Missile Defense – Entwicklung, Konzeption und Konsequenz der US — amerikanischen Raketenabwehr

Flagge USA

Mis­sile Defense – Entwick­lung, Konzep­tion und Kon­se­quenz der US — amerikanis­chen Raketen­ab­wehr

Kom­men­tiert­er Ver­anstal­tungs­bericht zum Vor­trag von Her­rn Dipl.-Sozialwissenschaftler Sam­mi San­dawi vom Berlin­er Insti­tut für Europäis­che Poli­tik, gehal­ten am 4.2.2008 in Leipzig bei ein­er Ver­anstal­tung von Leip­Sich (Leipziger Stu­den­tis­ch­er Arbeit­skreis für Sicherheitspolitik)

Es herrschte helle Aufre­gung in der Medi­en­land­schaft. Der rus­sis­che Präsi­dent Putin hat­te auf der alljährlich stat­tfind­en­den Münch­en­er Sicher­heit­skon­ferenz 2007 die USA scharf angrif­f­en und sie auf­grund ihrer impe­ri­alen Absicht­en und aggres­siv­en Außen­poli­tik scharf kri­tisiert. Dieser Auftritt ste­ht sym­bol­isch für die sich während des ganzen Jahres ver­schlechtern­den rus­sisch-amerikanis­chen Beziehun­gen. Ein zen­trales, von Rus­s­land immer wieder vorge­bracht­es The­ma war dabei die geplante, amerikanis­che antibal­lis­tis­che Raketen­ab­wehr, die von Rus­s­land heftig attack­iert wurde. Eine Radaran­lage in Tschechien und eine Raketen­ba­sis mit zehn Abfan­graketen in Polen — das war und ist also der vorder­gründi­ge Stre­it­punkt zwis­chen Rus­s­land ein­er­seits und den Vere­inigten Staat­en von Ameri­ka und den bei­den betrof­fe­nen osteu­ropäis­chen Län­dern ander­er­seits. Die geplante Sta­tion­ierung amerikanis­ch­er Raketen­ab­wehrstel­lun­gen und – ein­rich­tun­gen in den bei­den ost­mit­teleu­ropäis­chen Staat­en hat­te 2007 die poli­tis­chen Beziehun­gen zwis­chen den bei­den ehe­ma­li­gen Kon­tra­hen­ten des Kalten Krieges weit­er abkühlen lassen. Das durch mehrere Prob­lem­punk­te und ein latentes, stärk­er wer­den­des Mis­strauen belastete Ver­hält­nis der bei­den Mächte wurde durch diesen Stre­it noch weit­er getrübt. Zudem entwick­elte sich auch transat­lantisch eine heftige Debat­te über den Sinn und den Unsinn dieses mil­liar­den­schw­eren amerikanis­chen Rüs­tung­spro­jek­tes. Dieser Diskurs mün­dete in hitzi­gen ide­ol­o­gisierten Debat­ten in Europa und vor allem in Deutsch­land über das generelle amerikanis­che Engage­ment auf dem Kon­ti­nent und die Aus­rich­tung der amerikanis­chen Außen­poli­tik und let­ztlich in deutsch-amerikanis­chen Ver­stim­mungen. Diese Debat­ten zeich­neten sog­ar schemen­haft die alten transat­lantis­chen Trennlin­ien aus dem Irakkon­flikt wieder nach und riefen auf allen Seit­en alte Reflexe hervor. 

Der eigentliche Stein des Anstoßes aber, die amerikanis­ches Raketen­ab­wehr bzw. genauer das antibal­lis­tis­che Raketen­ab­wehrsys­tem stand dabei sel­ten im Fokus des Diskurs­es, viel mehr war es ein bloßer Aufhänger – sowohl in den deutschen Debat­ten, als auch für Rus­s­land. Anstatt die Sachde­bat­te zu forcieren, wurde über all­ge­meine außen­poli­tis­che Fra­gen disku­tiert und reine Gesin­nungs­de­bat­ten geführt, in der über die US-amerikanis­che Außen­poli­tik in toto geurteilt wurde.

Die Frage nach den Bedro­hun­gen, nach den Möglichkeit­en und Schwächen des Sys­tems wurde aber eher sel­ten gestellt. Doch genau diese Fra­gen soll­ten in solch ein­er Debat­te im Zen­trum ste­hen: Was steckt let­ztlich hin­ter diesem Sys­tem, was sind seine tat­säch­lichen Fähigkeit­en, Stärken, Möglichkeit­en und Schwächen? Wozu kann man es wie effek­tiv ver­wen­den? Diese Fra­gen wur­den aber kaum gestreift in der öffentlichen Auseinandersetzung.

Daher trafen sich am 4.2.2008 in der Leipziger Uni­ver­sität im Geis­teswis­senschaftlichen Zen­trum inter­essierte Stu­den­ten und Bürg­er aus Leipzig und Halle, um sich vom Ref­er­enten, Sam­mi San­dawi vom Berlin­er Insti­tut für Europäis­che Poli­tik (www.iep-berlin.de), fachkundig diese Prob­le­maspek­te näher brin­gen zu lassen. Der Diplom-Sozial­wis­senschaftler Sam­mi San­dawi fokussierte sich in seinen Aus­führun­gen ganz konkret auf die Funk­tion­sweise des amerikanis­chen antibal­lis­tis­chen Raketen­ab­wehrsys­tems (frühere Beze­ich­nun­gen: SDI, NMD) und seine Leis­tungspa­ra­me­ter, wobei er weit­ere Abwehrsys­teme aus Zeit­grün­den auss­parte. Auf­grund seines Forschungss­chw­er­punk­tes im Bere­ich strate­gis­ch­er Sicher­heit­sen­twick­lun­gen und Rüs­tungstrends, kon­nte er den Anwe­senden kom­pe­tent klärende Ein­blicke in die wirk­lichen Möglichkeit­en und Lim­i­tierun­gen dieses Sys­tems geben. Diese Ver­anstal­tung wurde aus­gerichtet vom Leipziger Stu­den­tis­chen Arbeit­skreis für Sicher­heit­spoli­tik (Leip­Sich), der als Mit­tler zwis­chen den Hochschulen, der Öffentlichkeit und der Bun­deswehr dienen soll und solche sicher­heit­spoli­tisch rel­e­van­ten The­men öffentlich machen soll.

Der Ref­er­ent, Herr San­dawi, betonte dabei zunächst, dass es seit dem Beste­hen bal­lis­tis­ch­er Langstreck­en- und Interkon­ti­nen­tal­raketen immer Aspi­ra­tio­nen seit­ens der amerikanis­chen Regierung gegeben hat­te, antibal­lis­tis­che Raketen­ab­wehrsys­teme zu entwick­eln und in Dienst zu stellen. Das Safe­guard Sys­tem stand beispiel­sweise in den 60er Jahren in Dienst. SDI, die Strate­gic Defense Ini­tia­tive wurde in den 80er Jahren forciert, aber let­ztlich als nicht tech­nisch mach­bar ver­wor­fen, nach­dem große Sum­men Geldes in die Entwick­lung solch­er Sys­teme geflossen waren. Mit der Clin­ton-Admin­is­tra­tion erhiel­ten die Pläne zu entsprechen­den Raketen­ab­wehrsys­te­men aber wieder neuen Auftrieb, so dass unter der Beze­ich­nung NMD (Nation­al Mis­sile Defense) ein neues Pro­gramm ges­tartet wurde – und dies vor allem auf­grund des Rums­feld-Reports von 1998. In diesem Bericht wurde laut Ref­er­ent die Bedro­hung der USA durch die Raketen­pro­gramme neuer, auf­streben­der Regionalmächte und der USA feindlich gesin­nter Staat­en (später als „Schurken­staat­en“ beze­ich­net) deut­lich hervorgehoben.

Im Weit­eren stellte der Ref­er­ent eben jene ver­schärfte Bedro­hungslage für den West­en und ins­beson­dere die USA dar, verur­sacht durch die fortschre­i­t­en­den Raketen- und Nuk­learpro­gramme auf­streben­der Schwellen­län­der, die ihre macht­poli­tis­chen Ambi­tio­nen damit artikulieren. Jene aber liefen der US-amerikanis­chen Hege­monie und regionaler und glob­aler Sta­bil­ität zuwider. So befan­den sich 1998 ger­ade Indi­en und Pak­istan in der Phase öffentlich gemachter Atom­tests, die der Weltöf­fentlichkeit und auch der USA deren nuk­leare Fähigkeit­en demon­stri­eren soll­ten. Bei­de Staat­en arbeit­en auch an weit­er reichen­den Träger­sys­te­men. Zudem entwick­el­ten und entwick­eln Staat­en wie Iran und Nord­ko­rea auch weit­er­re­ichende Träger­sys­teme und unter­hal­ten Nuk­learpro­gramme und streben damit den Besitz von Massen­ver­nich­tungswaf­fen an (obschon das Nuk­learpro­gramm Irans 1998 noch nicht bekan­nt war). Der dabei zugrunde liegende Gedanke sei, so der Ref­er­ent, durch den Besitz von weit reichen­den Träger­sys­te­men und Massen­ver­nich­tungswaf­fen genü­gend Abschreck­ungspoten­zial zu haben, um sich poli­tisch gegen US-amerikanis­chen Ein­fluss und Druck immun zu machen und selb­st eine aktive Außen­poli­tik betreiben zu kön­nen. Der Besitz von Massen­ver­nich­tungswaf­fen und entsprechen­den Träger­sys­te­men sichere dadurch diesen Staat­en Pres­tige und Macht. Sie kön­nen ihre Waf­fe­narse­nale dabei als sym­bol­is­che Waffe in diplo­ma­tis­chen Ver­hand­lun­gen, als bar­gain chip und damit als Ver­hand­lungsjok­er und Druck­mit­tel einsetzten.

Gegen diese Entwick­lun­gen richte sich die Raketen­ab­wehr in ihrer intendierten Ziel­stel­lung. Doch wie genau kön­nen diese feindlichen Raketen neu­tral­isiert und bekämpft wer­den? Diese Frage wurde im drit­ten Teil der Ver­anstal­tung beant­wortet. Das pro­jek­tierte amerikanis­che Sys­tem fokussiere sich dabei auf die so genan­nte Mid-Course Phase bal­lis­tis­ch­er Raketen, bei der der feindliche Sprengkopf bei seinem Zielan­flug in der mit­tleren Flug­phase im Wel­traum zer­stört wer­den soll mit­tels eines Kill Vehicels. Jenes wird von ein­er Abfan­grakete in die Atmo­sphäre befördert und soll dann den Sprengkopf mit hoher Geschwindigkeit ram­men und neu­tral­isieren. Neben dem Ver­such, den Sprengkopf in der Mid-Course Phase zu tre­f­fen, gäbe es laut Ref­er­ent auch Pläne, in der Start­phase die feindliche Rakete samt Sprengkopf zu zer­stören. Die startk­lar gemachte feindliche Rakete würde über Vor­warn­sys­teme und Spi­onage­satel­liten zeit­nah geortet und von einem nahe gele­ge­nen Stützpunkt oder Kriegss­chiff aus mit Abfan­graketen bekämpft.

Im Weit­eren machte der Ref­er­ent aber die tech­nis­chen Schwächen und Lim­i­ta­tio­nen des Sys­tems deut­lich und hin­ter­fragte damit den eigentlichen, funk­tionalen Sinn des ganzen Sys­tems. Ins­beson­dere bei der Mid-Course Bekämp­fung gehe es let­ztlich darum „to hit a bul­let with a bul­let“. Extrem genaue und schnelle Radar- und Sen­soren­dat­en und extrem hochw­er­tige und schnelle Daten­ver­rech­nung wären notwendig, um präzise und schnell genug die nöti­gen hoch detail­lierten Ziel- und Flug­dat­en für die Abfan­graketen und die Kill Vehicels zu berech­nen – bei den extrem hohen Geschwindigkeit­en und der Weite der oberen Atmo­sphäre ein beina­he unmöglich­es Unter­fan­gen. Prob­lema­tisch seien außer­dem das Steuerung­sprob­lem des Kills Vehicels auf­grund der enor­men Geschwindigkeit, die bedro­ht­en und bekämpf­baren Früh­warn­satel­liten und die möglichen Gegen­maß­nah­men, mit denen man jede Abwehr überlis­ten kön­nte. Ins­beson­dere den let­zten Punkt machte der Ref­er­ent stark, da mit­ge­führte Täuschkör­p­er oder Mehrfach­sprengköpfe (MIRV — statt eines Sprengkopfes mehrere kleinere Sprengköpfe) das Sys­tem leicht an seine qual­i­ta­tiv­en und quan­ti­ta­tiv­en Gren­zen brin­gen kön­nten und damit nut­z­los machten. 

Let­ztlich betonte der Ref­er­ent Herr San­dawi, dass zwar eine tat­säch­liche Bedro­hung beste­he durch die weltweite Pro­lif­er­a­tion von Massen­ver­nich­tungswaf­fen und die zunehmende Ver­bre­itung von weit reichen­den Träger­sys­te­men, aber er zweifelte aus­drück­lich an der Effek­tiv­ität und Leis­tungs­fähigkeit des amerikanis­chen Abwehrsys­tems. Ins­beson­dere die Bekämp­fung der feindlichen Sprengköpfe in der Mid-Course Phase stelle rein tech­nisch und physikalisch ein fast unlös­bares Prob­lem dar, ins­beson­dere wegen der möglichen Gegen­maß­nah­men. Hier wäre eher der Wun­sch Vater des Gedankens als die reale tech­nis­che Umset­zbarkeit, so der Ref­er­ent. Eine Bekämp­fung in der Start­phase schien ihm zwar eine tech­nisch und poli­tisch nicht unprob­lema­tis­che, allerd­ings ungle­ich möglichere Alter­na­tive zu sein. 

In der darauf fol­gen­den leb­haften Debat­te wur­den die poli­tis­chen Motive der USA und deren Imp­lika­tio­nen für die Lancierung dieses tech­nisch nicht voll funk­tions­fähi­gen und sehr spez­i­fis­chen Sys­tems hin­ter­fragt. Der Ref­er­ent Herr San­dawi unter­strich dabei, dass hier ins­beson­dere innen­poli­tis­che und sym­bol­is­che Aspek­te eine Rolle spie­len. Angesichts wach­sender Bedro­hun­gen müsse die US-Regierung gegenüber ihrer Bevölkerung Aktiv­ität und Stärke demon­stri­eren und Sicher­heit gewährleis­ten. Das geplante Abwehrsys­tem sei daher eine sym­bol­is­che Maß­nahme, um die eigene Bevölkerung für sich zu gewin­nen und in Sicher­heit zu wiegen bzw. die Illu­sion umfassender und per­ma­nen­ter Sicher­heit zu erzeu­gen, so der Ref­er­ent. Allerd­ings muss man in diesem Zusam­men­hang nicht nur die tech­nis­chen Unzulänglichkeit­en kri­tisieren, son­dern auch die poli­tis­chen Fehlka­lku­la­tio­nen. Schließlich bietet auch auf der sym­bol­is­chen Ebene solch ein Sys­tem keinen Schutz vor ter­ror­is­tis­chen Attack­en bzw. kann da die Bevölkerung angesichts dro­hen­der Anschläge beruhi­gen. Auch dies betonte der Ref­er­ent. Bezieht man sich im Weit­eren sog­ar auf die reale Wirk­samkeit, dann muss man nicht nur die fehlende Leis­tungssicher­heit bei diesem Sys­tem kri­tisieren, son­dern man darf auch fra­gen, wie solch eine Symp­tombe­hand­lung nach­haltig das Prob­lem der Pro­lif­er­a­tion von Massen­ver­nich­tungswaf­fen und die zunehmende Ver­bre­itung von Träger­sys­te­men „behan­deln“ soll. In diesen Sach­fra­gen kann die einzige Antwort der Hege­mo­nial­macht USA wohl kaum allein „Raketen­ab­wehr“ heißen. Viel eher sind hier poli­tis­che Lösungsan­sätze und regionale Poli­tikkonzep­tio­nen mit spez­i­fis­chen Instru­men­tarien und Strate­gien gegenüber den betr­e­f­fend­en Staat­en von Nöten. Raketen­ab­wehr kann da sich­er eine Kom­po­nente sein, aber sie allein kann kaum die Sicher­heit brin­gen, die die derzeit­ige US-Admin­is­tra­tion sug­gerieren möchte. 

Das inhaltliche Faz­it sah daher wie fol­gt aus: Die vorge­bracht­en Bedro­hun­gen sind let­ztlich real, aber wed­er ist das von der US-Regierung gewählte Mit­tel tech­nisch-funk­tion­al aus­gereift und leis­tungs­fähig, noch ist die damit ver­bun­dene ein­seit­ige Strate­gie die passende und nach­haltige Wahl. 

Unterm Strich blieb den Besuch­ern dieser höchst inter­es­san­ten und lehrre­ichen Ver­anstal­tung daher die Erken­nt­nis, dass die bish­eri­gen öffentlichen poli­tis­chen Debat­ten rund um dieses The­ma am eigentlichen funk­tionalen Kern des Diskurs­es vor­beigin­gen: Schließlich sind die tech­nol­o­gisch-funk­tionalen Schwach­stellen des Sys­tems zu evi­dent. Anstatt also rein ide­ol­o­gisch und all­ge­mein in Zukun­ft über die amerikanis­che Raketen­ab­wehr zu disku­tieren, sollte man sich lieber den Fak­ten zuwen­den und die tech­nisch-funk­tionalen Schwächen und Lim­i­tierun­gen dieses Sys­tems zur Ken­nt­nis nehmen. 

Team GlobDef

Seit 2001 ist GlobalDefence.net im Internet unterwegs, um mit eigenen Analysen, interessanten Kooperationen und umfassenden Informationen für einen spannenden Überblick der Weltlage zu sorgen. GlobalDefence.net war dabei die erste deutschsprachige Internetseite, die mit dem Schwerpunkt Sicherheitspolitik außerhalb von Hochschulen oder Instituten aufgetreten ist.

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