“Nach langen Kriegen hat sich Vietnam zu einer der offensten Wirtschaften der Welt gemausert. Es glänzt mit Wachstumsraten, die an China und Indien erinnern. Doch Mängel in der Infrastruktur bremsen.”
“Steigende Kosten, Probleme mit Plagiaten und zunehmender Protektionismus lässt manches ausländische Unternehmen über einen Umzug von China nach Vietnam nachdenken.”
(Wirtschaftswoche vom 14.05.2010)
“China war gestern, Asiens neue Boomregion heißt Vietnam. Hier wächst die Wirtschaft schneller als in den meisten anderen Staaten, Billiglöhne locken Investoren aus aller Welt. Auch die deutsche Firma Bosch engagiert sich in dem kommunistischen Land — Indien wird ihr zu teuer.”
Wiederaufbau — Probleme und Erfolge
Noch heute fehlt eine ausgewogenen, moderne Infrastruktur. Die beiden vor Vitalität strotzenden „Ballungszentren“ — das Mekong-Mündungsdelta um Ho Chi Minh Stadt mit etwa 18 Millionen Einwohnern und das politische Zentrum Hanoi sind über eine einzige Straße — die „Nationalstraße Nummer Eins“ — und eine aus der Kolonialzeit stammende Bahnlinie miteinander verbunden.
Für ein Land, das sowohl von der Fläche wie auch der Bevölkerungszahl her mit Deutschland vergleichbar ist (und im Zuge seiner Wiedervereinigung vielfach auch ähnliche Probleme bewältigen muss) ist das eine denkbar schlechte Ausgangslage. 70 % der über 80 Mio. Vietnamesen sind zudem unter 35 Jahre alt, bis 2015 werden rund 100 Millionen Einwohner ernährt und mit Arbeit versorgt werden müssen. Ein guter Teil der Jugend sucht sein Fortkommen in den beiden Ballungszentren des Landes.
Vietnams KP erkannte, dass sich das Land nur entwickeln lässt, wenn auch Ausländer dabei „Geld machen“ können. Daher wurde seit 1986 (Beginn der „Doi-Moi-Politik“ der wirtschaftlichen Reform und Erneuerung, schon 1988 Gesetz über ausländische Investitionen) zunehmend eine Öffnung vollzogen, die 1995 mit der Aufnahme Vietnams als Vollmitglied in das ASEAN-Bündnis einen Höhepunkt erreichte. Seit November 2006 gehört Vietnam als 150. Mitglied der Welthandelsorganisation (WTO) an.
Ein weiterer Motor für Vietnams Entwicklung ist die Umstrukturierung in Chinas Küstenprovinzen. China möchte dort zunehmend “High tech” produzieren. Die Textil- und Lederindustrie soll — so das Kalkül der chinesischen Regierung — in die Binnenprovinzen Chinas ziehen, in das Hinterland, und dort erneut den Aufbau der Wirtschaft voran bringen. Die Arbeitskräfte in den Küstenprovinzen werden rar und damit auch selbstbewusster und konfliktfähiger. Erste Streiks — aber auch Selbstmorde unter den Arbeitern — haben vor allem die ausländischen Firmen zu teilweise deutlichen Lohnerhöhungen gezwungen. Chinas Küstenprovinzen sind nicht mehr das “Billiglohngebiet” der Welt. Die Unternehmen der “ersten Generation” ziehen ab — auch nach Vietnam. Puma koordiniert die Aktivitäten seiner rund 40 Lieferanten in Vietnam von Ho-Chi-Minh-Stadt (Saigon) aus und hat dort ein eigenes Entwicklungszentrum eröffnet. Mehr als 30 Prozent seiner Sportschuhe bezog Adidas im Jahr 2009 aus Vietnam. 2006 lag der Anteil noch bei 25 Prozent.
Südostasien hat seither ein „neues Wirtschaftswunder“. Das Land ist für ausländische Investoren geöffnet, und um das ehemalige Saigon sowie die Haupstadt Hanoi entwickelt sich eine boomende Wirtschaftsregion, die den Vergleich mit der Entwicklung in den Sonderwirtschaftszonen Chinas nicht zu scheuen braucht. Ho Chi Minh Stadt und die umliegenden Provinzen erwirtschaften etwa ein Drittel des Bruttosozialprodukts. Vietnam profitiert darüber hinaus von der Geschäftstüchtigkeit und Zuverlässigkeit seiner Bewohner — und den im weltweiten Vergleich niedrigen Löhnen.
Vietnam gilt als Musterschüler der Region. Es ist inzwischen der zweitgrößte Reis- und Kaffeeexporteur der Welt, die Städte — nicht nur des Südens sondern auch des Nordens — sind wie zu Zeiten des US-Engagements mit Moped-Armeen verstopft.
Vietnam ist 2002 mit 7 % Wirtschaftswachstum gegenüber dem Vorjahr nach China auf einem Spitzenplatz der Entwicklung in Asien. Zum Vergleich: das Wirtschaftswachstum der anderen ASEAN-Staaten war im Schnitt zwischen 5 und 6 % anzusetzen.
Die Exporte Vietnams stiegen von 1995 (5,2 Mrd. US-Dollar) bis 2002 auf über 16.4 Mrd. US-Dollar und hat 2006 bereits di 40 Mrd. $-Grenze erreicht. Das Bruttosozialprodukt wuchs im gleichen Zeitraum von 280 US-Dollar auf 440 US-Dollar (2002) pro Kopf der Bevölkerung, was bei 78,5 Mio. Einwohnern einem BSP von insgesamt rd. 33 Mio. US-Dollar entspricht — und hat 2005 eine Größenordnung von 724,- $ pro Kopf erreicht. Der Dollar ist auch die heimliche Zweitwährung des Landes geblieben. Vietnams größter europäischer Handelspartner ist Deutschland. Im Wesentlichen exportiert werden Pfeffer, Kaffee, und Textilien.
Noch 1991 lebten 51 Prozent der damaligen 80 Millionen-Bevölkerung von einem Einkommen von weniger als 1 US-Dollar täglich, im Jahr 2003 lebten fast 15 Prozent der Bevölkerung in Armut, 2006 ist diese Marge auf 8 % der Beölkerung gesunken. Die Mehrheit der Stadtbevölkerung Saigons, der Wirtschafsmetropole des Lands, lebte auch im Jahre 2005 noch von durchschnittlich 50 Dollar im Monat.
Bis zum Jahr 2011 ist das BIP pro Kopf allerdings schon auf 1.000,- $ angestiegen — eine Verdoppelung, die innerhalb weniger Jahre erreicht wurde. Damit hat Vietnam zu den asiatischen Tigerstaaten aufgeholt — es folgt seinem großen Nachbarn China mit wenigen Jahren Abstand. Dabei hat Vietnam den Vorteil der “Kleinheit”. Der Staat mit der Größe der Bundesrepublik kann den Stand der chinesischen Küstenprovinzen erreichen, ohne mit dem Ballast eines riesigen, verarmten Hinterlandes belastet zu sein.
Vietnam braucht Investitionen, um jährlich 750.000 Jugendlichen eine berufliche und wirtschaftliche Zukunft bieten zu können. Und die Investoren stehen “Schlange”. Alleine 2004 und 2005 wurden fast 50.000 neue Privatfirmen gegründet. Vor allem die Flüchtlinge aus den Kriegszeiten und die späteren Elendsflüchtlinge (Boatpeople) engagieren sich heute als Investoren. Sie alleine haben von 2002 bi2 2005 rund 12 Mrd. $ in Vietnam investiert. Aber auch die Weltkonzerne haben den heranwachsenden _Tiger entdeckt. Der Chiphersteller Intel hat 2006 Gesamtinvestitionen von 1 Mrd. $ angekündigt.
Rohstoffe sind ein Teil des neuen Aufschwungs. In der Provinz Ha Tinh wartet ein Lager von etwa eine Milliarde Tonnen Eisenerz darauf, abgebaut zu werden. Der taiwanische Konzern Formosa-Steel erschließt das Gebiet bereits.
Die Kraftfahrzeugindustrie hat enorme Umsatzsteigerungen, Automobilschauen auch unter Beteiligung US-amerikanischer Firmen (Ford Vietnam, Daimler-Chrysler) sind selbst im Norden keine Seltenheit mehr. Im Jahre 2005 wurden täglich 450 neue Mopeds und 100 neue Autos in Saigon zugelassen — die zusätzliche Verkehrsbelastung, so errechnet die FAZ (10.11.2005) würde täglich genau 1.723 Quadratmeter neuer Straßen erfordern. Der Verkehrsinfarkt sei nur noch eine Frage der Zeit. Über 15 Mio. Mopeds und Motorroller verstopfen im Jahr 2006 — 20 Jahre nach Beginn der Öffnungspolitik — die Straßen der Städte. Dazu kommen bereits 500.000 private PKWs, bereits, denn namhafte Autohersteller wie Mercedes produzieren inzwischen im Land, und die KFZ-Händler nehmen bei einer ständig wohlhabender werdenden Mittel- und Oberschicht enorm zu. Einkaufszentren für die breite Bevölkerung und Luxusvillen für die “oberen Zehntausen” schießen gleichermaßen aus dem Boden.
Auch Touristen werden inzwischen nach Vietnam eingeladen — das Internet ist voll von Berichten und Reiseangeboten zu den schönsten Küsten und Inseln des seit 1995 geöffneten Landes. Die Hotels, die in Saigon zum Teil seit der französischen Kolonialzeit an der “Straße der Volkserhebung” (Dong Khoi, in US-Zeiten “To Do” und davor unter französischer Kolonialherrschaft “Rue Catinat” genannt) stehen, sind frisch renoviert. Über 3,5 Mio. Touristen sollen 2006 das Land besucht haben — Kulturtouristen, die Hue und Hoi An (Weltkulturerbe) besuchen, Strandurlauber bei Nha Trang oder Da Nang oder auch Erlebnis- (und Erinngerungs-) Touristen, die sich mit schaudern in die Tunnelanlagen des Vietcong zwängen. Großinvestoren wollen an der Küste für 4 Mrd. $ ein touristisches Vergnügungszentrum mit einem 1200 Zimmer Luxushotel und Spielcasino errichten — “zocken” ist nicht nur eine Leidenschaft der Chinesen. Die internationalen Hotel-Ketten bauen in Saigon und Hanoi, nicht nur für Touristen, sondern auch für international tätige Geschäftsleute.
Aber auch die vielen “Ich-AGs” in Vietnam profitieren von der Öffnung. An den Ständen der Buchhändler an der Oper und der Kathedrale werden Raubkopien der westlichen Vietnam-Publizistik und Reiseführer für Asiens Länder angeboten. Von den Reiseführern (5 $) über in Massen nachgemachte “Kriegsdevotionalien” wie Benzinfeuerzeuge, Schlüsselanhänger aus Patronenhülsen und US-Erkennungsmarken bis hin zu den Armbanduhren in den exklusiven Boutiqen an der Dong Khoi (selbstverständlich mitsamt gefälschtem Echtheitszertifikat) — das Angebot lässt auf die vielfältige Nachfrage durch eine steigende Zahl von Touristen schließen. Eines der Höhepunkte der Touristen ist ein Besuch von Cu Chi, eine Autostunde nordöstlich der “Boom-Town” gelegen. Soldaten aus dem Norden hatten dort gemeinsam mit Einheimischen ein bis zu 20 Meter tief führendes, mehrstöckiges Labyrinth von Tunnelanlagen mit getarnten und versteckten Eingängen gegraben, aus dem die Angriffe auf Saigon erfolgten. Den Amerikanern gelang es — trotz massiver Bombardierungen — nie, diese Anlagen zu zerstören. Die Region vermarktet die Ereignisse des vor 20 Jahren beendeten Vietnamkrieges, von der mehr als 1/3 der Bevölkerung nur noch aus Erzählungen Kenntnis hat.
Die KP Vietnams — die an ihrem Machtmonopol ebenso wenig rütteln lässt wie die KP Chinas — erlaubt die freie wirtschaftliche Betätigung, freilich ohne eine Ausbeutung zuzulassen, wie sie in der Frühzeit der Industrialisierung vieler Staaten aufgetreten ist (Kapitalismus). Die über 80 Millionen Vietnamesen scheinen sich vielmehr alle selbst als Unternehmer zu verstehen. 70 % der Vietnamesen sind jünger als 35 Jahre, und heiß darauf, sich aus dem Elend der Nachkriegsjahre herauszuarbeiten. Unabhängige Gewerkschaften — zur Jahreswende 2005/2006 demonstrierten mehrere Belegschaften der neu privatisierten Betriebe gegen die damit einhergehenden Arbeitsbedingungen — sind allerdings langsam im Entstehen.
In Vietnam spiegelt sich damit eine ostasiatische Tradition wieder, die auf chinesischen Wurzeln fußt.
Verlässlichkeit und Zuverlässigkeit sind elementare Grundlagen einer wirtschaftlichen Prosperität. Im Westen ist — historisch gesehen erst seit kurzer Zeit — die Demokratie die Grundlage für diese Eigenschaften. In China und Vietnam sieht man dagegen die Personalität — also Kontinuität in der Person der Führungskräfte — als Grundlage für eine verlässliche Gesetzgebung. Dementsprechend wird das Machtmonopol der Partei und der geordneten Nachfolgeregelung innerhalb der Partei eine große Bedeutung auch für die wirtschaftliche Prosperität zugeschrieben. Die kulturellen, historischen und politischen Werte Asiens sind anders als die des Westens.
Auch westliche Investoren sehen die Vorteile dieses Systems durchaus. Während die Philippinen und Indonesien unter lähmenden Terroranschlägen leiden wird Vietnam als sicherstes Land Asiens bezeichnet — was ausländische Investitionen in Höhe von knapp 5 Milliarden US-Doller in den ersten Jahren dieses Jahrhunderts erklärt. Für Investoren wird Vietnam immer interessanter — vor allem auch als “Gegenpol” zu China, dessen bürokratischer Staatsapparat bisweilen abschreckend wirkt. Die Auslandsinvestitionen stiegen von 4,2 Mrd. $ im Jahr 2004 über 10,2 Mrd. $ im Jahre 2006 und für das Jahr 2007 wurde die 12 Mrd. Grenze angepeilt. Tatsächlich wurden in den ersten elf Monaten 2007 bereits 15 Mrd. $ aus dem Ausland wurden investiert. Westliche Unternehmen, die sich Prodkutionsstandorte in Vietnam gesichert haben, sind durchwegs zufrieden — auch mit den Exportmöglichkeiten. Die Ausfuhren machen 67 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP — Stand 2007) aus. Zugleich haben die Devisenreserven von Vietnam im Dezember 2006 bereits den Stand zwölf Milliarden Dollar erreicht, gegenüber 8,6 Milliarden Ende 2005.
Dabei gibt es durchaus auch Widerstände: der Planwirtschaft verhaftete Kader aus den unteren und mittleren Verwaltungsebenen, und General Vo Nguyen Giap, den 95jährigen unantastbaren Nationalhelden des Befreiungskrieges gegen die Franzosen und Amerikaner, der in seiner Villa residiert und sich regelmäßig grollend zu Wort meldet und etwa Vetternwirtschaft, Selbstbereichung und den Ausverkauf der Bodenschätze an Ausländer anprangert. Eine grassierende Korruption und Vetternwirtschaft führen dazu, dass rund 10 % des Bruttosozialprodukts in dunklen Kanälen landen. Erst in neueren Zeiten gibt es in den Medien Angriffe gegen einzelne korrupte Apparatschiks, die offenbar von der obersten Staatsführung nicht mehr gedeckt werden. So wurde sogar der Vizetransportminister wegen Korruption verhaftet.
Mit Staatspräsident Nguyen Minh Tret und Premierminsiter Nguyen Tan Dung — beide aus dem liberalen Süden — verfügt das Land seit 2006 über die erste Generation von “Nachkriegspolitikern”, die sich nicht auf den Kampf gegen den “Antiimperialismus” als Legitimation für politisches Wirken berufen können.
Bei einem Wachstum von 7 % ist das BIP im Jahr 2006 auf knapp 61 Mrd. $ angestiegen. In den Jahren 2007 und 2008 kann das Jahreswachstum des Bruttoinlandsproduktes in Vietnam nach Prognose der Weltbank jeweils sogar acht Prozent erreichen (Quelle: www.rian.ru). Und Vietnam hat ehrgeizige Ziele: bis 2010 möchte es zu den Schwellenländern gehören und sich schon zehn weitere Jahre später als Industriestaat im Konzert der ASEAN-Staaten präsentieren.
Vietnams Chancen, dieses Ziel zu erreichen, stehen nicht schlecht: neben der engagierten Bevölkerung, die sich mit zunehmender Freude der Marktwirtschaft widmet, finden die Prospektoren der Ölindustrie vor den vietnamesischen Küsten im südchinesischen Meer immer mehr wertvolle Lagerstätten. Vor dem südlichen Vietnam im sogenannten Cuu-Long-Becken sollen knapp 740 Mio. Barrel auf die Förderung warten — und im Song-Hong-Becken zwischen Nordvietnam und der chinesischen Insel Hainan liegen angeblich fünf Milliarden Barrel Öl.
Allerdings — China und Vietnam, das sind seit Jahrzehnten zwei erbitterte Streithähne wenn es um die Hoheitsrechte im südchinesischen Meer geht.
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FTD-Dossier: Vietnam — Land der geborenen Unternehmer