Raketenabwehr in Europa — Quo vadis Deutschland?

Vertei­di­gungspoli­tik braucht ver­lässliche Pla­nun­gen und kon­sis­tente Strate­gien. Deshalb müssen Weichen rechtzeit­ig gestellt wer­den. Wieder mal. Dies­mal geht es jedoch nicht um Stan­dort­fra­gen oder Struk­tur­de­bat­ten. Dies­mal geht es um den deutschen Beitrag zum geplanten Raketen­ab­wehrschirm der NATO BMD.

Dieser Artikel wird mit fre­undlich­er Genehmi­gung der “Marine­Fo­rum — Zeitschrift für mar­itime Fra­gen” veröf­fentlicht.

Marineforum

 -

Während Teile der Linken weit­er­hin die NATO an sich infrage stellen und einige Grüne zumin­d­est grund­sät­zliche Zweifel am Sinn ein­er gemein­samen Raketen­ab­wehrstrate­gie äußern, wur­den auf inter­na­tionalem Par­kett längst Entschei­dun­gen getrof­fen. Die Leitzen­trale des BMD soll auf der NATO-Basis im rhein­land-pfälzis­chen Ram­stein ein­gerichtet wer­den. Von dort aus soll kün­ftig der Schutz der NATO-Mit­glied­staat­en vor Rake­te­nan­grif­f­en, ins­beson­dere aus dem Nahen und Mit­tleren Osten, koor­diniert wer­den. Die Bun­desregierung hat nicht nur ihre Zus­tim­mung zu diesen Plä­nen sig­nal­isiert, Vertei­di­gungsmin­is­ter Thomas de Maz­ière erk­lärte bere­its die Bere­itschaft Deutsch­lands, bei uns sta­tion­ierte Patri­ot-Raketen im Rah­men des BMD-Sys­tems zur Ver­fü­gung zu stellen. 

Trotz anhal­tender Bedenken Rus­s­lands war diese Entschei­dung der Bun­desregierung keine Über­raschung. Deutsch­land ist zwar zu Recht weit­er­hin fest entschlossen, Rus­s­land in Sachen Raketen­ab­wehr mit ins Boot zu holen – vor diesem Hin­ter­grund war die Münch­n­er Sicher­heit­skon­ferenz Anfang des Jahres dur­chaus ein wichtiges Sig­nal. Ern­sthafte Zweifel daran, dass Deutsch­land zu den NATO-Plä­nen ste­hen wird, bestanden jedoch zu keinem Zeit­punkt. Das diesen Plä­nen zugrunde liegende Bedro­hungsszenario ist klar umris­sen und gewin­nt ger­ade in den ver­gan­genen Wochen und Monat­en weit­er an Konturen. 

Bedro­hungslage

 -
Iranis­ch­er Raketen­ver­such (Foto: staat. iranis­che Medi­en)
Click to enlarge

Solange es Staat­en gibt, deren Regierun­gen nicht berechen­bar sind, die aber über reich­weit­en­starke Raketen ver­fü­gen, an deren Weit­er­en­twick­lung sie nach eigen­em Bekun­den arbeit­en und die über das Poten­zial zum Bau nuk­lear­er Sprengkör­p­er für diese Raketen ver­fü­gen, solange kön­nen wir ger­ade die mit­tel- und langfristi­gen Sicher­heitsin­ter­essen der Men­schen in Europa nicht ignori­eren. Der Iran hat bere­its Mit­tel­streck­en­raketen mit ein­er Reich­weite von bis zu 3.000 km getestet und bei dieser Entwick­lung für alle Fach­leute über­raschend schnelle Fortschritte erzielt. Dem muss eine möglichst bre­it aufgestellte, gemein­same Vertei­di­gungsstrate­gie ent­ge­gengestellt werden. 

Der zügi­gen Entwick­lung und Imple­men­tierung neuer Waf­fen­sys­teme in den insta­bilen Teilen der Welt ste­hen bei uns lange Planungs‑, Entwick­lungs- und Instal­la­tion­szeiträume, enorme tech­nis­che Schwierigkeit­en und ein großer finanzieller Aufwand gegenüber. Auch aus diesem Grund gibt es immer weniger Zeit zu ver­lieren. Europa darf keines­falls warten, bis die mögliche exis­ten­zielle Bedro­hung aus dem Nahen und Mit­tleren Osten plöt­zlich Real­ität ist und dann plöt­zlich »über­rascht« daste­hen. Denn die fatale Folge wäre, dass man jed­we­dem Erpres­sungsszenario hil­f­los aus­geliefert und eigen­er Sank­tion­s­möglichkeit­en beraubt ist. Denen, die trotz­dem noch Bedenken haben, sei schließlich gesagt: BMD ist kein Sys­tem der Bedro­hung. Es ist eine reine Vertei­di­gungslö­sung ohne jede Angriff­skom­po­nente, auss­chließlich zum eige­nen Schutz einsetzbar. 

Die Entschei­dung der Bun­desregierung, den Plä­nen der USA für das BMD zuzus­tim­men, war nicht über­raschend. Deutsch­land ist und bleibt ver­lässlich­er Part­ner in der NATO und in Europa. Als aber bekan­nt wurde, wie sich der deutsche Vertei­di­gungsmin­is­ter die weit­ere Unter­stützung des NATO-Abwehrschirms vorstellt, war die Über­raschung groß. Das Ange­bot, Patri­ot-Raketen zur Ver­fü­gung zu stellen, so war hin­ter vorge­hal­tener Hand zu hören, ist eini­gen wohl so vorgekom­men, als hätte man in Deutsch­land nicht recht ver­standen, worum es geht. 

Das deutsche Ange­bot

 -
Patri­ot-Start­gerät des Bun­deswehr (Foto: Bw) 

In der Tat scheint das Ange­bot des Min­is­ters nach näher­er Betra­ch­tung zumin­d­est zweifel­haft. Das Sys­tem »Patri­ot« ist eine Boden-Luft-Rakete zur Abwehr von Flugzeu­gen, Marschflugkör­pern und Mit­tel­streck­en­raketen. Die in Deutsch­land vorhan­de­nen Patri­ot-Sys­teme sind für die Punk­tvertei­di­gung vorge­se­hen, ihre Reich­weite beträgt max­i­mal 100 Kilo­me­ter und ihre Flug­bahn ist eher niedrig. Für die Abwehr von Mit­tel­streck­en­raketen im Rah­men von BMD sind sie damit ungeeignet. Das Patri­ot-Ange­bot der Bun­desregierung kann daher den Anforderun­gen, die unsere Ver­bün­de­ten zu Recht an uns als einen der wirtschaftlich stärk­sten Part­ner in ihren Rei­hen stellen, nicht gerecht werden. 

Aber unab­hängig von den Erwartun­gen unser­er Part­ner genügt das Ange­bot der Regierung auch nicht den berechtigten Sicher­heits- inter­essen der Men­schen in Deutsch­land und Europa. Wir soll­ten uns daher ern­sthaft mit der Frage beschäfti­gen, welchen konkreten Beitrag Deutsch­land für den Schutz der europäis­chen Bevölkerung im Rah­men des geplanten Raketen­ab­wehrschirms leis­ten kann. 

Der im Marine­Fo­rum 1/2–2012 veröf­fentlichte Artikel von Andreas Uhl hat hier aus mein­er Sicht einen fach­lich fundierten Impuls geliefert, der zeit­nah Grund­lage ern­sthafter Diskus­sio­nen und schließlich auch Entschei­dun­gen im poli­tis­chen Raum wer­den sollte. Ich würde es begrüßen, wenn inner­halb der Bun­desregierung noch vor der NATO-Kon­ferenz in Chica­go im Mai 2012 eine min­destens grund­sät­zliche Entschei­dung darüber getrof­fen wer­den würde, welchen Beitrag man zu leis­ten bere­it ist. Denn: Nichts ist schlim­mer – auch für unsere rus­sis­chen Part­ner – als Ver­hand­lun­gen mit Unentschlossenen. 

Die USA haben für sich längst entsch­ieden zu han­deln. Sie set­zen ihr Pro­gramm EPAA (Euro­pean Phased Adap­tive Approach) ziel­stre­big um, mit geplanten Abwehrstel­lun­gen in Polen und Rumänien und mit Abwehrschif­f­en im Mit­telmeer. In dem mehrstu­fi­gen Konzept von EPAA ste­ht der Schutz des US-Ter­ri­to­ri­ums nachvol­lziehbar im Vorder­grund, auch wenn ein gewiss­er Schutz für Europa erre­icht wird. Über den Ein­satz entschei­den jedoch allein die USA, die Stan­dorte wur­den bilat­er­al aus­ge­han­delt – also nicht im Rah­men der NATO. Will Europa hier Ein­fluss nehmen, um einen effek­tiv­en Schutz auch für seine Bevölkerung zu gewährleis­ten, muss es zu einem sub­stanziellen Beitrag bere­it sein. Und das bedeutet: Wir Europäer müssen eine eigen­ständi­ge mil­itärische Kom­po­nente anbi­eten, die die USA mil­itärisch, logis­tisch und finanziell entlasten! 

Aus tech­nis­ch­er und vertei­di­gungspoli­tis­ch­er Sicht kann das nur eines bedeuten: Deutsch­land und seine möglichen Part­ner soll­ten gemein­sam das von der US-Navy entwick­elte schiff­s­gestützte Abfangflugkör­per­sys­tem SM‑3 (Stan­dard Mis­sile 3) auf eige­nen Schif­f­en implementieren. 

Team GlobDef

Seit 2001 ist GlobalDefence.net im Internet unterwegs, um mit eigenen Analysen, interessanten Kooperationen und umfassenden Informationen für einen spannenden Überblick der Weltlage zu sorgen. GlobalDefence.net war dabei die erste deutschsprachige Internetseite, die mit dem Schwerpunkt Sicherheitspolitik außerhalb von Hochschulen oder Instituten aufgetreten ist.

Alle Beiträge ansehen von Team GlobDef →