Deutschland — Episoden deutscher Segelschifffahrt

Dublette der Ereignisse der deutschen Segelschiff­fahrt von 1957
Im Jahr 2006 wur­den wir – und nicht nur die mar­itime Öffentlichkeit son­dern Mil­lio­nen Fernse­hzuschauer – durch den Fernse­hfilm über den Unter­gang der PAMIR an das tragis­che Schick­sal von 1957 erinnert.

Die am 21. Sep­tem­ber 1957 600 Seemeilen süd­west­lich der Azoren im Sturm gesunkene PAMIR, mit dem Ver­lust von 80 Seeleuten, hat die Welt bewegt. Über die Ursachen gab es nach der Seegerichtsver­hand­lung Erken­nt­nisse und seemän­nisch-nautis­che Schlussfol­gerun­gen, aber auch Speku­la­tio­nen. Die Würde der auf See Gebliebe­nen gebi­etet unseren Respekt und Anerken­nung ihres muti­gen Kampfes mit den Gewal­ten. Das Unglück führte u.a. in bei­den deutschen Staat­en zu Entschei­dun­gen sowohl über den Ein­satz Fracht fahren­der Segelschulschiffe als auch über neue Sicher­heits­stan­dards bei Segelschulschiffen.

Von der Öffentlichkeit kaum wahrgenom­men, kann man als Dublette der Ereignisse jen­er Zeit nach­fol­gende Tat­sachen betra­cht­en. Als am 10. August 1957 die PAMIR in Buenos Aires mit der Getrei­de­ladung zu ihrer let­zten Reise aus­lief, segelte just zur gle­ichen Zeit das DDR Segelschulschiff WILHELM PIECK 450 Seemeilen östlich der Azoren, nahe des Iberischen Beck­ens, im Atlantik­sturm unter dem Kom­man­do von Kapitän Artur Friedrich, eines in der Lev­an­te­fahrt erfahre­nen, tüchti­gen Seemanns. 

Marineforum Fregatte ALMIRANTE LATORRE Die kleine Schoner­brigg mit 570 m² Segelfläche, ein­er Ver­drän­gung von 280 t, ein­er Länge von 41 m, ein­er Bre­ite von 7,60 m und ein­er Mas­chine von 100 PS befand sich auf der Rück­reise ihrer größten Fahrt über sieben Meere. Die Reise führte vom Heimath­afen Greif­swald- Wieck durch Ost- und Nord­see, Atlantik, Mit­telmeer, Ion­is­ches Meer, Adri­atis­ches Meer, Ägäis­ches Meer bis zum Schwarzen Meer und zurück. Wir passierten Wasser­straßen und Meeren­gen, den Nord-Ost­see-Kanal, die Straße von Dover und Calais, den Englis­chen Kanal, die Straße von Gibral­tar, die Straße von Messi­na, die Dar­d­anellen, das Mar­maris-Meer und den Bosporus sowie auf der Rück­reise auch die Straßen von Mal­ta und Sizilien. In 99 Tagen vom 15. Mai bis 22. August 1957 haben wir 8.789 Seemeilen, meist unter Segel zurück­gelegt. Wir besucht­en die Häfen Gibraltar/ Britis­che Kro­nkolonie, Durres/Albanien, Varna/Bulgarien, Odessa/Ukraine und Constanza/ Rumänien.

Wir waren 33 Mann Besatzung an Bord, davon 18 Män­ner für ein seemän­nisch nautis­ches und zwei Män­ner für ein maschi­nen­tech­nis­ches Prak­tikum. Im Wach­di­enst wech­sel­ten wir bei unserem Prak­tikum die Rollen im Deck­di­enst, bei Segel­manövern in der Take­lage, als Rud­ergänger, als Aus­guck, als Kop­pel­gast und nautis­ch­er Wachof­fizier-Assis­tent auf der Brücke bzw. als Maschinen-Assistent.

Vom täglichen seemän­nis­chen Bor­d­di­enst bis zur Schiffs­führung mit Beobach­tun­gen zur ter­restrischen und astronomis­chen Nav­i­ga­tion sowie Wet­ter­analy­sen war es eine tolle unvergessliche Prax­is der Seefahrt. Eine Lebenss­chule für den Charak­ter. Alle für Einen – Ein­er für Alle. Eine Hand für dich und eine Hand fürs Schiff. Erleb­nis und Bewährung in heißer Mit­telmeer­son­ne sowie in stür­mis­chen Tagen und Nächt­en im Atlantik. Wir haben Län­der, Häfen und Kul­turen ander­er Völk­er und Men­schen ken­nen gel­ernt. Ich habe mein ganzes Beruf­sleben von dieser Reise gezehrt. An Kapitän und Besatzung wur­den hohe Anforderun­gen gestellt, Belas­tun­gen bewältigt und ein solides Aus­bil­dung­spro­gramm absolviert.

Als sich am 10. Sep­tem­ber 1957 die Vier­mast­barken PAMIR und PASSAT am Äqua­tor ein let­ztes Mal trafen, hat­ten wir mit unser­er Schoner­brigg bere­its wieder im Heimath­afen Greif­swald-Wieck fest­gemacht. Die Nachricht vom tragis­chen Unter­gang der PAMIR am 21. Sep­tem­ber 1957 machte uns umso betrof­fen­er, weil die per­sön­lichen Ein­drücke von gewalti­gen Stür­men dieses Seege­bi­etes wieder lebendig wurden.

Jet­zt nach 50 Jahren ver­di­ent die dama­lige Reise unseres Segelschulschiffes über sieben Meere – auch als ein beschei­denes Stück Geschichte der deutschen Segelschiff­fahrt – betra­chtet zu wer­den. Der mar­itim beschla­gene Leser weiß auch die wirtschaftlichen und inter­na­tionalen Aspek­te dieser Zeit für die DDR einzuordnen.

Es galt Völk­er­fre­und­schaft bei noch begren­zten diplo­ma­tis­chen Beziehun­gen zu vertreten. Im Nahen Osten bildete sich ein gefährlich­er Kriegsh­erd her­aus, eigentlich soll­ten wir damals noch Alexandria/Ägypten anlaufen. Auch die Ungar­nereignisse belasteten die Beziehun­gen zwis­chen eini­gen sozial­is­tis­chen Län­dern. Z.B. gab es diplo­ma­tis­che Span­nun­gen zu Alban­ien und Jugoslaw­ien. Für die sich im Auf­bau befind­liche Seewirtschaft mussten sta­bile und ver­lässliche Mak­lerverbindun­gen geschaf­fen wer­den. Ein möglich­es Anlaufen von Nothäfen wurde durch fehlende Kon­vertier­barkeit der Währung und durch noch nicht vorhan­dene kon­sular­ische Vertre­tun­gen erschw­ert. Hinzu kamen eine – ver­glichen mit den heuti­gen Stan­dards – ein­fache und beschei­dene nautis­che und tech­nis­che Aus­rüs­tung unseres Segelschulschiffes.

Um so mehr wog damals der Mut, die Erfahrung und das Kön­nen von Kapitän Artur Friedrich, sein­er Steuer­leute Wil­helm Haase und Horst Rick­ert, sowie des entschlosse­nen Ober­boots­man­nes Peter Wein­hold. Und ins­ge­samt die Ein­satzbere­itschaft und der Teamgeist der gesamten Besatzung. Bei der Bew­er­tung dieser Zeit und Reise, die ich als seemän­nisch-nautis­ches Prak­tikum miter­lebte, kommt mir eines der schön­sten Gedichte, die uns Joachim Ringel­natz als Biograf des seemän­nis­chen Lebens hin­ter­ließ, in den Sinn: »Es rauscht wie Frei­heit, es riecht wie Welt, Natur gewor­dene Planken sind Segelschiffe. Ihr Anblick erhellt und weit­et unsere Gedanken.«

In mein Tage­buch schrieb ich am 10. August 1957:
»Heute scheint der Atlantik­sturm seinen Höhep­unkt zu erre­ichen. Wind­stärke 8–9 in Böen Stärke 10–11. Es ste­ht eine unheim­liche See. Ich habe wieder Brück­en­di­enst. Aufmerk­sam beobachte ich die Bewe­gun­gen des Schiffes. Es ist schon toll, als Wachof­fiziers-Assis­tent auf dem Ach­ter­deck zu ste­hen und Mitver­ant­wor­tung für das Schiff zu tra­gen. Ich achte auf die Segel­stel­lung und den Kurs des Schiffes. Ein Brech­er nach dem anderen schlägt mit Wucht auf Deck. Wir sind im Sturmtief. Der Kapitän ist ern­ster gewor­den, er weiß, was auf dem Spiel ste­ht. Im Dun­klen kon­trol­liert er mit sein­er Taschen­lampe die Ret­tungs­boote. Der Groß­mast knar­rt und arbeit­et in sein­er Hal­terung. Die ein­fal­l­en­den Böen erschüt­tern das Schiff. Es pfeift in der Takelage.

Immer wieder kommt der Gedanke – hof­fentlich nur heil aus dieser Hölle raus. Hof­fentlich hält der Groß­mast, mit ger­efftem Großsegel. Weit­er­hin sind am Fock­mast Fock, Mars und zwei Klüver geset­zt. Wir machen 8–9 Knoten Fahrt. – Es heißt immer wieder vorwärts.

Eine See kam wieder von Back­bord über das Karten­haus. Ich stand an Steuer­bord auf dem Ach­ter­deck. Ich habe nur kurz die Augen zugemacht, vielle­icht ist es die Let­zte? Der Rud­ergänger ist fest­ge­bun­den. Streck­taue machen es der Besatzung möglich, sich über Deck zu bewe­gen. Eine Böe mit ein­er Flugsee von etwa Stärke 11–12 ist einge­fall­en — mir ver­schlägt es die Sprache. Die Gewalt des Sturmes habe ich noch nie so gespürt. Doch ich bin selb­st erstaunt über die Ruhe, die wir haben. Man darf dabei nicht an Zuhause denken. Uns erre­ichen laufende Seenot­mel­dun­gen von ver­schiede­nen Schif­f­en. Ein englis­ch­er Dampfer ist im Sturm gesunken. Die Ret­tungsar­beit­en wer­den eingestellt. Keine Hoff­nung mehr. Hier und dort ist ein Mann über Bord gegan­gen – an alle Schiffe geht die Bitte um Hilfe.

Um 24.00 Uhr gehe ich schlafen. Die let­zte und furcht­barste Nacht im Atlantik. Ich ver­suche zu schlafen. Noch rollen die Wasser­massen über Deck. Das Schiff holt über – fast bis an den Ken­ter­punkt von 48 Grad. Die Ner­ven arbeit­en — wann wird es zum let­zten Mal über­holen und kommt nicht mehr zurück? Doch das Schiff ist sta­bil. Ein Lob den Schiff­bauern und dem Kön­nen von Kapitän und Besatzung.«

Der Schrift­steller Götz R. Richter, der mit an Bord war, hat mit seinem Buch »Segel in Sonne und Sturm« dieser Reise ein Denkmal geset­zt. Auch der Schw­er­iner Ama­teur­funker, Heinz Stiehm, saß Tage und Nächte an sein­er Ama­teur­funksta­tion DM5MM. Er hat­te in seinem QSL Verbindun­gen Kon­takt mit aller Welt. Mit Erre­ichen des Englis­chen Kanals war unser Klüver­baum wieder auf Kurs Heimat gerichtet. Nach Passieren des Nord-Ost­see-Kanals am 17. August 1957 ging am Kiel­er Feuer­schiff gegen 00.30 Uhr der Lotse von Bord. Er sprach voller Anerken­nung über unser Schiff und seine Besatzung. Auch war er begeis­tert, als Lotse endlich wieder an Bord eines Segelschiffes zu sein.

Mit dem Blick auf die noch ein­heitliche schwarz-rot-gold­ene deutsche Flagge — hoffte er auf die baldige Real­isierung der Vorschläge und Gespräche vom Som­mer 1957 zur Bil­dung ein­er deutschen Kon­föder­a­tion. Er nahm Anteil an der glück­lichen Stim­mung, die auf unserem Schiff herrschte. Als Mit­glied des Kiel­er Lotsen­chores stimmte er zum Abschied mit seinem Megaphon im Lot­sen­boot ste­hend, den Song der Segelschiff­fahrt »Rolling Home« an. Begeis­tert san­gen wir zusam­men in den nächtlichen Ost­see­him­mel den Refrain »Rolling home, rolling home, rolling home across the sea«.

Manch­er von uns unter­drückt seine Freuden­trä­nen. Immer, wenn ich heute diesen Shan­ty höre oder singe, sehe ich unsere Schoner­brigg und den Kiel­er Lot­sen. Es war ein Stück Gemein­samkeit in ein­er Zeit, die für die deutsche Teilung noch drama­tis­ch­er wer­den sollte, aber glück­licher­weise 33 Jahre später endgültig über­wun­den wurde.

Heute nach 50 Jahren ver­spricht die Schoner­brigg GREIF ex. WILHELM PIECK unter Kapitän Wolf­gang Fusch, wieder ein­ma­lige Erleb­nisse unter weißen Segeln. Die GREIF ist Mit­glied der bei­den Segelvere­ini­gun­gen »Trans Ocean« und der »Sail Train­ing Asso­ci­a­tion Ger­many«. Das Schiff gehört seit 1990 der Uni­ver­sitäts- und Hans­es­tadt Greif­swald. Wenn die Blicke mit meinem Urenkel an der Hand im Hafen Greif­swald-Wieck in die Mas­ten des jet­zt mod­ern aus­ges­tat­teten Seglers gehen, wer­den Erin­nerun­gen wach an ein Stück deutsche Geschichte und an eine faszinierende Jugendzeit. Doch was wir gemein­hin als Geschichte beze­ich­nen, ist eine in der Nach­be­tra­ch­tung vorgenommene Inter­pre­ta­tion des tat­säch­lich Erlebten.

Trotz aller Ansprüche auf Objek­tiv­ität ist und bleibt die Darstel­lung an die Sub­jek­tiv­ität des Betra­chters gebun­den. Urteile bei der Bew­er­tung von Vorgän­gen der Ver­gan­gen­heit wer­den daher auch bei unserem The­ma unter­schiedlich ausfallen.

Unsere alte Crew wird sich nach 50 Jahren – Anfang Sep­tem­ber 2007 – in Greif­swald-Wieck wieder tre­f­fen. Für ein Drit­tel der ehe­ma­li­gen Besatzung wer­den wir stilles Gedenken ein­le­gen und die lyrischen Zeilen eines alten See­bären (Dieter E. Kil­ian) zu würdi­gen wis­sen. »Du her­rliche See, voll Sonne und Wind, nie werd ich dich wieder erleben. Doch grüßt mir die Jun­gen, die nach mir sind, die Jugend zur See, sie soll leben.«

Team GlobDef

Seit 2001 ist GlobalDefence.net im Internet unterwegs, um mit eigenen Analysen, interessanten Kooperationen und umfassenden Informationen für einen spannenden Überblick der Weltlage zu sorgen. GlobalDefence.net war dabei die erste deutschsprachige Internetseite, die mit dem Schwerpunkt Sicherheitspolitik außerhalb von Hochschulen oder Instituten aufgetreten ist.

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