Nach 1990: Einsatzrealität und konzeptionelle Neuorientierung
1989/90 endete die Blockkonfrontation. Damit ging die Hoffnung einher, dass militärische Konflikte künftig nur eine geringe Rolle spielen sollten. Aus einer erheblichen Reduzierung der Streitkräfte sollte sich eine Friedensdividende ergeben. Doch schon im August 1990, also noch vor der deutschen Wiedervereinigung, zeigte der irakische Überfall auf Kuwait, dass die Welt außerhalb Europas nicht so friedlich war wie erhofft.
Die Erwartungshaltung unserer Verbündeten, ein nunmehr souveränes Deutschland werde sich an der militärischen Lösung des Problems beteiligen, traf die deutsche Öffentlichkeit vollkommen unerwartet. Es folgte eine Diskussion über so genannte Out-ofarea-Einsätze, die erst mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Juli 1994 ein vorläufiges Ende fand.
Die Marine hatte im Herbst 1989 damit begonnen, sich Gedanken über ihre künftige Ausrichtung zu machen. In die Überlegungen der damit beauftragten Arbeitsgruppe Marine 2005 platzte die Wende des Jahres 1990 sozusagen hinein. Die Arbeitsgruppe vollendete ihre Aufgabe unter dem Eindruck der Veränderungen und der öffentlichen Erwartungen im Lande. Unter diesen Umständen verwundert es nicht, dass sich in den »Zielvorstellungen der Marine« 1991 keine Ansätze für streitkräftegemeinsame Operationen wieder finden. Gleiches gilt für besondere Fähigkeiten von Seekriegsmitteln, gegen Land zu wirken. Es war nicht die Zeit für Ideen, die als Konzept zur überseeischen Machtprojektion durch ein deutsches Expeditionskorps hätten interpretiert werden können. Angesichts der politischen Diskussionen hätten sie das Projekt Marine 2005 an sich gefährdet.
Die Realität holte die deutsche Öffentlichkeit jedoch schnell ein. Ein Auslandseinsatz der Bundeswehr folgte bald dem nächsten. Den Anfang machte die Marine mit der Operation Südflanke 1990/91. 1993 wurde ein deutsches Heereskontingent nach Somalia entsandt. Dieser Einsatz endete mit dem improvisierten Rücktransport von Heeressoldaten auf Fregatten und Versorgern und ließ den Ruf nach einem besser geeigneten Mittel laut werden.
Man plante ein so genanntes Mehrzweckschiff. Die Marine sah dabei in erster Linie das Heer als Bedarfsträger. Offensichtlich bewertete man dort den Nutzen jedoch nicht so hoch wie in der Marine und sah auch die Konkurrenz bei der Verteilung des Geldes. Insgesamt scheiterte dieses Projekt aber wohl an vielfältigen Widerständen.
Die nach dem Regierungswechsel von 1998 einberufene Weizsäcker-Kommission setzte sich grundsätzlich mit der seit 1990 veränderten sicherheitspolitischen Lage auseinander. Sie gab auch Empfehlungen für das künftige engere Zusammenwirken der Teilstreitkräfte im Einsatz. Für die Marine stellte sie fest: »Die neuen Aufgaben, vor allem die Unterstützung anderer Teilstreitkräfte, und die Entwicklungen bei den Verbündeten verlangen eine weiter reichende Neuorientierung als bisher beabsichtigt. Vordringlich erscheint, die Führungsfähigkeit zu verbessern und militärische Transportschiffe zu beschaffen, mit denen Streitkräfte auch unter Bedrohung ins Einsatzland gebracht, dort unterstützt und gegebenenfalls zurückverlegt werden können. Das erfordert Hubschrauber und Umschlagtruppen.«
Die Kommission empfahl, Einsatzunterstützungs- und Transportschiffe zu beschaffen, um die Mobilität der Bundeswehr zu verbessern. Gleichwohl konnten auch diese Projekte, bekannt unter dem Namen ETrUS, nicht in der Bundeswehrplanung durchgesetzt werden und wurden Anfang 2003 aus den Plänen gestrichen.
An dieser Stelle erscheint es mir an der Zeit, innezuhalten und sich zu fragen: Was läuft hier eigentlich schief? Ist die Forderung nach Streitkräftegemeinsamkeit nur eine Monstranz, die immer dann vorweg getragen wird, wenn man die Eigenständigkeit der Teilstreitkräfte beschränken will, und die dann bedeutungslos ist, wenn es um konkrete Rüstungsprojekte geht? Und liegt die Marine richtig mit ihrer Einschätzung, ein solches Projekt müsse von den anderen als Bedarfsträgern gefordert und finanziert werden?
Lassen Sie mich mit der Frage beginnen, welchen Wert die Streitkräftegemeinsamkeit in der heutigen Einsatzrealität hat. Vor 1990 war das erwartete Kriegsbild vom Einsatz sehr großer Truppenkörper in einem äußerst intensiven Gefechtsgeschehen gekennzeichnet. Diese Truppenkörper mussten auch bei einem kriegsbedingten Ausfall der höheren Führung unabhängig weiterkämpfen können. Jeder war für das ihm zugeteilte Gefechtsfeld zuständig und konnte dort weitgehend selbstständig agieren. Die alliierten Planungen für die Operationsführung der Seestreitkräfte waren somit von denen der Land- und Luftstreitkräfte weitgehend unabhängig.
Bei heutigen Einsätzen sind die eingesetzten Truppenkörper sehr viel kleiner, und jede ihrer Handlungen steht unter genauer Beobachtung der Öffentlichkeit und der politischen und obersten militärischen Führung. Einsätze müssen zentral geführt werden. Für gemischte Kontingente sind die Teilstreitkräfte nur Truppensteller.
Was bedeutet das in der Praxis? Wir stellen fest, dass es bisher nur wenige gemeinsame Einsätze von deutschen Land- und Seestreitkräften gegeben hat. Bosnien und Kosovo, Afghanistan und Kongo liegen im Landesinnern. Sie haben nur einen begrenzten oder gar keinen Zugang zum Meer. Die Marineoperationen Enduring Freedom, Active Endeavour und UNIFIL haben dagegen kaum Bezug zum Land. Ist die Forderung nach Streitkräftegemeinsamkeit also nur ein theoretisches Konstrukt ohne realen Bedarf? Könnten sich Heer und Marine nicht einfach um ihr Gefechtsfeld kümmern und die Gemeinsamkeiten auf die Administration in der Heimat beschränken? Warum soll man Mittel für streitkräftegemeinsame Projekte ausgeben, wenn sie gar nicht gebraucht werden?
Um diese Fragen zu beantworten, muss man die Einsatzrealität noch genauer analysieren. Tatsächlich hat es seit Somalia nur einen gemeinsamen Einsatz gegeben, der größere öffentliche Beachtung gefunden hat. Das war die humanitäre Hilfe für Sumatra, als ein Luftlanderettungszentrum des Heeres und ein Schiff der Marine, der EGV BERLIN, im Verbund zur Hilfeleistung eingesetzt wurden.
Weniger beachtet wurden einige kleinere Einsätze und Übungsvorhaben. Dazu gehört die Operation Libelle 1997 in Albanien. Die Fregatte NIEDERSACHSEN unterstützte Heereskräfte mit Führungsmitteln und als Reserve bei der Evakuierung deutscher und ausländischer Bürger aus Tirana.
Im Herbst 2005 stand die BERLIN vor der Elfenbeinküste bereit, um bei Bedarf gemeinsam mit Kräften des Heeres und der Luftwaffe europäische Staatsbürger aus diesem Land zu evakuieren. Und es war wiederum die BERLIN, die 2006 durch ihren Beitrag zur Joint Logistic Support Group die Zertifizierung der NATO Response Force im Rahmen der Übung Steadfast Jaguar auf den Kapverden wesentlich unterstützte.
In den Bündnissen wird an neuen Konzepten der streitkräftegemeinsamen Zusammenarbeit gearbeitet. Die NATO entwickelt derzeit ein Joint Sea Basing Concept, das die Möglichkeiten seeseitiger Unterstützung von Operationen beschreiben soll.
Das EU Battlegroup Konzept war in dieser Hinsicht zunächst ein echter Sündenfall, weil es nur Landstreitkräfte betrachtete. In der Zwischenzeit ist es jedoch gelungen, den Mehrwert von Komponenten der Luft- und Seestreitkräfte zu verdeutlichen, wozu die Deutsche Marine wesentlich beigetragen hat.
Die Vorteile der See als Operationsbasis sind besonders anschaulich in der Long Term Vision der Europäischen Verteidigungsagentur EDA beschrieben: »In this context, reduced theatre footprints may require an emphasis on the sea as a sphere for manoeuvre and sustainment. This reflects the problem that civilian opposition and insurrectionary movements can pose for the land as a military base, the geo-political shift away from historical bases and alliances, and political sensitivities over deployment and host nation support of troops in the territory of allies.«
Noch deutlicher wird die US-Navy in ihrer im vergangenen Oktober veröffentlichten neuen maritimen Strategie: »Permanent or prolonged basing of our military forces overseas often has unintended economic, social or political repercussions. The sea is a vast maneuver space, where the presence of maritime forces can be adjusted as conditions dictate to enable flexible approaches to escalation, de-escalation and deterrence of conflicts.«
Zugleich beobachten wir, dass viele unserer Verbündeten ihre amphibischen Kapazitäten ausbauen. Es sei zum Beispiel an die beiden neuen Landungsschiffe der Niederlande erinnert.
Daraus leitet sich nicht ab, dass zukünftig alle Einsätze der Marine tatsächlich streitkräftegemeinsam stattfinden werden. Es wird weiterhin Einsätze wie UNIFIL oder Active Endeavour geben, an denen die Marine als einzige Teilstreitkraft beteiligt ist. Wenn es aber zu einem streitkräftegemeinsamen Einsatz mit Marinebeteiligung kommt, wird dieser naturgemäß im Küstenraum stattfinden. In diesen Regionen leben zwei Drittel der Menschheit. Konflikte und Instabilität dort sind bereits jetzt keine Seltenheit. Die Vermischung von Piraterie und Terrorismus auf den Philippinen, der auch auf See geführte Bürgerkrieg in Sri Lanka oder der Zerfall Somalias sind Beispiele für derartige Unruheherde an der Küste.
Küstenregionen können stets von See aus erreicht werden. Es wird zumindest anfangs leichter sein, die See zu beherrschen, als ein Unruhegebiet an Land. Seestreitkräften kommt zudem der besondere Rechtsstatus der Hohen See zugute. Sie können vor fremden Küsten über lange Zeit ohne diplomatische Anmeldung und ohne politische Zustimmung eines Staates bereitgehalten werden. Diese besondere Fähigkeit von Seestreitkräften erlaubt es, politische Entschlossenheit zu zeigen und sich die politische und militärische Freiheit des Handelns zu erhalten. Was liegt da näher, als die See als Basis für eine streitkräftegemeinsame Operation zu nutzen?