanistan braucht vier Dinge:
Eine Einigung der widerstrebenden Stämme und Völker im Inneren. Dies kann nur von den Afghanen selbst geleistet werden. Hierzu müssen aber vor allem die traditionellen Stammesführer — auch zu Lasten der Warlords, die sich zu Provinzführern aufgeschwungen haben — gestärkt werden.
Ein Ende der militärischen Einmischungen von außen – denn die Interessen der Nachbarn sind zu unterschiedlich, als dass diese Interessen eine Einigung der Stämme fördern würden.
Eine Überführung der Stammeskrieger und Ihrer Arsenale in eine afghanische Nationalarmee und
einen Wiederaufbau der zivilen Infrastruktur, von Landwirtschaft, Handel, Gewerbe und Industrie, Schulen und Gesundheitswesen .…
und da liegt eine Chance des gequälten Landes: der friedliche Wettstreit um die Freundschaft der afghanischen Völker kann Afghanistan erhebliche Entwicklungsimpulse geben.
Werben Irans:
Nicht nur die Afghanen sind sich ihrer persischen Wurzeln bewusst. Mahmud Ahmadinedschad aus dem Iran “schmiedet” — wie der SPIEGEL am 18.10.2010 (S. 152) berichtet — eine “Union der persischsprachen Länder”, die neben Iran Tadschikistan und das im Norden von Tadschiken besiedelte Afghanistan umfassen soll”. Dieses Werben scheint auch bei der afghanischen Regierung durchaus auf Gegenliebe zu stoßen. Schließlich muss sich die afghanische Regierung für die Zeit nach dem absehbaren Rückzug des Westens neue Verbündete suchen — und die benachbarte, ethnisch verwandte Regionalmacht Iran hat ebenfalls großes Interesse, einen wahabitisch indoktrinierten Steinzeitislam im “eigenen Hinterhof” abzuwehren. Iran investiert daher in großem Ausmaß im Nachbarland.
Externe Links:
Landeskundliche Informationsstelle
Afghanistan — (www.inwent.org)
Berichte der Tagesschau
www.tagesschau.de