Dieser Artikel wird mit freundlicher Genehmigung der “MarineForum — Zeitschrift für maritime Fragen” veröffentlicht.
Auf dem NATO-Gipfel in Lissabon am 19./20. November haben die Staats und Regierungschefs der 28 NATO-Staaten ein neues Strategisches Konzept »Active Engagement, Modern Defence« für die NATO verabschiedet. Das Dokument soll den politischen und strategischen Konsens der Allianz abbilden und Orientierung für die zukünftigen Aufgaben der NATO verschaffen.
Bedrohungsanalyse
Die Analyse der sicherheitspolitischen Lage nennt neun maßgebliche Bedrohungen. Unter anderem sei die Gefahr eines konventionellen Angriffs auf das NATO-Territorium gering, aber als Bedrohung nicht zu vernachlässigen, zumal global nicht abgerüstet, sondern aufgerüstet werde. Die Verbreitung von ballistischen Raketen, von nuklearen und anderen Massenvernichtungswaffen, der internationale Terrorismus und die Instabilität gescheiterter Staaten geben Anlass zur Sorge. Ferner erlangen Cyberangriffe und die Störung der Energieversorgung zunehmend an Gewicht, weil sie die Sicherheit, den Wohlstand und die Funktionstüchtigkeit westlicher Gesellschaften beeinträchtigen. Das Konzept nennt weitere Sicherheitsrisiken wie Laserwaffen, neue Waffentechnologien (auch im Weltall) und die Auswirkungen des Klimawandels.
Nuklearstrategie
Mit Blick auf die Nuklearstrategie will die NATO grundsätzlich an dem Ziel einer Welt ohne Atomwaffen mitwirken, sieht aber Russland in der Pflicht, die Voraussetzungen (Transparenz der eigenen Bestände) für weitere nukleare Abrüstung zu schaffen. Im Grundsatz aber will die NATO eine nukleare Allianz bleiben, solange Atomwaffen in der Welt existieren. Auch die nukleare Teilhabe wird betont, wobei den französischen und britischen Nuklearwaffen eine eigenständige Rolle in der Abschreckungsstrategie zugestanden wird. Abschreckungsfähigkeit, die auf einem Mix von konventionellen und nuklearen Waffen basiert, bleibt auch künftig Kernelement der Gesamtstrategie.
Krisenmanagement
Die NATO will auch künftig zu militärischer Krisenintervention und Nationbuilding-Missionen bereit sein. Derartige Einsätze stehen in der militärischen Planung gleichberechtigt neben Aufgaben der klassischen Landesverteidigung. Das bedeutet, die NATO bleibt ein regionales Bündnis mit globalem Horizont, denn militärische und politische Strategien müssen sich auf die Landes- bzw. Bündnisverteidigung und auf Stabilisierungsoperationen jenseits der Bündnisgrenzen ausrichten.
Partnerschaften
Unter den Bedingungen der Globalisierung benötigt die NATO Partner, um die Sicherheit des euroatlantischen Raumes zu gewährleisten. Daher wird eine enge Kooperation mit der UNO, der EU, mit »Partnership for Peace«, mit dem »Mediterranean Dialogue« und der »Istanbul Initiative« angestrebt. Die EU wird als ein wichtiger Partner der NATO deutlich hervorgehoben. Ausdrücklich soll Russland – die NATO bildet keine Bedrohung für Russland – in eine enge Kooperation mit der NATO eingebunden werden. Dazu zählen eine intensivere Nutzung des NATO-Russland-Rates und auch die Einbindung Russlands in das geplante bündnisweite Raketenabwehrsystem. Die Erweiterung der NATO bildet im neuen Konzept kein vordringliches Thema mehr. Die Offenheit der NATO für alle europäischen Demokratien wird jedoch unterstrichen.
Bewertung
Das neue Strategische Konzept der NATO gibt Richtung und Orientierung für die sicherheitspolitischen Herausforderungen an der Schwelle des 21. Jahrhunderts vor. Die 28 NATO-Mitglieder bewerten Sicherheit unterschiedlich. Während z.B. die osteuropäischen Mitgliedstaaten einen russischen Revisionismus fürchten, sehen Spanien und Italien Instabilitäten im Mittelmeerraum als Sicherheitsrisiko an. Die USA und Großbritannien betrachten den internationalen Terrorismus und die Proliferation von Massenvernichtungswaffen als vordringliche Bedrohung für den Westen. Dem Konzept ist es gelungen, diese Perzeptionen zu berücksichtigen. Unverändert und unmissverständlich hält die NATO am Artikel V (collective defence) fest. Die Aufgabenvielfalt wird nicht eingeengt, und die militärischen Planungen auf Einsatz- und Verlegefähigkeit konzentriert. Dabei tritt das Konzept nicht kraftstrotzend, sondern zurückhaltend auf. Die Bündniserweiterung wird hinten angestellt und die Idee einer weltweit agierenden NATO als Allianz der Demokratien wird sachlich und nicht offensiv vertreten. Im Einzelnen ist das nur 11-Seiten umfassende Konzept häufig skizzenhaft und unspezifisch, aber es steckt den Kurs ab, der nunmehr von den Mitgliedstaaten und der Allianz eingeschlagen werden muss.