Dieser Artikel wird mit freundlicher Genehmigung der “MarineForum — Zeitschrift für maritime Fragen” veröffentlicht.
Russlands seegestützte nukleare Abschreckung hat ein Problem
Von Klaus Mommsen
(Klaus Mommsen ist in der Redaktion des MarineForum zuständig für die Berichterstattung zu ausländischen Marinen)
Zur nuklearen Abschreckungsstrategie gehört die so genannte »Triade«.Ein Mix aus erstens stark geschützten, versteckten und/oder mobilen landgestützten Interkontinentalraketen (ICBM),zweitens von Langstreckenflugzeugen abzufeuernden Marschflugkörpern sowie drittens von U‑Booten zu startenden Raketen (SLBM – Sea-launched Ballistic Missile) soll einem Gegner von vornherein die Chance auf einen entwaffnenden Erstschlag nehmen und mit der Gewissheit eines nicht kalkulierbaren Gegenschlages (Zweitschlag) konfrontieren.
Vor allem getaucht patrouillierende, nuklear getriebene strategische U‑Boote (SSBN) sind ganz sicher nicht in einem Erstschlag auszuschalten. Sie bilden denn auch bei allen Atommächten (Ausnahme – noch – Israel) das Rückgrat nuklearer Abschreckung. Es kann daher kaum verwundern, dass Russland und die USA bei ihren bilateralen Strategic Arms Reduction Talks (START) und Folgevereinbarungen nicht nur Obergrenzen für die Anzahl nuklearer Gefechtsköpfe (GK) definiert, sondern dabei zugleich auch die U‑Boot-Komponente ihrer »Triade« gestärkt haben.
Während in den Zeiten des Kalten Krieges landgestützte ICBM teils mehr als zehn GK trugen, mit denen jede einzelne Rakete eine Vielzahl von Zielen ins Visier nehmen konnte, wurde mit START vereinbart, Mehrfach-GK nur noch auf SLBM zu erlauben. Dies erleichterte eine Verifizierung der Einhaltung der vereinbarten Obergrenzen. Die Anzahl gebauter U‑Boote lässt sich ebenso wenig verschleiern, wie die Anzahl der Startschächte auf diesen. Aus den ebenfalls bekannten FK-Typen lässt sich so jederzeit die maximale Anzahl sofort einsetzbarer GK berechnen – unmöglich bei z.B. versteckt in den Wäldern des Ural positionierten ICBM.
Natürlich sind die Nuklearmächte laufend bemüht, ihre SLBM und deren Träger (SSBN) zyklisch zu erneuern und dem technologischen Stand anzupassen. Bei Russland und den USA spielt dabei der Erhalt von Parität eine bedeutende politische Rolle. Selbst wenn Tausende GK zum mehrfachen »overkill« ausreichen, will man doch hinter dem Rivalen nicht zurückstehen.
In den USA sind die SSBN der OHIO-Klasse heute zwischen 12 und 25 Jahre alt, sollen aber jeweils etwa 45 Jahre in Dienst gehalten und erst ab 2025 durch neue Boote ersetzt werden. Die Modernisierung konzentriert sich bis dahin auf die Umrüstung aller Boote auf eine neue Variante der bewährten SLBM Trident II D5. Für die russische Marine ist die Lage komplexer. Sie stützt sich nicht nur auf eine einzige, sondern mehrere Klassen von SSBN ab, die zum einen schon jetzt das Ende ihrer Dienstzeit erreichen bzw. erreicht haben, und die auch jeweils unterschiedliche SLBM tragen. Um einen einheitlichen Standard hat man sich in den russischen Designbüros ganz offenbar nur wenig gekümmert.
SS-N‑8, SS-N-18, SS-N-20, SS-N-23 Bildquelle: Wikipedia |
Die in den 1970er Jahren gebauten (inzwischen sämtlich ausgemusterten) Boote vom Typ DELTA‑I und DELTA-II waren mit von der NATO als SS-N‑8 Sawfly bezeichneten SLBM (13 m x 1,8 m, 33 t) bestückt. Die für die ab 1984 gebaute DELTA-III Klasse entwickelten SS-N-18 Stingray (14,4 m x 1,8 m, 34 t) waren für die Startschächte der alten Boote zu groß. Wenig später für weitere SSBN der DELTA-IV-Klasse entwickelte SS-N-23 Skiff (14,8 m x 1,9 m, 40 t) entsprachen in ihren Abmessungen noch weitgehend den SS-N-18, aber die für die zeitgleich mit den DELTA-IV gebauten Unterwasser- Riesen der TYPHOON-Klasse entwickelten SS-N-20 Sturgeon sprengten jeden Rahmen. Auf den getaucht 48.000 ts verdrängenden TYPHOON war Platz sichtlich kein Problem, und die SS-N-20 maßen denn auch 16 m x 2,4 m und hatten ein Startgewicht von mehr als 80 t. Allerdings schien man mit den für die TYPHOON maßgeschneiderten SLBM nicht zufrieden (Probleme mit dem Festtreibstoff?) und verzichtete schließlich auf sie.
Ohnehin war geplant, die TYPHOON mit einer bereits beim Makeyev Design-Büro in der Entwicklung befindlichen neuen SLBM auszurüsten. Die bei der NATO vorläufig als SS-NX-28 bezeichnete Grom basierte auf der Technologie der SS-N-20 und hatte auch nahezu identische Abmessungen. Das Vorhaben endete allerdings in einer Sackgasse. Beim ersten Testschuss (1998) explodierte die Rakete kurz nach dem Abheben. Als auch die nächsten zwei Versuche scheiterten und hohe Kostenüberschreitungen drohten, wurde die Entwicklung von Grom gestoppt. Das Moskauer Teplotechnika Institut wurde mit der Entwicklung einer Alternative auf Basis der technisch zuverlässigen landgestützten ICBM Topol M beauftragt. Mit gut 22 m Länge passte die Vorlage natürlich auf kein U‑Boot, und man entschloss sich zu einer deutlich verkleinerten (11,5 m x 2 m, 37 t) Version. Dieser von der NATO vorläufig als SS-NX-30 designierte neue SLBM erhielt die Bezeichnung Bulava. Bulava sollte eine Reichweite von »mindestens 8.000 km« haben, sechs bis zehn nukleare GK tragen und »immun gegen alle Abwehrmaßnahmen« sein.
Bulava war deutlich kleiner als Grom, und schnell wurde klar, dass ein Umbau der TYPHOON mit Installation völlig neuer Startschächte zu aufwendig würde. Die Unterwasserriesen wurden aus dem aktiven Dienst genommen. Drei sind inzwischen verschrottet; zwei liegen im Reservestatus an der Pier. Nur eines, die DIMITRIY DONSKOY, wurde für die Erprobung von Bulava umgerüstet.
Der sicher schmerzliche Verzicht auf die TYPHOON sollte sich möglichst nicht auf den Erhalt der nuklearstrategischen Parität auswirken. Als Zwischenlösung wurde 1999 die Produktion von SS-N-23 wieder aufgenommen – in einer als Sineva bezeichneten modernisierten Variante, die nicht zuletzt auch alte, durch den aggressiven Flüssigtreibstoff korrodierende Skiff ersetzen musste. Damit verbunden waren sicher auch Überlegungen, die SSBN der DELTA-IV-Klasse länger in Dienst zu halten als eigentlich geplant. Grom war allerdings nicht nur für die riesigen TYPHOON vorgesehen gewesen, sondern sollte als zukunftsfähiges System auch auf einer neuen Klasse von SSBN eingesetzt werden, mit deren Entwicklung das Rubin Designbüro schon 1982 begonnen hatte. Die neuen Boote der BOREJ-Klasse sollten nach der Jahrtausendwende das Rückgrat der russischen seegestützten nuklearen Abschreckung bilden.
YURI DOLGORUKIY Bildquelle: nn / Internet |
Typboot YURI DOLGORUKIY war 1996 schon auf Kiel gelegt worden, doch nun war das Design der deutlich kleineren Bulava anzupassen. Das Bauvorhaben wurde um Jahre zurückgeworfen. Eigentlich sollte das U‑Boot schon 2003 in Dienst gestellt werden, doch erst im Sommer 2009 konnte es mit Probefahrten beginnen. Inzwischen sind zwei weitere dieser 24.000-ts Boote im Bau; ein viertes wollte man im Dezember auf Kiel legen. Insgesamt sind mindestens sieben SSBN der BOREJ-Klasse geplant. YURI DOLGORUKIY verfügt über 16 Startschächte für Bulava; spätere Boote (ab Baunummer 5) sollen angeblich sogar 20 Startschächte erhalten.
Bei Indienststellung der YURI DOLGORUKIY sollte natürlich auch Bulava einsatzbereit sein, und die Planung sah denn auch eine zeitlich parallele Entwicklung vor. 2003 wurde in einem so genannten »Pop-up« erstmals ein Modell der Rakete aus einem Startschacht ausgestoßen. Ende 2005 führte Erprobungsträger DIMITRIY DONSKOY die ersten zwei Testschüsse durch. Sie verliefen erfolgreich, und man war optimistisch, Bulava schon in 2006 einsatzreif zu bekommen.
Bulava Bildquelle: russische Quellen |
Die ein Jahr später durchgeführten nächsten drei Versuche endeten jedoch in Fehlschlägen. Ursachen wurden nicht öffentlich bekannt, aber man glaubte wohl, solche identifiziert zu haben. Der nach einem halben Jahr Pause im Juni 2007 durchgeführte nächste Start war auch erfolgreich. Serienfertigung wurde angekündigt – aber nicht begonnen. Stattdessen wurden plötzlich doch weitere Probeschüsse angesetzt, und von diesen waren nur wenige erfolgreich. Vor allem mit Zündung und Separation von Raketenstufen gab es Probleme.
Fieberhaft suchte man nach Ursachen, besserte die Konstruktion nach. Im November 2008 weckte ein erfolgreicher Teststart von der getauchten DIMITRIY DONSKOY Hoffnungen, die Entwicklung von Bulava in 2009 abschließen zu können. Der stellvertretende Verteidigungsminister, Sergej Iwanow, erklärte, die Serienproduktion sei nunmehr angelaufen.
Nur einen Monat später brachte der nächsten Test Ernüchterung. Nach einer Fehlfunktion der dritten Stufe zerstörte sich die Rakete selbst. Die Planung wurde erneut hinfällig. Die Marineführung bestand auf noch mindestens fünf weiteren Testschüssen. Der Erste sollte im März 2009 erfolgen, wurde dann auf den Juni verschoben – und endete am 15. Juli mit einem Fehlschlag, als die erste Stufe kurz nach dem Start versagte.
Unter nun auch zunehmendem öffentlichem Druck wurde eine Untersuchungskommission eingesetzt. Der russische Generalstabschef sprach öffentlich von gravierenden Fehlern »bei der Industrie«. Entweder sei bei der Montage der Testrakete »gepfuscht« worden oder aber es gebe grundsätzliche Fehler beim Design. Selbst Sabotage wurde nicht mehr ausgeschlossen. Der Chefdesigner wurde angeblich entlassen, dann angeblich wieder eingesetzt. In Moskau sprachen Generäle von einem geplanten Wechsel des Herstellers und sogar von einem gänzlichen Verzicht auf Bulava und Umstieg auf SS-N-23 Sineva.
Inzwischen ist allerdings klar: Einen Wechsel der Produktionsfirma wird es nicht geben. Der damit verbundene Aufwand wäre zu groß und böte auch keine Erfolgsgarantie. Die Untersuchungskommission ist zuversichtlich, die Ursachen – technische Konstruktionsfehler, keine grundsätzliche Designschwäche – gefunden zu haben. Ein Umsteigen auf SSN- 23 Sineva ist keine reale Option. Die neuen BOREJ SSBN sind nun einmal für Bulava ausgelegt, und die fast drei Meter längeren SSN- 23 passen nicht in die Startschächte. Ihre Einrüstung würde größere Designänderungen an den Booten erfordern und deren Zulauf um weitere Jahre verzögern.
So bleibt eigentlich nur: »Augen zu und durch«, auch wenn dies mit weiteren Verzögerungen bei der inzwischen überfälligen Erneuerung der maritimen Komponente der »Triade« verbunden ist. Als Zielvorstellung wird jetzt »bis 2016« verkündet, wobei man sich offiziell guter Hoffnung gibt, Bulava – und YURIDOLGORUKIY – 2010 der Marine übergeben zu können.