Die Frage, welche Möglichkeiten des Handelns die Führung der Marine hat, um die beauftragte Anzahl der Vorhaben zu verringern, stellt sich an dieser Stelle nicht; die Auftragsvergabe durch die Politik in Form von kurzfristigen und/oder neuen Einsatzentscheidungen hat Vorrang. Dazu kommen aber noch Wünsche aus dem parlamentarischen Raum, Ersuchen von Botschaften, Bitten von Patenstädten und auch die berechtigten Erfordernisse zur Entwicklung und Erprobung neuer Systeme und die Fahrten im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit und der Nachwuchswerbung, um nur einige zu nennen. Sie alle binden die zur Verfügung stehenden Mittel.
Nach Meinung einiger Mitarbeiter gleicht daher die Planung in ihrer Interdependenz mehr und mehr einem »Domino Day«: Wenn z.B. ein Ausbildungsabschnitt nicht erfolgreich und/ oder nicht zeitgerecht absolviert werden kann, kommen viele andere Vorhaben zwangsläufig ins Rutschen, weil die eigentlich erforderlichen Redundanzen grundsätzlich nicht mehr bestehen. Die derzeit beobachtete Tendenz ungeplant verlängerter Werftliegezeiten führt nicht nur zum Anpassen der Vorhaben, sondern häufig auch zu erheblichem Mehraufwand zum nachträglichen Erreichen der geforderten Einsatzfähigkeit. Trotz intensiver Anstrengungen musste die Flotte eine etwas verringerte Einsatzfähigkeit ihrer Einheiten für das Jahr 2009 feststellen. Positiv war daran, dass es gelang, die Anzahl der übermäßig belasteten Einheiten gegenüber 2008 deutlich zu senken.
Tabelle 1 |
Dabei ist unstrittig, dass weder die individuelle Belastung z.B. durch den Wechsel einzelner Spezialisten in den Mangelverwendungsreihen von einer Einheit auf die nächste (Springertum), noch die Abwesenheiten der Besatzung oder einzelner Besatzungsangehörige durch Lehrgänge oder heimatferne Werftaufenthalte statistisch korrekt zu erfassen sind. Gleiches gilt für die familiären Belastungen, ausgelöst durch kurzfristige Umplanungen oder Einzelabstellungen für Einsätze, noch gar die gesteigerte Belastung derjenigen, die die Aufgaben der abgestellten Besatzungsangehöriger zusätzlich wahrnehmen müssen. Eine Gesamtbewertung erlaubt den Schluss, dass unverändert – wie in den Vorjahren – die Belastung eines großen Teils des Personals in der fahrenden Flotte zu hoch ist (Tabelle 1).
Planerische Basis für die Operationen und damit auch für die personellen Belastungen ist der materielle Zustand der Einheiten. Dazu eine kurze Erläuterung: Die Betriebs- Erhaltungs-Perioden-Norm (BEPN) ist eine rechnerische Größe zum technisch wirtschaftlichen Betrieb mit dem Ziel, für eine maximale Anzahl von Tagen ein einsatzfähiges Waffensystem in See zu bringen. Nebenfunktion ist, ein kostengünstiges Optimum für die Materialerhaltung über die gesamte Lebensdauer des Waffensystems zu erreichen. Daraus ergibt sich die Aufteilung in Teilbetriebsperioden mit planmäßigen Instandsetzungen und Sicherheitsinspektionen. Ergebnis ist eine Betriebsstundenvorgabe für die einzelnen Systeme, um diese Periodik zu gewährleisten.
Tabelle 2 |
Anders formuliert: Nur wenn die Betriebsstundenvorgaben eingehalten werden, können die planmäßigen Instandhaltungsvorhaben mit der BEPN synchronisiert durchgeführt werden.
Die Realität zeigt dagegen ein anderes Bild für den materiellen Zustand der Flotte. Als Messgröße ist in Tabelle 2 die Einhaltung bzw. die Nichteinhaltung der Betriebsstundenvorgaben pro Typklasse dargestellt.
Die prozentuale Kapazitätsauslastung ist die Belastung der »Hülle Schiff/Boot«.Auch hier ist ein negativer Trend erkennbar. Für alle Schiffs- und Bootsklassen gilt, dass die Fahrtstunden pro Tag im Jahresdurchschnitt angestiegen sind, z.B. für Fregatten auf 20 h/Tag, für Minenjagdfahrzeuge auf 16 bis 17 h/Tag und für S‑Boote auf 15 bis 17 h/Tag. Über einen längeren Zeitraum betrachtet wird hier deutlich, welchen großen Einfluss die Summe der Einsätze naturgemäß auf den materiellen Zustand der Flotte hat.
Verfügbarkeit von schwimmenden Einheiten begrenzt
Kann der BEPN-Zyklus nicht gehalten werden, kommt es zu technisch notwendigen, wirtschaftlich gebotenen, aber operativ schmerzhaften Verwerfungen. Eine außerplanmäßige Instandsetzung z.B. wegen einer Grundüberholung an einem Antriebsdiesel drei Wochen nach Abschluss eines mühsam erreichten Ausbildungsstandes lässt die gerade eingefahrene Besatzung untätig die Werftliegezeit erdulden, statt andere Einheiten im Einsatz entlasten zu können.
Korvette BRAUNSHWEIG Bildquelle: PIZ Marine |
Eine weitere Unwägbarkeit stellen inzwischen auch die planmäßigen Werftliegezeiten dar. Verlängerungen von Werftliegezeiten sind inzwischen leider ein nicht kalkulierbares dafür aber fast sicher eintretendes Ärgernis. Die daraus resultierenden Verwerfungen des anschließenden Einsatzausbildungsplans (EAP) ergeben, dass die verzögerte/nicht erreichte Einsatzfähigkeit eine Lücke in der operativen Verfügbarkeit der Flotte zur Folge hat. Ein Ausweichen auf das Marinearsenal ist kaum möglich, da dessen Kapazitäten in der Vergangenheit quantitativ durch den Stellenabbau im Rahmen des Personal- Struktur-Modells 2010 verringert wurden und qualitativ ein Erfahrungsverlust wegen der Überalterung des verbleibenden Personals zu verzeichnen ist. Verschärft wird die Situation, weil keine oder überwiegend erst verspätete Neueinstellungen von Personal und häufig die Überforderung von Spezialisten tägliche Realität sind.
Nicht zuletzt wurden auch bei den Werften Kapazitäten verringert. Der Wettbewerbsdruck scheint dazu zu führen, dass einerseits Know-how und Zuverlässigkeit mit den Anforderungen nicht Schritt halten können und andererseits »Hauswerften«, mit spezifischen Kenntnissen und Erfahrungen bei bestimmten Waffensystemen, mit den Regularien von Ausschreibungsverfahren in Europa nicht vereinbar sind.
Fast unabhängig von der vorstehenden Situation müssen darüber hinaus wegen Haushaltszwängen z.T. sehr kurzfristige Umschichtungen zwischen Betrieb, Materialerhaltung und Investitionen für Rüstungsprojekte vorgenommen werden. Nicht selten führt diese Vorgehensweise zum Verlagern der planmäßigen Maßnahmen in den Bereich der sog. Sofortinstandsetzung mit dadurch bedingten zusätzlichen außerplanmäßigen Liegezeiten. Damit entstehen unkalkulierbare Ausfallzeiten, die weitere Lücken in der operativen Verfügbarkeit von Einheiten zur Folge haben. Unglücklicherweise brauchen selbst neue Waffensysteme ungeahnt lange Werftliegezeiten; denn auch bei der Industrie wie im Marinearsenal, aber auch an Bord müssen die erforderlichen Kenntnisse und Erfahrungen für die Instandhaltung erst noch gewonnen werden.
»Gesteuerter Ausbau« als Notnagel Noch ein kurzes Wort zur Logistik. Dass die logistische Kette häufig überdehnt ist, hat verschiedene Ursachen, allen gemeinsam ist aber das Ergebnis: Die Lücke in der operativen Verfügbarkeit von Einheiten wird dadurch erweitert. Monokausale Begründungen hierfür zu nennen greift sicherlich zu kurz. Stichworte mögen hier genügen: die nicht vollständige Herstellung der Versorgungsreife, eine überzogene Verringerung der Lagerbestände selbst bei den Anlagen, welche für die Marine als sog. Commercial Of The Shelf (COTS) Produkte erworben wurden, weil im Rahmen der Erstbeschaffung dafür zu geringe Haushaltsmittel eingeplant wurden. Das führt zu technischen wie operativen Ausfallzeiten oder zum sog. gesteuerten Ausbau. Im Grunde genommen eine verharmlosende Umschreibung des Auseinandernehmens von funktionierenden Systemen zur Gewinnung von Ersatzteilen.
Der sog. gesteuerte Ausbau führt in mehrfacher Hinsicht zu unbefriedigenden Ergebnissen:
Die Anlagen- und Hochwertersatzteile, für deren Lagerbestände keine Haushaltsmittel bereitgestellt werden konnten, kommen die Marine besonders teuer zu stehen. Sie werden durch den gehäuften Ausbau – Transport – Einbau – Ausbau – Rücktransport – Wiedereinbau vorzeitig verschlissen. Darüber hinaus ist damit faktisch eine Verdoppelung der Betriebsstunden der Geräte verbunden.
Die Einheiten, die als Lieferant der Ersatzteile ihre Funktionsketten auseinander reißen müssen, können deshalb ihre Ausbildung nur mit Einschränkungen durchführen. Die Ausbildung für die Bediener wie für das Instandsetzungspersonal ist dann z.T. kaum mehr zeitgerecht möglich.
Nicht kalkulierbar ist das Risiko, wenn wichtige Anlagenteile im Einsatz nicht unverzüglich instand gesetzt werden können, wie z.B. das Marine-Leicht-Geschütz oder die Multi-Sensor-Plattform zum Erfassen von kleinen Zielen, die in den gegenwärtigen Szenarien ganz besonders wichtige Mittel der Selbstverteidigung für die Einheiten darstellen.
Verstärkte Abhängigkeit in vielfacher Hinsicht von der Industrie ist eine der Folgen. Zum Teil mit misslichen Ergebnissen, da selbst das Bundesamt für Wehrtechnik und Beschaffung (BWB) und die politische Leitung des BMVg wenig erfolgreich auf eine raschere Herstellung und Lieferung dringend benötigter Teile einwirken können, denn die Industrie hat unter Wirtschaftlichkeitskriterien ihre Fertigung optimiert, was kurzfristige Produktionsänderungen faktisch ausschließt.