“In Indien wächst eine neue Mitelschicht aus 200 bis 300 Millionen Menschen heran, ein Markt, ein Land so groß wie die Europäische Union. Und es wächst rasant. Indiens Wirtschaft weist in den nächsten fünf bis zehn Jahren Zuwachsraten zwischen sieben und neun Prozent aus. Das wird den Weltmarkt verändern.”
(Armin Bruck, Siemens-Landeschef im SZ-Interview 24./25.05.2008)
“Das aufstrebende Indien blieb von der Weltkrise verschont und lockt viele ausländische Investoren an. Trotz Schikanen, katastrophaler Infrastruktur und Bürokratie gedeiht die Wirtschauft auf erstaunliche Weise.”
(Wirtschaftswoche, 06.11.2009)
INDIENS WIRTSCHAFT:
Indiens Wirtschaft wächst mit durchschnittlich 8 % in den letzten Jahren — seit der Öffnung des Marktes und dem Abbau der bürokratischen Planwirtschaftsstruktur — schneller als die schnell wachsende Bevölkerung. Von 2004 bis 2007 wurden sogar Wachstumsraten von über 9 % erreicht. Gleichzeitig steigern die Steuereinnahmen und die Auslandsinvestitionen. Dies führt nicht nur — wie in Afrikas Dikaturen — zur Bereicherung einer Clique von Ausbeutern. Das ständig steigende BSP/Kopf der Bevölkerung wird auch tatsächlich auf immer mehr “Köpfe” verteilt. Die Mittelschicht wächst — und die Zahl der Armen schrumpft. Das Wirtschaftswachstum Indiens kommt einem immer größeren Teil der Bevölkerung, der über immer bessere Bildung verfügt, immer mehr zugute. Es entsteht eine kaufkräftige Mittelschicht — und das lockt Auslandsinvestitionen ins Land. Bei den Direktinvestitionen hat Indien im Jahr 2007 China überholt. Nach einer Meldung des SPIEGEL erhöhten sich die europäischen Direktinvestitionen 2007 gegenüber 2006 um das Vierfache auf 10,9 Milliarden Euro.Inzwischen tritt Indiens „Silicon Valley“ (Bangalore) einen weltweiten Siegeszug in der Entwicklung von komplexen Softwareprogrammen an. Indiens Universitäten sind führend in der Ausbildung von EDV-Spezialisten. Mit Software alleine lässt sich aber kein Wohlstand für die breite Masse der Bevölkerung begründen. Es sind die Massen der Landbevölkerung, die eine auskömmliche Arbeit benötigen. Indien braucht daher eine breite Industriealisierung in Bereichen, die viele Arbeitsplätze bilden. Indien muss — wie China — zu einer “Werkbank der Welt” werden, und es muss den Bauern nicht nur das wirtschaftliche Überleben, sondern eine angemessene Zukunft “auf der eigenen Scholle” gewährleisten.
Im Gegensatz zu China verfügt Indien aber über demokratische Strukturen, die sich auch in entsprechender “Meinungs- und Informationsfreiheit” nieerschlagen. Mehr als 62.000 Zeitungen versorgen die weit über 1 Milliarde Inder mit Nachrichten, Meinungen und Berichten — und das vor allem auch im ländlichen Bereich. Ob dies aufgrund besserer Lebensbedingungen auf dem Lande (im Gegensatz zu den städtischen Slums) oder schlicht und einfach der Tatsache geschuldet ist, dass die Versorgung mit Informationen aus elektronischen Medien auf dem Land eher zu wünschen übrig lässt, kann bei unserer Betrachtung ausser Acht bleiben. Fakt ist jedenfalls, dass sich Indiens Bevölkerung aus einer Fülle von unabhängigen Medien eine eigene Meinung bilden kann. Zusammen mit der relativ hohen Handlungsfreiheit (die Schranken des Kastenwesens einmal unberücksichtigt) ist diese Vielfalt die Grundlage für eigenständiges Denken, und damit auch für die efiziente Nutzung sämtlicher wirtschaftlicher Möglichkeiten und Chancen.
Wirtschaftsentwicklung:
Die Entwicklung, die seit 1991 eingetreten ist, scheint rasant. Im Jahr 2004 schrieben wir dazu:
“Seit 1991 gibt es keine Import-Quoten und Planerfüllungszahlen mehr, die Handelsschranken wurden minimiert — und seither hat sich das Bruttoinlandsprodukt (bei jährlichen Steigerungen um — im Durchschnitt — runde 5,8 %) auf inzwischen als 500 Milliarden US-Dollar verdoppelt, die Exporte verdreifachten sich sogar. Alleine die Software-Exporte Indiens haben ein Volumen von 10 Milliarden US-$ erreicht. Indien verfügt über Devisenreserven von mehr als 67 Milliarden Dollar. Wirtschaftliche Zahlen dieser Größenordnung wären für manchen europäischen Staatsmann ein Traumziel (Stand 2003).Indiens Inflationsrate hat mir 4 % einen relativ niedrigen Stand erreicht. Wenn Indien am Ende der Neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts praktisch keine Auslandsinvestitionen hatte, werden im Jahre 2003 etwa 7 Milliarden Dollar erwartet. Delhi entwickelt sich zu einem Zentrum der Autoindustrie (japanischer Fabrikate). Die Skyline der Millionenstädte — Bangalore, Chenni, Delhi, Hyderabad und Mumbai — gleicht sich den Großstädten des Westens an. Weltweit operierende Banken und Versicherungen, sogar der Großhändler Metro AG (Bangalore) haben die indische Wirtschaft für sich entdeckt. Wie die Zeitschrift FINANZEN (April 2004) berichtet, beträgt der Börsenwert der 50 größten indischen Unternehmen inzwischen 118 Milliarden Euro.” Inzwischen sind diese beeindruckenden Zahlen “Schnee von Gestern”. Das Wirtschaftswachstum ist (Stand 2007) seit Jahren bei stabilen rund 8 % — dementsprechend haben sich auch die Exporte und die Devisenreserven deutlich erhöht. Indien habe, so die Zeitschrift FINANZEN seinerzeit, besonders durch Programmierer und Forscher einen ungeahnten Aufschwung genommen. Der Subkontinent sei der weltweit attraktivste Standort für Firmen-Dienstleistungen, wobei sich der Schwerpunkt von Call-Center-Services und Kreditkartenabrechnungen inzwischen zunehmend auf anspruchsvolle Betreuungen wie die komplette Unternehmens-Software verlagere. Das indische Softwarehaus Infosys zähle inzwischen 140 der 500 größten US-Unternehmen zu seinen Kunden. Tatsächlich ist Indiens moderne Wirtschaft vor allem durch seine Softwareproduzenten und IT-Outsourcing (z.B. für “hotlines” und Buchführung) bekannt geworden. Über eine Million hoch qualifizierter Programmierer werkelt inzwischen (Stand 2007) für die Software-Schmieden der Welt, in Call-Centern und bei Buchungsunternehmen, und jedes Jahr kommen 250.000 Computerspezialisten aus den hochklassigen Universitäten des Landes dazu. Bis 2010 sollen 11 Mio. neue Arbeitsplätze in dieser größten Wachstumsbranche Indiens entstehen. Der indische Industrieverband erwartet alleine im Jahre 2007 im IT-Bereich einen Anstieg des Outsourcing-Marktvolumens um knapp 30 % auf umgerechnet knapp 28 Mrd. Euro.
Und auch die weltweite Finanzkrise (2009) hat der indischen Softwarindustrie nicht geschadet. Im Juli 2010 meldete Indiens größter IT-Dienstleister, Tata Consultancy Services — die Absicht, die Belegschaft noch in diesem Jahr um 40.000 Personen auf 200.000 Mitarbeiter zu erhöhen. Damit soll vor allem das expandierende Geschäft mit den Schwellenländern in Asien, Nahost und Lateinamerika unterstützt werden. Während diese Regionen 2008 mit 100 Mio. $ noch 7 % des Umsatzes erbrachten, waren dies 2010 bereits 1,2 Mrd. $. Die steigenden Erträge erlauben der Firma auch, die heiß umworbenen IT-Spezialisten mit immer höheren Gehältern an sich zu binden.
Migration, Netzwerkbildung und sozial-ökonomische Entwicklung:
das Beispiel der indischen Software-Migranten(Text folgt)
Auch auf dem Pharma-Markt gehören indische Unternehmen — wie etwa Ranbaxy — inzwischen zur Weltspitze. Rund zwei Millionen Arbeitsplätze (Stand 2007) — doppelt so viele wie in der Computer-Industrie — sind inzwischen in de Biotechnik, vor allem bei der Produktion preiswerter Medikamente, entstanden. Die Weltfirmen schätzen dabei vor allem den Schutz der Urheberrechte, den Indien in weit höherem Ausmaß als der asiatische Konkurrent China gewährleisten kann. Die Inder gehen dabei durchaus auch expansiv vor. Der indische Pharmakonzern Dr. Reddy’s hat im Februar 2006 für knapp 500 Mio. € die deutsche Betapharm — viertgrößeten deutschen Hersteller von Generika (Nachahmerarzneien) — übernommen, um in den deutschen Markt einzusteigen. Indien profitiert vor allem von einer enormen Privatisierungswelle der Staatswirtschaft. So sind 10 Prozent des Aktienkapitals der Ölförderfirma Oil & Natural Gas Corp. im Wert von 2,1 Milliarden Euro innerhalb einer halben Stunde platziert gewesen. Mit den Erlösen will Indien ein riesiges Infrastrukturprogramm auflegen und in den kommenden Jahren mehr als 6.000 km neuer Autobahnen und Kraftwerke mit 100.000 Megawatt Leistung errichten (Stand 2004). Derr Wirtschaftsaufwschwung Indiens umfasst immer mehr Branchen. Neben der Software- und Biopharma-Industrie hat inzwischen auch die Autoherstellung für den Privatmarkt enormen Schwung aufgenommen. Die ständig wohlhabender werdende Mittelschicht bietet einen immer größeren Binnenmarkt, so dass die Autoindustrie — wie einst in den deutschen Nachkriegsjahren und derzeit in China — einen weiteren Wachstumsmotor bildet.Indien erlebt auch einen Boom an Auslandsinvestitionen. Alleine von 2005 (5 Mrd. $) über 2006 (15 Mrd. $) bis 2007 (25 Mrd. $) sind jährliche Steigerungsraten von 10 Mrd. $ zu verzeichnen. Etwa 1/3 dieser Investitionen wird in die Dienstleistungszentren der großen Städte investiert. Bürotürme und Luxuswohnungen sowie Einkaufsmärkte für die anwachsende Mittelschicht des Landes prägen immer mehr das Aussehen der indischen Städte. Banken und Versicherungen haben Indien für sich entdeckt. Die “Deutsche Bank” erzielte mit 5.000 Beschäftigten ein Geschäftsvolumen von 3,3 Mrd. Euro (2006), der Umsatz der Allianz übertraf die 1 Mrd. Hürde (2006) und sogar der deutsche Bausparer BHW (Postbank) ist seit 2005 in Indien vertreten — mittlerweile in fast allen Stadtregionen des Landes und bereits nach zwei Jahren mit einem Darlehensvolumen von 450 Mio. Euro. Bescheiden, denn bis 2015 soll der indische Immoblienmarkt auf 100 Mrd. $ anwachsen (Schätzung Mc Kinsey nach Aussage der Südd. Zeitung, 29.10.2007). Trotz der globalen Finanzkrise wird auch 2010 die Erwartung bestätigt. In Finanzkreisen wird sogar vermutet, dass Indien mit einem zweistelligen Industriewachstum im ersten Halbjahr 2010 gegenüber dem Vorjahr und einem prognostizierten BIP-Wachstum von 8,4 % im Jahre 2011 den asiatischen Rivalen China überholen wird. Ursächlich wird dabei vor allem genannt, dass sich Indiens Wirtschaft auf eine gesunde Binnennachfrage der stetig wachsenden Mittelschicht stützten kann, während Chinas Konjunktur aufgrund der immer noch starken Exportlastigkeit im Gleichklang mit den Konjunkturzyklen in den USA und Westeuropa bewegt.
Dabei dürfen die Probleme Indiens nicht übersehen werden. Indiens Volkswirtschaft leidet noch immer unter einer ineffizienten Bürokratie, einer katastropahlen Infrastruktur, unter Energiemangel und einer unzureichenden Schulbildung, die gerade in ländlichen Bereichen erhebliche Lücken zeigt. Dazu kommt eine relativ hohe Inflationsrate (Prognose 2010: 7,3 %).