»Beginnen wir mit der tief greifendsten Entwicklung in Europa: die Herausbildung eines neuen Russlands, das viele der gleichen Ambitionen wie die alte Sowjetunion hegt.« Ein »autoritärer Kapitalismus« verdrängt in Russland zunehmend die Demokratie, stellt Winnefeld fest. Die gegenwärtige russische Strategie – gekennzeichnet durch aggressive Rhetorik und mangelnde Kooperationsbereitschaft mit dem Westen – hat zwei Ziele:
die Spaltung Europas durch den Einsatz von Energie als Waffe sowie durch wütende Rhetorik gegen die vermeintliche westliche Umzingelung Russlands;
den Profit aus dem Energieexport einzusetzen, um die Illusion der Weltmacht zu projizieren und fundamentale Schwächen des russischen Systems zu übertönen.
»Die kurzfristigen russischen Handlungen im Rahmen dieser Strategie deuten eine beunruhigende langfristige Absicht an«, schreibt Winnefeld. »Russland ist zu stark, um ignoriert zu werden und dürfte – angesichts seiner neuen globalen Wirtschaftsorientierung in einer energiehungrigen Welt – nicht einzudämmen sein. Eine erfolgreiche Politik muss daher die russische Führungselite in der einzigen Sprache ansprechen, auf der sie jemals positiv reagierte: eine auf Stärke beruhende werteorientierte Kooperation. Dies erfordert eine duale Strategie des Engagements zugunsten des Wandels bei gleichzeitiger Absicherung, unter anderem auf dem maritimen Bereich.«
US-Kreuzer und russischer Zerstörer bei gemeinsamer Übung Bildquelle: US-Navy |
Gleichzeitig muss davon ausgegangen werden, dass die Stagnation der militärischen Fähigkeiten Russlands nicht anhält. Die Gewinne aus dem Energiehandel finanzieren eine gezielte Modernisierung der russischen Flotte, inklusive Entwicklung neuer U‑Boot- und Schiffsklassen und eventuell den Bau von 5 bis 6 neuen Flugzeugträgern ab 2012.
»Obwohl die gegenwärtigen Fähigkeiten und Absichten der russischen Marine keine unmittelbare Bedrohung darstellen, wären wir gut beraten zu bedenken, dass China nach der Einführung des Kapitalismus seinen neuen Wohlstand zügig in die Entwicklung einer Marine investierte, die eine ernsthafte Herausforderung für den US-Einfluss im Westpazifik darstellt. Russland wird dieses Beispiel nicht ignorieren. Wir sollten es auch nicht.« Um die maritime Überlegenheit zu wahren, muss die US-Navy die Entwicklung der Fähigkeiten der russischen Marine sowohl auf dem maritimen wie dem Cyberspace Sektor laufend verfolgen und ausgleichen.
Ferner muss angesichts der erwiesenen russischen Bereitschaft, Energieressourcen zwecks politischer Einschüchterung einzusetzen, ein neues Bedrohungskalkül erstellt werden, das verstärkte Aufmerksamkeit auf den Schutz von Energieressourcen und ‑infrastruktur setzt. Admiral Winnefeld stellt fest, dass die NATO bereits beginnt, eine diesbezügliche militärische Rolle zu diskutieren, die im Großraum Europa und Umgebung eine wesentliche maritime Komponente umfassen muss. Geografisch ist hier vor allem der »fragile Korridor« zwischen dem Kaspischen Becken, dem Kaukasus und dem Schwarzen Meer gemeint, in dessen Bereich die US-Marine durch Beiträge zur regionalen maritimen Sicherheit zur Wahrung amerikanischer und NATO-Interessen weiterhin beiträgt.
»Zusammengenommen signalisieren diese dynamischen Entwicklungen einen mittel- bis langfristigen Bedarf für eine größere und leistungsfähigere maritime Präsenz [der USA] im Atlantik und im Mittelmeerraum. Allerdings fordern weitere regionale Imperative bereits viel früher eine gesteigerte amerikanische See-Präsenz.«