Dieser Artikel wird mit freundlicher Genehmigung der “MarineForum — Zeitschrift für maritime Fragen” veröffentlicht.
Vor 70 Jahren
Mers-el-Kébir — Tragisches Ende der französischen Marine
Im Zweiten Weltkrieg erlitt die französische Marine ein tragisches Schicksal. Frankreich hatte an der Seite Großbritanniens am 3. September 1939 dem Deutschen Reich den Krieg erklärt. 1940 verlor es den Krieg nach dem völligen Zusammenbruch seines Heeres und seiner Luftwaffe. Frankreich bat um einen Waffenstillstand, der am 22. Juni 1940 mit dem Deutschen Reich geschlossen wurde.
Die französische Marine hatte bis zum deutsch-französischen Waffenstillstand eng mit der Royal Navy operiert, zuletzt bei der Evakuierung der alliierten Truppen bei Dünkirchen und anderen Häfen. Nach dem Waffenstillstand lagen die Einheiten der französischen Marine in den Häfen des unbesetzten Frankreich und in den Kolonien. Deutschland hatte ausdrücklich auf die Auslieferung der französischen Flotte verzichtet, nur sollte durch Desarmierung sichergestellt werden, dass sie nicht mehr am Kampf gegen Deutschland teilnehmen konnte.
Im Artikel 8 des Waffenstillstandsvertrags hatte die deutsche Regierung feierlich erklärt, dass sie nicht beabsichtigt, irgendeinen Anspruch auf die französische Kriegsflotte zu erheben.
Großbritannien aber traute diesen Festlegungen nicht. Der Gedanke, die vorzügliche französische Flotte könnte den Deutschen in die Hände fallen, erfüllte Großbritanniens Premier Winston Churchill mit Sorge. Weder der im Waffenstillstandsvertrag enthaltende Verzicht Deutschlands, Ansprüche auf die französische Flotte geltend zu machen, noch das feierliche Versprechen französischer Admirale gegenüber ihren britischen Waffengefährten, sie würden eine Beschlagnahme durch den gemeinsamen Gegner niemals zulassen, bot Großbritannien genügend Sicherheit. Churchill befahl den Angriff auf die französische Flotte, obwohl die Berechtigung dazu ebenso fragwürdig war wie der Nutzen.
Am 3. Juli 1940 kreuzte ein britischer Flottenverband vor dem französischen Flottenstützpunkt Mers-el-Kebir in Nordafrika auf und stellte dem Befehlshaber der dortigen Flotte ein Ultimatum. Er solle seine Schiffe nach Großbritannien überführen oder sie selbst versenken. Admiral Marcel Gensoul, Befehlshaber des französischen Atlantikgeschwaders, aber weigerte sich, gegen die Befehle seiner Regierung zu handeln und wies das Ansinnen zurück. Darauf eröffneten die Briten das Feuer auf die Verbündeten und Freunde von gestern. Ein heftiges Gefecht entbrannte, bei dem das Gros der im Hafen liegenden französischen Schiffe schwer getroffen bzw. versenkt wurde.
Vizeadmiral James Somerville, der Kommandeur des britischen Verbandes, und seine Offiziere waren über Churchills Befehl entsetzt, auf ihre Verbündeten von gestern das Feuer zu eröffnen und wollten protestieren. Doch ehe es dazu kam, erhielten sie die unwiderrufliche Entscheidung des Kriegskabinetts (Churchill), die französische Flotte zu vernichten.
Zum britischen Flottenverband gehörten im Kern der Schachtkreuzer HOOD und der Flugzeugträger ARK ROYAL sowie die Schlachtschiffe RESOLUTION und VALIANT, zwei Kreuzer und elf Zerstörer. Somerville positionierte seine Schiffe hinter ein Vorgebirge, sodass sie darüber hinweg schießen konnten, ohne selbst ausgemacht zu werden. Um jederzeit über die Verteilung der französischen Flotte informiert zu sein, ließ er zudem je ein U‑Boot vor Oran und Algier patrouillieren. Vor Gibraltar klärte zudem ein Flugzeug auf. Britische Seeflugzeuge warfen Magnetminen in das nach Mers-el-Kebir führende Fahrwasser, um die französische Flotte am Auslaufen zu hindern.
In der Bucht von Mers-el-Kebir, wenige Meilen westlich von Oran, lagen die französischen Schlachtschiffe DUNKERQUE und STRASBOURG, die Linienschiffe PROVENCE und BRETAGNE, sechs Zerstörer und das Flugzeugmutterschiff COMMANDANT TESTE. Mit der Desarmierung war noch nicht begonnen worden. Um 16.15 Uhr ging bei Gensoul ein Funkspruch von Somerville ein:
Das Gefecht von Mers-el-Kebir |
»Wird keiner der Vorschläge (des Ultimatums) vor 17.30 Uhr angenommen, muss ich Ihre Schiffe versenken.« Damit war Gensoul klar, dass es zum Gefecht kommen würde. Er hatte Stunden zuvor bei seinen Schiffen Dampf aufmachen lassen und die Besatzungen auf Gefechtsstation befohlen. Auch die Küstenbatterien waren gefechtsklar.
Um 16.56 Uhr eröffnete Somerville das Feuer auf die Franzosen. Seit 125 Jahren – seit Waterloo – schossen Briten und Franzosen zum ersten Mal wieder aufeinander. Die französischen Schiffe schossen zurück und versuchten auszulaufen: die DUNKERQUE erhielt beim Ankeraufgehen schwere Treffer und war damit gefechtsunfähig geworden; die BRETAGNE wurde getroffen, sank und riss 977 Mann in die Tiefe; die PROVENCE wurde schwer beschädigt. Die Flugzeuge der ARK ROYAL griffen mehrmals die STRASBOURG an, doch sie konnte unbeschädigt entkommen und rettete sich in den Hafen Toulon.
Am 6. Juli kehrten die Briten nach Mers-el-Kebir zurück, um die DUNKERQUE endgültig zu vernichten. Flugzeuge der ARK ROYAL erzielten mehrere Torpedotreffer auf dem Schiff und 150 Mann der Besatzung fielen.
Admiral Darlan, Oberbefehlshaber der französischen Marine, empfand dieses neue »kopenhagen«* als persönliche Beleidigung und befahl umgehend, alle britischen Schiffe anzugreifen. Später nahm er den Befehl aber wieder zurück. Am 4. Juli erklärte die deutsche Waffenstillstandskommission die Forderung nach Desarmierung der französischen Schiffe für aufgehoben.
Das Drama von Mers-el-Kebir zeigte die tiefe Kluft, die mit dem Abschluss des deutsch-französischen Waffenstillstandes zwischen Großbritannien und Frankreich ausgebrochen war. Zudem stürzten die Ereignisse die Offiziere der meist außerhalb eines etwaigen deutschen Zugriffs liegenden französischen Schiffe in einen schweren Gewissenskonflikt: Sollten sie dem Befehl der rechtmäßigen Regierung Pétains, die für die Innehaltung der Waffenstillstandsbedingungen im Interesse des ganzen Frankreichs verantwortlich war, folgen und die Waffen niederlegen oder sollten sie an der Seite Großbritanniens weiter kämpfen? Für die meisten gab es nur einen Antwort, der rechtmäßigen Vichy-Regierung auch in schweren Zeiten die Treue zu halten.
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*1807 hatten die Briten, die mit Dänemark nicht im Kriege waren, plötzlich die Internierung der dänischen Flotte in britische Häfen verlangt. Als sich die Dänen weigerten, wurde die dänische Flotte im Hafen von Kopenhagen von den Briten angegriffen und teilweise vernichtet.
Seitdem sprechen die Briten von „to kopenhagen“, wenn eine neutrale Flotte vernichtet werden soll.