3.) Huntingtons Versuch einer neuen klaren Frontenziehung
Natürlich existieren auch in der heutigen Zeit noch Versuche, eine leicht einsichtige und plausible Ordnung und Verständnis in diese globale Unordnung zu bringen. Insbesondere die Konzeption von Huntington mit seinen Kulturkreisen wäre hier zu nennen und kritisch zu betrachten.
Wie schon in der Ära des Kalten Krieges bemerkt, so können solch simple Ordnungsformen wie Ost, West, Nord, Süd oder gar ganze Kulturkreise nicht die Komplexität zahlloser Ethnien, religiöser Abspaltungen und Unterteilungen, historischer und ökonomischer Unterschiede und Gegebenheiten verschlucken.
Nehmen wir allein den Kulturkreis des Islams – ein gern genommener und referierter Kulturkreis. Was sehen wir derzeit? Sehen wir primär die Auseinandersetzung zwischen Westen und Islam?
Der Kampf einer kleinen neofundamentalistischen und islamistischen Minderheit im Islam gegen den Westen ist ein Randphänomen des innerislamischen Kampfes um akzeptable Formen der Modernität und des guten Lebens. Selbst innerhalb der radikalen Kreise existieren diverse unterschiedliche Gruppierungen: Islamisten, konservative Fundamentalisten und Neofundamentalisten, die sowohl Gewalt ablehnen als auch ausdrücklich bejahen. Hier gibt es diverse Strömungen, die miteinander rivalisieren. Und auch die herrschenden Eliten gehen jeweils anders mit den oppositionellen Strömungen um: In Jordanien werden die dortigen gemäßigten Moslembrüder in den politischen Prozess miteinbezogen, in Ägypten dagegen werden sie streng verfolgt. Und das widersprüchliche Verhalten der herrschenden saudischen Eliten ist auch schon oft zum Anlass genommen wurden über die vielen Rivalitäten und Zwistigkeiten innerhalb des saudischen Könighauses zu spekulieren: Einerseits wurden radikale Fundamentalisten verfolgt und geächtet, andererseits wurden ihnen nahe stehende religiöse Stiftungen weiterhin gefördert.
Kann man also von einem einheitlichen islamischen Kulturkreis sprechen? Kann man sich gar vorstellen, dass dieser Kulturkreis weltpolitische Relevanzen als geschlossener Block handelnder Staaten haben soll?
Ich kann es mir angesichts der verbissenen Auseinandersetzungen zwischen den diversen Unterströmungen des Islams nicht vorstellen. Bedenkt man allein die tiefe Trennung zwischen Sunniten und Schiiten, so erscheinen solche Vereinfachungen als wenig hilfreich. Der Irak zerfällt nicht ursächlich wegen dem Kampf der Iraker gegen die Amerikaner. Ständen die Iraker tatsächlich geeint gegen die „christlichen Eroberer“, so könnten die Amerikaner wohl tatsächlich 2009 abziehen. Doch die meisten Toten gibt es nicht durch irakisch-amerikanische Feindseligkeiten, sondern durch innerirakische Kämpfe zwischen schiitischen Todesschwadronen und sunnitischen Aufständischen und Terroristen sowie durch innerschiitische Kämpfe zwischen den großen schiitischen Milizarmeen.
Huntingtons Fehler war eine folgenschwere Vereinfachung: Politische Auseinandersetzungen brauchen immer Grenzziehungen, brauchen immer die Abgrenzung zwischen Freund und Feind. Ich sollte schon wissen, wer auf meiner Seite steht, wer mein Freund und Bundesgenosse ist und wer mein Feind ist. Das ist die klassische Identitätsformel von Konflikten: Je nach spezifischen Identitäten ordne ich meine Mitmenschen und politischen Akteure in Freunde und Feinde. Allerdings übersieht Huntington unter anderen zwei wichtige Entwicklungen: Zum einen lassen sich Konflikte nicht immer auf einen Konfliktgegenstand beschränken, meistens sind sogar mehrere Probleme und Motive involviert (politische, soziale, persönliche und wirtschaftliche Motive und daher auch Ursachen). Daher gibt es dann auch oft mehrere Fronten und mehrere Gruppen, die eben nicht immer geschlossen 2 gegeneinander stehende Konfliktparteien ergeben. Es gibt mehrere Konfliktgegenstände und daher gibt es eben auch mehrere Frontziehungen. Man hat es eben schon im Kalten Krieg gesehen. Und selbst beispielsweise im israelisch-palästinensischen Konflikt sieht man, dass klare Fronten eben nicht immer bestehen. Obschon hier zwei Huntington´sche Kulturkreise kollidieren, sind in letzter Zeit vermehrt Berichte zu lesen über die innerpalästinensischen Auseinandersetzungen zwischen religiösen und säkularen Kräften um die Macht und um Posten.
Neben der Mehrdimensionalität von Konflikten übersieht Huntington dann auch, dass eben Kultur bzw. Religion nicht immer die entscheidende Identitätsstufe bzw. Identifikation ist. Da Konflikte eben oft komplex und vielschichtig sind, werden eben auch unterschiedliche Identifikationen angesprochen: Je nach Konfliktdimension werden unterschiedliche Identitätsstufen auch berührt und benutzt zur Unterscheidung. Manchmal geht es um die Stammeszugehörigkeit, manchmal um die ethnische Zugehörigkeit, manchmal um soziale Trennlinien und Gruppenzugehörigkeiten und manchmal dann auch um die Religion. Aber die Religion ist eben bei weitem nicht das einzige Identifikationskriterium, um Freund-Feind-Muster aufzubauen. Vor allem deswegen, weil sehr oft innerreligiöse Streits und Unterschiede zu Konflikten führen und religiöse Unterteilungen und Subströmungen und deren Konflikte Huntingtons Grobeinteilung der Welt massiv unterhöhlen.
Nehmen wir noch mal den Irak oder auch den Libanon. Die Konfliktlinien gingen nicht nur zwischen Islam und Westen oder Judentum, sondern der Großteil des Konflikts und der Kämpfe entwickelten sich aus innerislamischen Konflikten und Meinungs- und Interessengegensätze.
Die jeweilige Identität ist also durchaus entscheidend. Aber Identitäten sind eben mehrstufig, haben mehrere Komponenten. Und aufgrund der Mehrdimensionalität von Konflikten werden auch jeweils unterschiedliche Identitätsstufen bzw. – Schichten angesprochen. Religion kann da eine Rolle spielen, aber sehr oft geht es dann um die jeweilige spezifische Religionsvariante und Unterströmung, der man anhängt.
Das Kulturkonzept von Huntington und dessen Gleichsetzung mit den Weltreligionen ist einfach viel zu ungenau und auch viel zu pauschal um Konflikte ausreichend erklären zu können oder gar der heutigen und zukünftigen Weltordnung eine einfache und übersichtliche Fassung zu geben. Oft genug geht es eben um soziale, wirtschaftliche und politische Konflikte innerhalb der Kulturen, die Kriege und Bürgerkriege auslösen: Da geht es eben dann um ethnische, tribale, soziale, wirtschaftliche und politische Konfliktpunkte. Ein allgemeiner Kulturbegriff, der auf die Weltreligionen baut, reicht nicht aus um fragmentierte Identitäten und deren politische Ausdrücke zu erklären.
Daher sollte man die internationale Arena als das sehen, was sie ist: Eine große Arena voller diverser, unterschiedlicher Akteure, mit vielen Gemeinsamkeiten und vielen Unterschieden. Und diese sind eben nicht unbedingt an Huntingtons Vorstellungen von Kulturkreisen gebunden! Alle haben unterschiedliche Sichten, unterschiedliche Interessen, aber dennoch bestehen (nicht erst seit der Globalisierung) bestimmte spezifische enge Bande und Verbindungen. Und je nach Konflikt und Problem gibt es auch dauerhafte oder eben kurzzeitige Allianzen und Interessengemeinschaften: Die NATO oder auch die EU gehört da beispielsweise zu den dauerhafteren Bündnissen und Zusammenschlüssen. Die kurzzeitige Allianz aus Berlin, Paris, Moskau und Peking gegen den amerikanischen Irakkrieg von 2003 war dagegen eher solch eine kurzfristige Zweckallianz.
Solch enge Bande können durchaus – hier darf man mal Huntington Recht geben – auf kulturellen, religiösen und normativen Gemeinsamkeiten gründen. Aber dies ist eben keine Selbstverständlichkeit und auch nicht immer so der Fall.
Angesichts vieler Probleme wie zerfallender und nicht-funktionierender Staaten, Der Knappheit von Ressourcen, sozialen Ungleichheiten, aber auch aufgrund zunehmender Verbindungen in der Welt durch die Globalisierung und wird die Vielschichtigkeit dieser Welt eher noch zunehmen. Eine einfache Konzeption der Welt und ein vereinfachtes geopolitisches Verständnis werden diesen Problemen und zukünftigen Herausforderungen wohl kaum gerecht werden.