Dieser Artikel wird mit freundlicher Genehmigung der “Marineforum — Zeitschrift für maritime Fragen” veröffentlicht.
Erstmals hat die indische Marine eine eigene Konzeption veröffentlicht. Das 148 Seiten umfassende Dokument wurde — nur wenige Wochen nachdem die indischen Landstreitkräfte für ihren Bereich ein ähnliches Papier erstellt hatten — Ende Juni auf der Kommandeurtagung der indischen Marine in Visakhapatnam vorgestellt. Es soll schon bald in der Truppe verteilt werden und dann auch der breiten Öffentlichkeit zugänglich sein.
Zwar hat es schon früher zahlreiche Strategiepapiere gegeben. Diese konnten jedoch nie dem Anspruch einer umfassenden Konzeption gerecht werden, mit der sich die indische Marine jetzt in ihr geostrategisches und geopolitisches Umfeld einbindet. Indien wird als “Maritime Nation” betrachtet, deren geopolitische und geowirtschaftliche Umgebung sich in den letzten Jahren deutlich gewandelt habe. Kampf um knapper werdende Ressourcen (Energie), die Kontrolle von Inselstaaten und Archipelen an den Schnittstellen internationaler Seeverkehrswege und religiöser Fundamentalismus würden zunehmend bestimmende Faktoren.
Mit ihrer Konzeption verlässt die indische Marine frühere, überwiegend nach innen auf den Schutz und die Verteidigung der eigenen Küsten (und einseitig gegen Pakistan) fokussierte Konzepte. Ihr Operationsgebiet wird deutlich erweitert und reicht nun von den Zufahrten in den Persischen Golf bis zur Straße von Malakka. Diese Gebiete gelte es zu überwachen, bei Bedarf auch zu kontrollieren und einem Gegner ihre Nutzung zu verwehren. Hier müsse man sich vermehrt auch mit “Extra-regionalen Mächten” auseinandersetzen (Anm.: ohne dass hiermit auch gleich eine militärische Auseinandersetzung gemeint ist).
Bei den Extra-regionalen Mächten wird an erster Stelle die USA genannt. Der Krieg gegen den Terror habe den gesamten südasiatischen Raum vom Persischen Golf bis über die Straße von Malakka hinaus zum Interessengebiet der USA werden lassen. Die US-Navy habe hier über bilaterale Abkommen mit Anliegerstaaten eine permanente Präsenz etabliert und sich als zentrale Autorität eingesetzt. Auch die regionale Präsenz der französischen Marine sei durchaus “nicht unbedeutend”. China, Japan, Russland und schließlich auch die Europäische Union werden als weitere Extra-regionale Mächte genannt, die man sorgfältig beobachten müsse.
Erstmals wird eine zu weit von den Heimatgewässern entfernten Operationen fähige Marine propagiert, und erstmals geraten Begriffe wie “Power Projektion” und “Littoral Warfare” ins Blickfeld. Dabei wird Littoral Warfare vornehmlich unter dem Aspekt der Unterstützung eigener Landstreitkräfte bei Operationen in feindlichem Territorium betrachtet. Unter Power Projektion subsumiert das Dokument Aufgaben wie Evakuierung von Truppen, amphibische Operationen, Maritime Air Support sowie Angriffe (“Strikes”) gegen eine Küste und gegen ihr Hinterland. Erwähnt werden auch Möglichkeiten, “Personen indischer Abstammung sowie indische Interessen im Ausland” zu schützen.
Entwicklungen bei den regionalen Nachbarn (und Rivalen) sind begründendes Szenario und bestimmen die Rahmenbedingungen für die künftige Entwicklung. Sie nehmen in dem Dokument denn auch einen angemessenen Raum ein. Natürlich steht hier einmal mehr der Erzrivale Pakistan im Blickfeld, aber man ist nicht mehr ausschließlich auf diesen fixiert. Das Umfeld zwinge dazu, sich vor allem auch “strategischen Notwendigkeiten am östlichen Rand des Indischen Ozeans” zu widmen. So werden Bestrebungen Chinas hervorgehoben, bis 2015 eigene Flugzeugträger und zu bauen und sich zur überregional agierenden, ozeanischen (Anm.: in das indische Interessensgebiet hinein wirkenden) Marine zu entwickeln. Explizit werden auch die laufenden U‑Boot-Beschaffungsvorhaben in Malaysia und Singapur bzw. entsprechende Absichtserklärungen Thailands und Myanmars genannt.
Unter den in der Konzeption genannten “Military Missions” findet sich neben den oben erwähnten Aufgaben und der “Nutzung der Marine als effektives außenpolitisches Instrument der Regierung” erstmals auch “strategische nukleare Abschreckung gegen regionale Staaten”. Unverblümt fordert die indische Marine in ihrem neuen Dokument die maritime Teilhabe an einer nuklearen Triade. Betrachte man die führenden Atommächte der Welt (USA, Russland, Großbritannien, China, Frankreich), dann falle es ins Auge, dass nur Indien bislang über kein seegestütztes nukleares Potential verfüge. Die Entwicklung eines solchen Potenzials sei ein unverzichtbares “Muss” sowohl für eine glaubhafte nukleare Abschreckung als auch für die Schaffung von Fähigkeiten zur Power Projektion, und die dafür am besten geeignete maritime Plattform seien U‑Boote. Beobachter sehen in diesen Aussagen die Forderung zur forcierten Entwicklung eigener nukleargetriebener U‑Boote (ein Vorhaben, das seit Jahrzehnten vor sich hin “dümpelt”). Auch das seit mehreren Jahren diskutierte Leasing eines U‑Bootes der AKULA-Klasse in Russland könnte neu belebt werden.
Bereits vor der Befassung der Marineführung auf ihrer Kommandeurtagung wurde die Konzeption hochrangigen Politikern und Militärs vorgelegt. Erste Kommentare bewerten das Papier weitgehend einhellig als “lange überfälliges, wesentliches Schlüsseldokument”.