Ein Blick in die längerfristige Zukunft der Marine erinnert an das bei Wahrsagern bewährte Schauen in die Kristallkugel. Dennoch war die Marine gut beraten, den Versuch zu unternehmen, bereits frühzeitig eine Antwort auf die Frage zu geben, wohin sie sich entwickeln will. Eine hochrangige Arbeitsgruppe hat daher im Auftrag des Inspekteurs der Marine, Vizeadmiral Wolfgang Nolting, im vergangenen Jahr untersucht, über welche Fähigkeiten die Marine künftig im Gesamtspektrum der Bundeswehr verfügen soll. Es ging konkret darum, eine Zielvorstellung der Marine (ZVM) für einen langfristigen Zeithorizont bis zum Jahr 2025 – und darüber hinaus – zu entwickeln. Die Kernfrage der Untersuchung lautete: Was ist künftig wo mit welcher Ausprägung durch die Marine zu leisten?
Die Anfang November 2008 dann durch den Inspekteur der Marine gezeichnete ZVM 2025 + soll Antwort geben auf die gestellte Kernfrage und beantwortet sie durch eine grobe Abschätzung, wozu die Marine in welchem Maße zukünftig befähigt sein muss, um die ihr erteilten Aufträge auch erfüllen zu können. Letztlich skizziert die ZVM die hierzu erforderlichen Mittel für eine Flotte des Jahres 2025 und danach. Dabei berücksichtigt die ZVM insbesondere die streitkräftegemeinsame Ausrichtung der Marine. Die Zielvorstellung stellt keine Konzeption der Marine dar, sie dient vielmehr als marineinterne Grundlage für die Beteiligung am streitkräftegemeinsamen Planungsprozess in der Gesamtverantwortung des Generalinspekteurs der Bundeswehr. Unter diesen Prämissen hat die Marine mit der ZVM ganz bewusst einen Blick in die Zukunft jenseits des aktuellen Haushaltsplans in die Jahre nach 2025 getan.
Damit stellt sich allerdings für Außenstehende die Frage, warum durch die Marine ein derartiges Dokument erarbeitet wurde. Der erste wesentliche Grund für diesen Schritt war die durch den Generalinspekteur der Bundeswehr vorgenommene Weichenstellung vom Dezember 2007, in dem die »Konzeptionellen Grundvorstellungen zur Nutzung der See als Basis für streitkräftegemeinsame Operationen« – kurz KGv Basis See – von ihm gebilligt wurden. Der zweite Grund für die Erarbeitung der ZVM war, dass das aktuelle Koordinatensystem der Marine in Teilbereichen beginnt, neue Formen anzunehmen.
Drei Belege dafür seien hier erwähnt:
Die aktuelle Diskussion über das Thema »Maritime Sicherheit« und der deutschen Beteiligung bei der »Bekämpfung der Piraterie « am Horn von Afrika unter der Flagge der Europäischen Union (EU),
die Beteiligung an der »European Carrier Group Interoperability Initiative« und die Teilnahme einer Fregatte Klasse 124 an einer Carrier Strike Group der US-Navy in 2010,
die Tatsache, dass sich ein 1:1 Ersatz der Plattformen der Marine bereits seit längerer Zeit finanziell nicht mehr durchhalten lässt.
Die Marine hat die vorstehenden Aspekte in der ZVM eingehend analysiert und sich dabei an nationalen Vorgaben, Entwicklungen in den Vereinten Nationen, der NATO und EU und internationalen Trends in der Welt und bei den Partnernationen orientiert. Am Anfang der Arbeit an der ZVM stand die Analyse des sicherheitspolitischen Rahmens und aktueller Trends. Nur vier seien hier exemplarisch genannt:
Sea King landet auf dem EGV BERLIN Bildquelle: PIZ Marine |
Deutschland liegt im Zentrum Europas – keine Nation innerhalb der EU hat mehr Nachbarn als wir. Deshalb werden die deutschen sicherheitspolitischen Interessen und die strategischen Rahmenbedingungen auch künftig im Grundsatz unverändert bleiben; gleichwohl wird es in Teilbereichen aufgrund neuer Anforderungen zu deutlichen Verschiebungen kommen.
Die Vereinten Nationen werden angesichts der bei United Nations Interim Force of Lebanon (UNIFIL) vor dem Libanon gemachten guten Erfahrungen auch künftig auf maritime Mittel zurückgreifen.
Die NATO wird im Jahr 2025 weltweit operieren; die Deutsche Marine bleibt tief in die NATO integriert, dies bedingt weitergehende Interoperabilität.
Die Rolle der EU gewinnt an Bedeutung; integrierte europäische Streitkräfte werden um 2025 – wenn überhaupt – aber nur auf niedrigem Niveau realisiert sein.
Als Fazit ist davon auszugehen, dass die Bundesrepublik Deutschland auch in Zukunft nicht auf eigene maritime militärische Fähigkeiten wird verzichten können: Die Deutsche Marine bleibt auch jenseits des Jahres 2025 relevant. Das war die gute Nachricht – die schlechte ist, dass die Wahrscheinlichkeit eines größer werdenden finanziellen Handlungsrahmens für die Bundeswehr eher als gering eingeschätzt werden muss.
Innerhalb des Aufgabenspektrums der Bundeswehr werden Konfliktverhütung und Krisenbewältigung weiterhin als die wahrscheinlichsten und damit als die strukturbestimmenden Aufgaben bewertet. Künftig wird es für die Deutsche Marine darum gehen, im Zusammenwirken aller Kräfte die See als Basis zu nutzen, um in einem Einsatzland eine gewünschte Wirkung zu erzielen. Entscheidend hierfür sind rasche Verfügbarkeit sowie Durchhalte- und Durchsetzungsfähigkeit in potenziellen Krisenregionen weltweit und damit nicht mehr regional eingegrenzt. Die NATO hat hierfür den Begriff der Fähigkeit zu »Expeditionary Operations« geprägt. Darüber hinaus hat der Schutz Deutschlands und seiner Bürgerinnen und Bürger im Rahmen der Landes- und Bündnisverteidigung weiterhin einen hohen Stellenwert. In diesem Zusammenhang gewinnt der Beitrag der Marine zu maritimer Sicherheit zukünftig ein höheres Gewicht. Die Deutsche Marine wird sich daher – konsequent im Sinne der KGv Basis See – hin zu einer »Expeditionary Navy« weiterentwickeln. Sie muss ihre Fähigkeiten ausbauen, um Kräfte an Land von See aus unterstützen zu können.
Diese beiden Felder skizzieren die beiden Grundprinzipien der künftigen konzeptionellen Ausrichtung der Marine:
U‑Boot der Klasse 212A Bildquelle: HDW |
zum einen der Expeditionary-Charakter der Marine (Stichwort: Project)
und zum anderen der Schutzcharakter (Stichwort: Protect).
Beide Prinzipien sind eng miteinander verzahnt und finden sich in unterschiedlicher Ausprägung in der Konzeption der Bundeswehr und im Weißbuch von 2006 wieder. Die weitere Entwicklung der Marine zu lang andauernden Einsätzen (auch) in großer Entfernung und unter Bedrohung vor fremden Küsten einerseits, und der Fähigkeit zum Schutz der Küstengewässer und Seeverbindungslinien Deutschland und seiner Verbündeten andererseits wurden daher als gleichwertige Prinzipien der konzeptionellen Ausrichtung für die Deutsche Marine niedergelegt. U‑Boot der Klasse 212A (Foto: HDW)Die Zielvorstellung leitet die hierfür erforderlichen Fähigkeiten und Mittel in qualitativer und quantitativer Abschätzung für eine Flotte des Jahres 2025 konzeptionell her. Dabei wurden auch die Stärken und Schwächen der Deutschen Marine im Vergleich mit anderen europäischen Marinen analysiert.
In Abgrenzung zu den von diesen Partnermarinen verfolgten Schwerpunktsetzungen, insbesondere im Bereich von Flugzeugträgern und amphibischen Fähigkeiten, strebt die Deutsche Marine eine dazu teilweise komplementäre Entwicklung an. Sie berücksichtigt vor allem die Stärken der Deutschen Marine bei Operationen in Küstenregionen und bei der Durchhaltefähigkeit konventioneller Seekriegsmittel wie Fregatten und U‑Booten. Das Ergebnis stellt das konzeptionell schlüssig abgeleitete Ziel für den Kurs der Marine in Richtung des Jahres 2025 und darüber hinaus dar: eine Marine mit ausgewogenen Fähigkeiten sowohl zum Schutz von Seewegen und Seeräumen auf der einen Seite, als auch mit Fähigkeiten einer durchsetzungsfähigen Expeditionary Navy auf der anderen Seite. Der mit der ZVM vorgegebene Anspruch ist ehrgeizig. Unter den anhaltenden Ressourcenzwängen werden auch künftig Priorisierungen und Kompromisse notwendig bleiben.