Boat People“ vor Europas Südküsten — Nicht nur Italiens Dilemma

Dieser Artikel wird mit fre­undlich­er Genehmi­gung der “Marine­Fo­rum — Zeitschrift für mar­itime Fra­gen” veröf­fentlicht.

Marineforum

Der Strom von Men­schen, die aus Furcht um Leib und Leben (Krieg, poli­tis­che Ver­fol­gung) oder auch aus bloßen wirtschaftlichen Motiv­en von der nordafrikanis­chen Küste über das Mit­telmeer nach Europa gelan­gen wollen, reißt nicht ab. Von Marokko bis nach Ägypten machen sich jeden Tag Boote auf die gefährliche Fahrt, die nicht sel­ten in ein­er Katas­tro­phe endet. Organ­isiert sind die Fahrten von pro­fes­sionellen Schlep­per­ban­den, und die nutzen natür­lich möglichst bil­lige Trans­port­mit­tel, meist kleine, kaum seetüchtige Fis­cher­boote, oft auch offene Schlauch­boote. Zur Gewin­n­max­imierung wer­den in einem nur 15 m lan­gen Boot dann auch schon mal 300 Men­schen »wie Sar­di­nen gestapelt«. 

Anfang August fand wieder ein­mal eine solche Seefahrt den Weg in die Schlagzeilen der inter­na­tionalen Presse. Ein Boot mit mehr als 300 Men­schen an Bord hat­te schon kurz nach Ver­lassen der libyschen Küste Motore­naus­fall und trieb dann etwa eine Woche lang in See; »Dutzende« Insassen sollen gestor­ben sein. Ange­blich hat ein Fis­ch­er das Boot frühzeit­ig ent­deckt und auch die ital­ienis­che Küstenwache informiert, die dann wiederum »ein nah­es NATO-Kriegss­chiff« um Hil­fe gebeten haben soll – das diese Bitte aber ignori­ert habe. Weit­ere Details waren bei Redak­tion­ss­chluss eben­so wenig bekan­nt wie das Ergeb­nis ein­er von der NATO ein­geleit­eten Unter­suchung, aber natür­lich hat der Vor­fall die poli­tis­che Debat­te über den Umgang mit »Boat Peo­ple« im Mit­telmeer neu belebt. 

Im Fokus ste­ht zur Zeit vor allem Libyen. Nach glaub­haften Sta­tis­tiken haben sich in den let­zten Jahren weit mehr als eine Mil­lion Afrikan­er aus Län­dern südlich der Sahara (von Eritrea bis Ghana) dor­thin durchgeschla­gen, um das »Ange­bot« der Schlep­per­ban­den zu ein­er Über­fahrt nach Europa zu nutzen – um dort dann Geld zu ver­di­enen. Primäres Ziel ist natür­lich das am näch­sten gele­gene Ital­ien, und dort vor allem die vorge­lagerte Insel Lampe­dusa. In den let­zten Jahren hat­te im Rah­men eines bilat­eralen Abkom­mens die ital­ienis­che Küstenwache gemein­sam mit libysch­er Marine und Küstenwache die libyschen Küstengewäss­er patrouil­liert; dort aufge­grif­f­ene Boote wur­den meist post­wen­dend wieder an die Küste zurückgeschickt. 

Der Bürg­erkrieg hat diese Patrouillen schla­gar­tig been­det, und auch die ohne­hin heftig umstrit­tene Rück­führung­sprax­is ste­ht derzeit natür­lich nicht zur Debat­te. Dafür aber machen sich von Libyen aus aber immer mehr Men­schen auf die Fahrt nach Europa. Die weitaus meis­ten sind noch immer Schwarzafrikan­er, die allein aus wirtschaftlichen Grün­den Wege nach Europa suchen und sich nun vielle­icht ger­ade aus den Kriegswirren bessere Erfol­gschan­cen ver­sprechen. Daneben suchen aber auch zahlre­iche Liby­er als wirk­liche an Leib und Leben bedro­hte Kriegs­flüchtlinge nach Möglichkeit­en, ihre Heimat zu verlassen. 

Die zunehmende Anzahl der in See anzutr­e­f­fend­en, mit Flüchtlin­gen über­lade­nen und oft auch noch fahrun­tüchti­gen Boote über­fordert die vor Lampe­dusa und Sizilien im Dauere­in­satz befind­liche ital­ienis­che Küstenwache. Spätestens nach dem oben erwäh­n­ten Vor­fall wird denn auch der Vorschlag des ital­ienis­chen Min­Präs. Berlus­coni ver­ständlich, auch die vor Libyen operieren­den NATO-Kriegss­chiffe soll­ten sich aktiv der »Boat Peo­ple« annehmen. 

 - Flüchtlingsboot vor Lampedusa (Foto: ital.  Küstenwache)
Flüchtlings­boot vor Lampe­dusa (Foto: ital. Küstenwache) 

So ein­fach ist dies allerd­ings nicht. Zwar bieten alle europäis­chen Staat­en an Leib und Leben bedro­ht­en Flüchtlin­gen Asyl, aber kein europäis­ch­er Staat will bloße Wirtschafts­flüchtlinge aufnehmen. In See ist eine Unter­schei­dung zwis­chen bei­den allerd­ings prak­tisch unmöglich. Die inter­na­tionale Flüchtlingskon­ven­tion fordert eine Einzelfall­prü­fung, die schon aus rein organ­isatorischen Grün­den an Bord von Kriegss­chif­f­en prak­tisch unmöglich ist, und gegen deren Ergeb­nis in vie­len Län­dern auch noch Rechtsmit­tel ein­gelegt wer­den können. 

Vor Abschluss ein­er solchen Prü­fung machen nationale Ver­fas­sun­gen und Geset­ze, die dur­chaus ihre Berech­ti­gung haben, es den Kriegss­chif­f­en der meis­ten europäis­chen NATO-Staat­en unmöglich, ein­mal an Bord (Hoheits­ge­bi­et!) genommene Men­schen gegen ihren Willen an ein anderes Land weit­er zu reichen, also z.B. der ital­ienis­chen Küstenwache zu übergeben oder in Lampe­dusa an Land zu set­zen. Damit wird fast zwangsläu­fig eine direk­te Ver­bringung in das Heimat­land des jew­eili­gen Kriegss­chiffes unauswe­ich­lich. Kriegss­chiffe, die Flüchtlinge an Bord nehmen, sind damit in der Regel auch vorüberge­hend nicht mehr uneingeschränkt oper­a­tiv einsetzbar. 

Gängiges Ver­fahren ist denn auch, dass NATO-Kriegss­chiffe (aber auch für die EU-Organ­i­sa­tion Fron­tex abgestellte Ein­heit­en), die im Mit­telmeer ein Flüchtlings­boot ent­deck­en, sich zunächst nur vergewis­sern, ob ein akuter Seenot­fall vor­liegt, das Boot also zu sinken dro­ht oder Men­schen sofort medi­zinis­che Ver­sorgung benöti­gen. Ist dies nicht der Fall, wird bei Bedarf mit einem Bei­boot Wass­er, Lebens­mit­tel oder Kraft­stoff übergeben, auch schon mal ein defek­ter Motor repari­ert, die Men­schen selb­st aber nicht an Bord genom­men. Da die Boote nicht zurück­geschickt wer­den kön­nen (eine solche Weisung sich­er auch ignori­eren wür­den), wird dann in der Regel die Küstenwache des näch­sten europäis­chen Lan­des informiert. Das Kriegss­chiff selb­st bleibt zur Sicher­heit in der Nähe, bis diese eingetrof­fen ist und die Men­schen übern­immt bzw. deren Boot zu einem Zwis­chen­lager geleitet. 

Eine Weisung an NATO-Kriegss­chiffe, über die ohne­hin nicht zu ver­weigernde Ret­tung von Schiff­brüchi­gen hin­aus »Boat Peo­ple« im zen­tralen Mit­telmeer aufzunehmen, wäre für Ital­ien deut­liche Ent­las­tung. Die jew­eili­gen Heimatlän­der der Kriegss­chiffe müssten die Men­schen aufnehmen – wobei eine sin­nvolle Verteilung der Flüchtlinge auf alle Staat­en der EU sich­er mit gutem Grund gefordert wer­den kann, wohl auch lange über­fäl­lig ist. Ein unan­genehmer Neben­ef­fekt kön­nte allerd­ings sein, dass sich dann noch weitaus mehr Men­schen in Libyen (und an der ganzen nordafrikanis­chen Küste) auf den Weg in See machen; ihr Ziel wäre dann allerd­ings nicht mehr das mehrere Tages­reisen ent­fer­nte Lampe­dusa, son­dern das direkt vor der Küste kreuzende, näch­ste NATO-Kriegss­chiff. Wie die Poli­tik in der Europäis­chen Union mit diesem Dilem­ma fer­tig wer­den will, bleibt abzuwarten. »Aus­sitzen« wird das Prob­lem eben­so wenig lösen, wie bloße pop­ulis­tis­che Vorschläge. 

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