Im Aktuellen Fokus: Die Unabhängigkeit des Kosovos — Ein kritischer, historischer Rückblick
Die Unabhängigkeit des Kosovos im Kontext des Zerfalls Ex-Jugoslawiens
Am Sonntag, den 17.2. 2008, proklamierte die bis dato unter internationaler Verwaltung stehende serbische Provinz Kosovo unilateral ihre Unabhängigkeit von Serbien und rief den unabhängigen, multiethnischen Staat Kosovo aus. Damit reihte sich das Kosovo als momentan letztes Resultat des Zerfallsprozesses des ehemaligen Jugoslawiens in die Reihe nach der Wende neu entstandener Klein- und Zwergstaaten ein, die in Ost- und Südosteuropa entstanden sind. Mit einer Bevölkerung von knapp 2 Millionen Einwohnern und einer Fläche, die kleiner ist, als die des deutschen Bundesland Hessen, gehört das Kosovo mit zum Ergebnis des Zerfallsprozess der sozialistischen, autoritären Vielvölkerstaaten Sowjetunion, Jugoslawien und Tschechoslowakei. Im Rahmen der sozialistischen Einheitsideologie wurden in diesen Staaten mit klugem Ausgleich, aber auch mit brutaler Unterdrückung nationale Zwistigkeiten und nationale Freiheitsaspirationen unterdrückt und verhindert. Mit der politischen Wende in diesen Staaten entluden sich jedoch lange aufgestaute und manchmal neu erweckte und sogar erst produzierte nationale Energien und Ansprüche und führten zum Zerfall dieser Staaten – unblutig wie im Fall der Tschechoslowakei, mal mehr, mal weniger blutig wie im Fall der Sowjetunion und als blutige Bürgerkriege wie im Fall von Jugoslawien. Die bis dato im sozialistischen Regime mehr oder minder unterdrückten nationalen Denkweisen und Emotionen wurden neu erweckt und führten zu Spannungen, die die im politischen Wandel befindlichen Staaten schlicht überforderten. Ein Land, wie die Tschechoslowakei, die den Übergang von der Diktatur in Richtung auf Demokratie recht gut gelang, brach daher auch letztlich friedlich auseinander – die Slowaken konnten ihre Selbstbestimmung ohne Gewalt einfordern. Jugoslawien dagegen und auch die Sowjetunion konnten aus verschiedenen Gründen keinen solch gelungenen Wandel durchmachen. Die nationalen Spannungen führten direkt zum Zerfall und im Fall Jugoslawiens auch zum Bürgerkrieg und damit zu den Balkankriegen der 1990er Jahre.
Allerdings darf hier wie in vielen anderen Fällen der aufkeimende Nationalismus nicht als Naturgewalt betrachtet werden, zu dessen gewaltsamer Durchsetzung und Blüte es keine Alternative gegeben hätte. Gerade am Beispiel Jugoslawien sah man sehr schön, dass multiethnische Koexistenz bei klugem Ausgleich durchaus funktionieren konnte. Gerade im Teilstaat Bosnien-Herzegowina war die friedliche Nachbarschaft zwischen Kroaten, Serben und slawisch-bosnischen Moslems an der Tagesordnung. Dort gab es eine hohe Quote binationaler Mischehen. Im Zuge aber der Abschwächung und Auflösung der politischen Ordnung in Jugoslawien nach dem Tode Titos in den 1980er Jahren begannen die sich nun um das Erbe Titos streitenden Gruppen und Fraktionen mehr und mehr an nationale Gefühle der einzelnen Ethnien zu appellieren. Die alte sozialistische Ideologie verblasste mehr und mehr und stattdessen bedienten sich die Politiker einer anderen, ebenso effektiven Ideologie – dem Nationalismus. Durch die zunehmende Betonung nationaler Identitäten wurden alte, nie vergessene nationale Gefühle neu erweckt und im Kampf um die Verteilung von Macht, Einfluss und Posten in Jugoslawien zunehmend instrumentalisiert.
Und der größte Meister darin wurde Slobodan Milosevic. Er verdankte seinen Aufstieg und seine Macht in Serbien seiner Geschicklichkeit und Virtuosität im Ausspielen nationalistischer serbischer Gefühle. Er war Meister, sie zu instrumentalisieren und sie Dämonen gleich zum Leben zu erwecken. Und hier kommen wir zum Thema unserer Betrachtung, zum Kosovo. Denn dort, mit der Amselfeldrede von 1986 zum 600-jährigen Jahrestag der Amselfeldschlacht der Serben gegen die Osmanen, begann er seine demagogische mediale Präsenz als Beschützer der serbischen Interessen, der die Rolle der Serben und die Machtstellung der Serben in Jugoslawien bewahren wollte. Nach und nach wurden so auf allen Seiten hitzige nationale Gefühle wach, die unweigerlich zum Konflikt führten.
Bevor ich anfangen werde, die Probleme und Problemlagen rund um die Unabhängigkeit des Kosovos aufzuzeigen, möchte ich eine kleine Anekdote erzählen, die die Schwierigkeit bei der Bewertung exemplarisch verdeutlicht. Sie stammt natürlich nicht von mir, sondern – als intellektuelle Bankrotterklärung meiner Person – stammt aus einem kürzlich angelaufenen Hollywood-Film (Charly Wilsons War), ist aber in meinen Augen nur zu passend hier:
„In einer Stadt lebt ein alter Sen-Meister. Er wird immer wieder von den Leuten um Rat gefragt. Es geschah in dieser Stadt, dass ein Junge von 14 Jahren ein prachtvolles Pferd als Geschenk bekam. Alle sagten: Welch prachtvolles Geschenk! Doch der Sen-Meister sagte nur: Man wird sehen. Dann geschah es, dass der Junge mit 16 schwer stürzte und sich die Beine und Arme brach und schließlich deswegen nicht mehr richtig laufen konnte. Alle sagten: Oh, wie schrecklich für den Jungen. Der Meister sagte aber wieder nur: Man wird sehen. Dann geschah es aber, dass ein Krieg ausbrach und alle jungen Männer eingezogen wurden, bis auf den betreffenden jungen Mann. Und alle eingezogenen Männer aus der Stadt kamen in diesem Krieg um, doch jener war ausgemustert worden und überlebte. Und der Meister sagte darauf auch wieder nur: Man wird sehen….“
Was soll diese Anekdote wohl verdeutlichen?
Es geht darum, dass im Leben, wie in der Politik die meisten Entscheidungen nicht einfach richtig oder falsch sind, sondern meistens irgendwie beides zugleich. Es kommt eben immer darauf an, wann und wo von wem die Auswirkungen einer Entscheidung zu beurteilen sind und wer sie zu spüren bekommt! Daher sollte man bei der Beurteilung von Ereignissen stets differenzieren, wer wie betroffen ist und welche Folgen zu erwarten sind.