Maharastra / Mumbai (Bombay):
“Bald werden in Bombay mehr Menschen leben als auf dem gesamten australischen Kontinent. .… Bombay verkörpert die Zukunft der urbanen Zivilisation auf der Erde. Gott stehe uns bei.”
(Suketu Mehte in “Bombay, Maximum City” — 2006)
Die Stadt an der Westküste Indiens ist seit unvordenklichen Zeiten einer der Haupthandelshäfen für den Warenaustauch mit dem Westen. Schon die Römer und Araber, vielleicht sogar die Sumerer, haben über den Indus hinausgehend bis Indien selbst Handel getrieben.
Von 1534 bis 1996 wurde die Stadt nach dem portugiesischen “Bom Baia” (Gute Bucht) benannt, danach hat Indien wieder den alten, indischen Namen für seine Wirtschaftsmetropole gewählt, der an die Hindu-Göttin Mumbadevi erinnert.Die Stadt ist vor allem nach dem zweiten Weltkrieg massiv gewachsen. 1940 waren es noch 2 Mio. Einwohner in normalen Wohnorten; 1964 waren es 4 Mio. Einwohner — davon knapp 0,5 % in den Hüttensiedlungen und Verschlägen, in denen die in die Stadt gespülten Landbewohner erste Unterkünfte fanden. 1984 waren es schon 8 Mio. Einwohner — von denen 50 % in den Slums wohnten. Heute drängen sich doppelt so viele Einwohner wie ganz Belgien hat auf knapp 440 qkm Fläche — der Hälfte der Größe Berlins. Diese knapp 13 Mio. Einwohner — mit den Vororten fast 20 Mio. Einwohner — bilden ein gigantisches Reservoir an Arbeitskräften und Käufern (29000 Menschen/qkm — Stand 1990). Zwei Drittel der Einwohner sind dabei auf rund 5 % der Fläche konzentriert (100.00 Menschen/qkm, in London sind es gerade einmal 17.000). Sieben Millionen Pendler strömen täglich in das indische Wirtschaftszentrum und zurück — denn eine Wohnung in der Stadt ist teuer und auch für die Mittelschicht kaum mehr finanzierbar. 32 % der Bürger Mumbais leben im südlichen Bereich der Landspitze — dem Viertel der Reichen und Schönen, 42 % leben in nördlichen Vororten die sich zwischen Stadtzentrum und Flughaften immer mehr als Slums entpuppen, und nur 18 % in “Neu-Bombay”, der im Osten neu angelegten Trabantenstadt für die Mittelschicht des Landes. Weitere 400 neue Stadtteile sollen in der Umgebung entstehen, um mehr als eine halbe Million Einwohner zu beherbergen. Eines dieser geplanten Viertel ist Dharavi am Stadtrand von Mumbai. 57.000 neue, kostenlose Wohnungen werden hier gebaut — und dafür zwei Millionen Slumbewohner verdrängt. Denn: ein Großteil der Bevölkerung Mumbais — geschätzte 10 Mio. oder mehr — haust in wild wuchernden Slumgebieten, die trotz heftiger und massiver Abbrucharbeiten der zuständigen Behörden nicht “in den Griff” zu bekommen sind. Bereits Stunden nach der Räumung sind Gehwege, Brachflächen und sogar Müllhalden wieder mit billigsten Hütten übersäht. Die Slums bilden dabei ein durchaus organisiertes und effektives Wirtschaftssystem. Die Menschen sind gut genährt und mit privat erworbenen Luxuswaren wie Fernsehgeräten, ja sogar Motorrädern und Autos versorgt. Das Slumviertel Jogeshwari verfügt über Kabelfernsehen — die Lebensbedingungen erscheinen trotz der desolaten Wohnstruktur besser als auf dem Dorf. Was allerdings fehlt, das ist der Anschluss an die öffentliche Infrastruktur. Fließendes Wasser, saubere Badezimmer, funktionierende Toiletten — das fehlt nicht nur in den indischen Elendsquartieren sondern sogar in den Wohvierteln der Mittelschicht. Es gibt kaum ein Volk, das so sehr auf die eigene, persönliche Reinlichkeit bedacht ist wie die Inder — bis hin zur Abgrenzung im Kasensystem, und in dem gleichzeitig der öffentliche und gemeinsame Raum so voll Abfall und Müll, Kot und Urin ist wie in Indien. Die Stadt wurde mit dem Geld der Textilindustrie gebaut, aber auch hier hat die Globalisierung Einzug gehalten. Viele der einst blühenden Textilfabriken stehen leer — die Arbeitsplätze sind in noch billigere Produktionsgebiete abgewandert. Die ehemaligen Textilhallen werden in teures Bauland für Einkaufsmeilen umgewandelt. Die Region erwirtschaft rund 38 % des BIP Indiens. Über 80 % des örtlichen BIP (insgesamt geschätzt 140 Mrd. $) werden im Dienstleistungsbereich erwirtschaftet. 40 % des indischen Aussenhandels werden in Bombay umgeschlagen. Bombay ist Sitz der wichtigsten indischen Börse (1875 gegründet), von Maschinenbau‑, Metall‑, Textil- und Chemieindustrie und — natürlich — einer der Hauptwerften des Landes. 72 % aller regulären Arbeitsplätze sind dabei im Zentrum der Inselstadt konzentriert. Auch hier hat die Informationstechnologie zunehmend größere Bedeutung, und “Bollywood” — die indische Filmindustrie — versorgt den ganzen Subkontinent mit schwülstig-süßen Soap-Dramen. Rund 10 % der gesamten indischen Industrie sind in Bombay konzentriert. Daimler Chrysler und VW werden in Pune (bei Mumbay) für zusammen etwa 450 Mio. $ neue Produktionswerke errichten — in Ergänzung zu Indiens größtem heimischen KFZ-Hersteller, Tata Motors. Zehntausende Taxis sind in Bombay zugelassen, Hundertaussende Maruti Suzuki 800 und Fahrzeuge aller europäischer, amerikanischer und asiatischer Hersteller überfluten die Straßen — und jedes Jahr kommen über hunderttaisemd Neufahrzeuge hinzu: Bombay erstickt auch ohne Kleinstfahrzeuge und Lastwagen im Verkehr. Ein effektives öffentliches Nahverkerssystem ist dringend erforderlich.Die Provinz mit dem Herz Bombay ist Indien produktivestes Bundesland. Bombay tägt mit 37 % am BIP und 70 % am Steueraufkommen dazu maßgeblich bei. Die Region ist sowohl auf dem See‑, wie auch auf dem Luftweg gut erschlossen und verfügt über ein gut ausgebautes Straßennetz. Die Infrastruktur der aus sieben kleinen Inseln zusammen gewucherten Hafenmetropole selbst hängt aber an zwei zentralen Bahnlinien. Die “Western Line” und die “Central Line” halten wie Schlagadern die Wirtschaft der Stadt am Leben. In Stoßzeiten sollen sich bis zu 10.000 Personen — die Einwohnerzahl einer Kleinstadt — in einem einzigen Zug, an den Türen und Fenstern und sogar auf den Dächern der Waggons drängen. Millionen von Pendlern passieren mehrmals täglich die Dadar Train Station, den Kreuzungsbahnhof der beiden Linien. Daher wird östlich eine Trabantenstadt, “New Mubai”, gebaut, die über eine gewaltige Autobahnbrücke mit der Spitze der Hafenmetropole verbunden werden soll.
Die “Vielvölkerstadt” Mumbai ist Spiegelbild des indischen Kontinents mit seiner einzigartigen kulturellen Vielfalt. Über zwei Drittel aller Bewohner der Stadt sind Hindus, ein Viertel sind Moslems. Christen (7 %), Buddhisten (5 %), Jainas, Sikhs, Parsen und Juden (weniger als 2 %)sind dagegen auch in dieser Weltstadt deutliche Minderheiten. Die Gujarati (den Handel beherrschende Geschäftsleute) waren noch während der Kolonialzeit die Mehrheit der herrschenden Klasse, Bombay somit nicht nur durch einen kleinen Kanal — dem Vasai-Creek — vom Hinterland mit dem Bundesstaat Maharastra getrennt. Durch den laufenden Zuzug aus dem Hinterland wurde Marathi (die Sprache der jetzigen “unteren Mittelschicht”) zur lokalen Amtssprache, während Hindi — die Nationalsprache Indiens — nur von acht Prozent der Bevölkerung als Muttersprache angegeben wird. Die Finanzelite wird zumeist von zoroastiscehn Parsen gebildet, die neben ihrer Religion auch die iranische Sprache mit gebracht haben. Rund 200 Sprachen und Dialekte sollen in der Stadt, diesem Schmelzkessel des Kontinents, gesprochen werden. Englisch ist daher auch in Bombay für die meisten Menschen die “Interlingua”, die Zweitsprache, mit der sich selbst Inder untereinander verständigen. Die ethnische und religiöse Vielfalt der Stadt ist selbst für indische Verhältnisse gewaltig. Hindus und Parsen, Juden, Sunniten, Schiiten, Ismaeliten und Bohras leben hier neben- und miteinander — und haben Mumbai zu einer der am besten funktionierenden Städte Asiens gemacht.
1992/93 wurde Bombay durch massive religiös aufgeputschte Massenkrawalle erschüttert. Ein hinduistisch aufgewiegelter Mob zog plündernd und mordend in die muslimischen Viertel, wo ganze Familien in ihren Wohnungen eingeschlossen und verbrannt wurden. Die Untersuchungen eines Richters zeigten, dass sogar die Polizei diese Unruhen aktiv unterstützt hatte. Hieraus entwickelte sich ein muslimischer Gegenterror, ein von Pakistan unterstützter Bombenkrieg, und aus den muslimischen “Selbsschutzmilizen” eine der größten Mafia-Banden der Stadt, die D‑Company, deren führende Köpfe von Pakistan und Dubai aus das Leben der Stadt unterwandern. Der konfessionelle Konflikt hat sich in einen Bandenkrieg gewandelt, in dem die Polizei mit unterschiedlichen Sympathien und eigenen Killergruppen eine undurchsichtige Rolle spielt. Ein Terrorakt — am 11. Juli 2006 wurden im überfüllten Berufsverkehr sieben Bomben in Bahnhöfen und Zügen gezündet, was mehr als 160 Todesopfer forderte — macht deutlich, dass die religiösen Spannungen, die nach der Unabhängigkeit zur Bildung von zwei Staaten (Indien und Pakistan) führte, unterschwellig weiter vorhanden sind und ein erhebliches Potential für religiös motivierte Ausschreitungen besteht. Die muslimischen Gruppen sollen sich sogar mit Stinger-Raketen, die aus Afghanistan ins Land geschmuggelt wurden, für einen neuen Bürgerkrieg gerüstet haben.