Dieser Artikel wird mit freundlicher Genehmigung der “MarineForum — Zeitschrift für maritime Fragen” veröffentlicht.
Quo vadis Marinha do Brasil?
Der Marine Brasiliens stehen derzeit große Veränderungen bevor. Diese sind vor allem durch die neue brasilianische Eigenwahrnehmung als regionale Führungsmacht sowie globale »Emerging Power« motiviert. Dieses neue Bewusstsein fand seinen Ausdruck in der im Dezember 2008 von Präsident Luiz Inácio Lula da Silva unterzeichneten Nationalen Verteidigungsstrategie (Estrategía Nacional de Defesa – END), die die Zielsetzung politischer Unabhängigkeit mit den Streitkräften verbindet.
- Für die Streitkräfte und damit auch für die Marine sind die folgenden Ziele von besonderer Bedeutung:
- Fähigkeit zur Kontrolle/Überwachung, strategischen Mobilität sowie Präsenz,
- Stärkung der strategisch wichtigsten Sektoren Weltraum, Cyberspace und Nuklear,
- Stärkung TSK-gemeinsamer Operationsfähigkeit durch Schaffung eines Joint-Generalstabes im Verteidigungsministerium, Schaffung TSK-gemeinsamer Vorschriften für Joint-Operationen sowie die Durchführung solcher Operationen,
- Truppenverlagerung aus dem Süden und Südosten in den Norden, Osten und den Südatlantik – für die Marine ein Schwerpunkt in der Region der Amazonasmündung sowie der großen Flüsse Amazonas, Paraguai und Paraná,
- Verstärkung der Präsenz in den Grenzregionen,
- Priorisierung des Amazonasgebietes,
- Ausweitung der südamerikanischen Rüstungskooperation, um gemeinsam die Abhängigkeit von importierten Produkten zu beenden,
- Ausweitung der SAR-Kapazitäten, um den internationalen Verpflichtungen zu entsprechen.
Marine heute
SAR-Zuständigkeitsbereich Click to enlarge |
Der Auftrag der Marine Brasiliens ist wesentlich vielseitiger, als wir ihn von der Deutschen Marine kennen. Neben der Landesverteidigung kommen der Marine noch Aufgaben der Überwachung des Seeverkehrs (Binnen und Küste), Seenotrettung (SAR), hydrografische und ozeanografische Aufgaben sowie humanitäre Einsätze (Medizinische Versorgung der Regenwaldbevölkerung) zu. Der SAR-Verantwortungsbereich im Südatlantik ist immens und reicht im Norden bis zu 1.500 sm und im Süden sogar bis zu 2.400 sm in den Atlantik hinein. Weiterhin ist die Marine am interministeriellen Antarktisprojekt (PROANTAR) beteiligt.
Der Verantwortungsbereich der Marine liegt, wie erwähnt, auf der Hohen See sowie im Binnenland. Der vor der 7.500 km langen Atlantikküste liegende Seeraum über dem rohstoffreichen Festlandsockel hat eine Fläche von ca. 4,5 Mio km² und ist damit 1,8‑mal größer als das Mittelmeer. Hinzu kommt die Überwachung der Flüsse und Seen im Binnenland. Das Amazonasgebiet hat ebenfalls eine Fläche von ca. 4,5 Mio. km² woraufhin die Marine für das Seegebiet über dem Festlandsockel den Begriff »Amazonia Azul«, blauer Amazonas, geschaffen hat und diesen als Markennamen im Rahmen des Marketings für mehr maritimes Verständnis und Interesse der Bevölkerung nutzt.
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Brasilien ist flächendeckend in neun Marinebezirke eingeteilt. Jedem Bezirk sind Einheiten der Marine zugeordnet. Die Marinebezirke sind jeweils mit einem Depot, Schwimmdock, Marinekrankenhaus, einer Einheit der Marineinfanterie sowie teilweise einer Hubschrauberstaffel ausgestattet.
Neben den Marinebezirken ist der operative Bereich der Marine (Comando de Operações Navais – ComOpNav) in die Flotte (Comando em Chefe da Esquadra – ComemCh), das Kommando der Marineinfanterie (Comando da Força dos Fuzileiros) sowie das Kommando zur Überwachung des Schiffsverkehrs (Comando do Contrôle Naval do Trafico Marítimo) aufgeteilt. Die größeren Einheiten unterstehen unterhalb des ComOpNav dem ComemCh als Flottenchef. Seine Flotte gliedert sich in Überwasserstreitkräfte, U‑Boote (U‑Boote und Waffentaucher) sowie Marineflieger.
Der Flugzeugträger SAO PAULO sowie die beiden Schulschiffe Brasil und CISNE BRANCO stehen außerhalb dieser Struktur direkt unter dem Flottenchef. Die Marineflieger gliedern sich in 6 Hubschraubergeschwader, 1 Flugzeuggeschwader sowie 3 regionale Geschwader innerhalb der Marinebezirke in Manaus (AM), Ladário (MS) und Rio Grande (RS).
Ca. 48.000 Soldaten dienen zurzeit in der aus ungefähr 100 schwimmenden Einheiten sowie ca. 90 Luftfahrzeugen bestehenden Marine. Wehrpflichtige werden nicht auf den schwimmenden Einheiten verwendet. Brasilien ist das einzige Land Lateinamerikas, das mit der SAO PAULO (ex-franz. FOCH) einen Flugzeugträger betreibt. Hinzu kommen 9 Fregatten, 5 Korvetten, 5 konventionelle U‑Boote, 22 Patrouillenboote, 5 Flusspatrouillenboote, 6 MCM-Einheiten sowie 44 verschiedenste Unterstützungseinheiten und Einheiten geringer Größe. Bis auf die 5 Korvetten sind alle größeren Überwassereinheiten der Marine Schiffe aus zweiter Hand. Die oben genannten großen Einheiten sind zusammen mit den U‑Booten der TUPI-Klasse im einzigen Großstützpunkt in Niteroí an der Bucht von Guanabara, in Sichtweite von Rio de Janeiro stationiert. Die kleineren Einheiten sind auf die Stützpunkte der Marinebezirke an der nordöstlichen Küste Brasiliens, sowie im Binnenland verteilt.
Internationales Engegament
Operativ beteiligt sich die Marine an bi- und multilateralen Manövern und Übungen um Lateinamerika, sucht dabei jedoch auch immer wieder die Beteiligung an außerregionalen Manövern. Genannt werden soll hier die Teilnahme der Fregatte Liberal am JTFEX-09 um den US-Flugzeugträger HARRY S. TRUMAN im September 2009, sowie die Beteiligung der Fregatte INDEPENDENCIA am NATO-Manöver »Joint Warrior 101« im Frühjahr 2010. Weiterhin nimmt die Marine an UN-Missionen teil. Die Marineinfanterie stellt derzeit im 8. Kontingent 215 Soldaten im Rahmen der UN-Mission auf Haiti (MINUSTAH) sowie weitere Soldaten für andere Missionen. Dabei übernehmen Transportschiffe der Marine den Material- und Truppentransport für MINUSTAH.
Flugzeugträger SAO PAULO Foto: bras. Marine |
Im Rahmen militärpolitischer Zusammenarbeit besteht eine Kooperation mit den USA bei der Ausbildung der Trägerpiloten. Neuerdings trainieren chinesische Marineflieger auf dem brasilianischen Flugzeugträger, da für Chinas zukünftigen Flugzeugträger ebenfalls ein Katapultsystem vorgesehen ist. Militärische Ausbildungshilfe leistet Brasilien in einigen westafrikanischen Staaten, zu Südafrika besteht eine enge rüstungspolitische Beziehung.
Misst man die aktuelle Aufstellung der Marine an den Vorgaben der Verteidigungsstrategie, so fällt auf, dass die Marine zwar flächendeckend organisiert ist, der Schwerpunkt der maritimen Kräfte jedoch, der alten Bedrohungsperzeption mit Argentinien als potenziellem Hauptgegner geschuldet, im Süden des Landes liegt. Weiterhin wird deutlich, dass Brasilien mit den 10 großen Überwassereinheiten sowie 5 konventionellen U‑Booten seinem eigenen Anspruch auf Präsenz und Kontrolle im »Amazônia Azul« nicht gerecht werden kann.
Wie setzt die Marine nun die neuen strategischen Vorgaben um?
Der Forderung nach einem zweiten Großstützpunkt im Bereich der Amazonasmündung, dem damit verbundenen Aufbau einer zweiten Flotte sowie einer zweiten Amphibischen Division wird gefolgt. Als mögliche Standorte werden zurzeit, innerhalb des 4. Marinebezirks, São Luis de Maranhão im Bundesstaat Maranhão, sowie die Umgebung von Belém im Bundesstaat Pará diskutiert.
Zur Realisierung des notwendigen materiellen und personellen Aufwuchses wurde ein umfangreiches, zweiphasiges (2010–2014/ 2015–2027) Modernisierungsprogramm (Programa de Reapalhamento da Marinha – PRM) sowie ein dreiphasiger (2010– 2014/2015–2022/2023–2030) Struktur- und Ausrüstungsplan (Plano de Articulção e Equipamento da Marinha — PAEMB) entwickelt. Für das Modernisierungsprogramm sind in der ersten Phase Kosten in Höhe von 2,6 Mrd. Euro veranschlagt, für die Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Struktur- und Ausrüstungsplan nochmals 6,9 Mrd. Euro. Insgesamt also Ausgaben in Höhe von 9,5 Mrd. Euro. Die Umsetzung des gesamten Struktur- und Materialplans sieht Ausgaben in Höhe von 65 Mrd. Euro vor.
Um den notwendigen personellen Aufwuchs zu gewährleisten, werden 21.500 zusätzliche Dienstposten (3.500 Offiziere und 18.000 Unteroffiziere) geschaffen. An dieser Stelle eine Übersicht der Flottenausplanung auf der Grundlage des Struktur- und Ausrüstungsplans, um aufzuzeigen, wohin die Reise gehen soll. Die Flotte wird dabei bis 2030 von derzeit ca. 100 Einheiten auf bis zu 274 Einheiten anwachsen.