Dieser Artikel wird mit freundlicher Genehmigung der “MarineForum — Zeitschrift für maritime Fragen” veröffentlicht.
Deutschlands Sicherheit von See her denken
Der Schwerpunkt unseres Lebens spielt sich heute und auf absehbare Zeit an Land ab. Dennoch bleiben auch im Informationszeitalter die Meere die Hauptschlagadern, die zum industriellen Herzen der Nationen führen. Sie können zur Ausweitung oder Beeinträchtigung des Handels führen, Wohlstand oder Unheil bringen. Sir Walter Raleigh, einer der bedeutendsten Seehelden Englands, drückte es so aus: »Wer das Meer beherrscht, beherrscht den Welthandel. Wer aber den Welthandel beherrscht, beherrscht auch die Reichtümer der Erde und damit diese selbst«.
Auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist die maritime Wirtschaft ein kraftvoller, weiter wachsender Zweig der globalen Ökonomie, der jedoch zugleich zahlreichen Herausforderungen ausgesetzt ist. Schon mit dem Weißbuch 2006 hat die damalige Bundesregierung festgestellt, dass Globalisierung und technischer Fortschritt auch Kehrseiten haben; die zunehmend einfache illegale Aneignung und der Missbrauch von sensiblem Wissen und Technologien durch Staaten, nicht staatliche Akteure, den internationalen Terrorismus oder durch die organisierte Kriminalität gefährden Deutschlands politische und wirtschaftliche Strukturen sowie seine kritische Infrastruktur. Offene Seehandelsrouten und eine naturgemäß verwundbare maritime Infrastruktur bieten leichte Ziele mit enormer Tragweite – und das nicht nur für Piraten!
Denn auch die konventionelle Flottenrüstung hat wieder Hochkonjunktur, seit neben Russland auch China und Indien, die derzeit schnellst wachsenden Volkswirtschaften der Welt, ambitionierte Flottenpläne inklusive strategischer Projektionsfähigkeit hegen. Diese gewaltige Aufrüstung zur See ebenso wie die unübersehbare Ausdehnung über See berühren unmittelbar unsere Sicherheit, weil auch diese Flotten der Durchsetzung von Interessen und Ansprüchen dienen, sei es im Indischen Ozean, im Südchinesischen Meer oder in der Arktis.
Hier, im vormals ewigen Eis, liegt wohl auch die tief greifendste maritime Herausforderung der nahen Zukunft: Arktische Sommer mit periodisch eisfreien Wasserflächen eröffnen neue Seerouten und den Zugang zu den vermuteten reichhaltigen Bodenschätzen. Ein Wiederaufflammen territorialer Streitigkeiten ist so gewiss wie das mit der verstärkten menschlichen Anwesenheit und Nutzung des Arktischen Ozeans steigende Risiko von Krisen, Unfällen und ökologischen Katastrophen. Sicher ist auch, dass sich mit den neuen Möglichkeiten die geostrategischen Koordinaten im Nordatlantikraum zugunsten der Arktisanrainer verschieben werden.
Und Deutschland? Zentral auf der Halbinsel Europa gelegen, sind wir abhängig von der Energie- und Rohstoffzufuhr und dem Export über See, betreiben die weltweit drittgrößte Handelsflotte und beherbergen an unseren Küsten leistungsfähige Häfen und moderne Werften mit Weltruf. Deren Schutz indes bleibt Nebensache, auch weil wir unsere Hausaufgaben in punkto Souveränität noch immer nicht gemacht haben. Es ist an der Zeit, die rechtlichen Kompetenzen der Deutschen Marine an die veränderte Lebensrealität anzupassen. Wann immer die Fähigkeiten der Bundespolizei See nicht mehr ausreichen, um die Bevölkerung, Infrastruktur oder Schiffe wirksam zu schützen, muss es möglich sein, die Bundeswehr mit ihrem gesamten maritimen Fähigkeitsspektrum einsetzen zu dürfen. Vorerst verstellt in sicherheits- und verteidigungspolitischen Kreisen ein traditionell kontinental geprägtes Denken den Blick für die Bedeutung der See und die Möglichkeiten ihrer Nutzung. Inmitten dieser maritimen Tristesse zeugt es von sorgfältiger strategischer Analyse und konzeptionellem Weitblick, dass die Deutsche Marine ihre »Escort«-Kapazitäten um »Expeditionary«-Fähigkeiten einschließlich amphibischer Komponente zu erweitern beabsichtigt. In der Material- und Ausrüstungsplanung indes fielen wirklich neue maritime Fähigkeiten erst einmal dem Rotstrich zum Opfer.
Mit der Fokussierung auf das Land befinden wir uns allerdings in guter Gesellschaft. In der NATO hatte man zwar bereits 1991 festgestellt, dass der Zugang zu strategischen Ressourcen und freie Seewege vitale Interessen des Bündnisses sind – und sich dann doch wieder dem seit jeher organisierenden Prinzip der Allianz zugewandt: der Bedrohung an Land. Und in der eher zivil geprägten EU erschöpft sich auch maritime Sicherheit in möglichst unverbindlichen Konzepten und Initiativen. Die NATO als genuin atlantisches Bündnis muss ihr maritimes Wesen neu begreifen, die EU maritimes Denken erst noch lernen! Anderenfalls drohen beide Organisationen global zur sicherheitspolitisch vernachlässigbaren Größe zu schrumpfen, denn Handel und Wandel auf dem Meer bestimmen zunehmend die Koordinaten der Weltordnung!
Die See birgt Chancen und Risiken, beide werden künftig mehr als je zuvor im maritimen Umfeld kulminieren. Wirtschaftlich sind wir mit einer leistungsfähigen Handelsflotte, florierenden Häfen und modernen Werften für das maritime Jahrhundert gut aufgestellt. Um hierfür wirksamen Schutz bieten zu können, sollten wir verfassungsrechtliche Regelungen beim Einsatz der Streitkräfte überprüfen, sie gegebenenfalls an die Einsatzrealität anpassen und die maritimen Fähigkeitslücken der Bundeswehr konsequent schließen. Für die Zukunft führt kein Weg daran vorbei, Deutschlands Sicherheit mehr als bisher von See aus zu denken.
Zum Autor
Thomas Kossendey
(Thomas Kossendey (MdB) ist Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister der Verteidigung)