Die politische Diskussion in Deutschland seit Anfang Juni 2008
Die Bundesregierung übt bisher große Zurückhaltung im Hinblick auf das Thema, wie die Antwort auf die schon oben erwähnte Kleine Anfrage deutlich macht (Bt-Drs. 16/9286). Sie bezeichnete dort die allgemeine Verpflichtung aus Artikel 100 SRÜ als „Bemühensverpflichtung“, die den Regierungen die Wahl der Mittel überlässt – was durchaus richtig ist.
Verschwiegen wird dabei jedoch, dass die Bundesrepublik bisher noch keinerlei Mittel zur aktiven Bekämpfung gewählt, sondern sich passiv verhalten hat.
Die bisher praktizierte ansatzweise Nothilfe ist kein Mittel der Wahl in diesem Sinne, sondern die Erfüllung einer Mindestpflicht, die alle seefahrenden Nationen gleichermaßen trifft. Die Bundesregierung hält die Frage, unter welchen verfassungsrechtlichen Voraussetzungen ein Schiff der Deutschen Marine gegen Piraten vorgehen darf, für ungeklärt. Nach den oben skizzierten rechtlichen Vorgaben des Grundgesetzes kann diese Auffassung nur erstaunen.
Erste Signale für ein Umdenken in der Bundespolitik gibt es schon. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages, Polenz (CDU), sprach sich einen Tag nach der Verabschiedung der UN-Resolution 1816 für eine Erweiterung des Bundestagsmandats für die Deutsche Marine aus. Der verteidigungspolitische Sprecher der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag, Arnold, äußerte sich ähnlich.
Die Partner der großen Koalition im Deutschen Bundestag haben am 12. Juni die Einsetzung einer Arbeitsgruppe beschlossen, die klären soll, welche Maßnahmen von der Deutschen Marine auch ohne Änderung des Grundgesetzes jetzt schon durchgeführt werden können. Die Arbeitsgruppe sollte ihre Ergebnisse vor Beginn der Sommerpause des Parlamentes vorlegen. Die letzte Sitzungswoche vor der Sommerpause endet am 27. Juni, die erste danach beginnt am 15. September. Bei Redaktionsschluss für diesen Beitrag Ende Juli war noch kein Ergebnis der Arbeitsgruppe bekannt.
Die FDP-Fraktion fordert ein aktives Vorgehen gegen die Piraterie am Horn von Afrika. Sie hatte folgenden Antrag in den Deutschen Bundestag eingebracht, der am 26. Juni als Bundestagsdrucksache Nr. 16/9609 verhandelt wurde: „Der Bundestag wolle beschließen: Der Deutsche Bundestag teilt und unterstützt die Position der Bundesregierung, dass die Befugnis von Kriegsschiffen aller Staaten — also auch Deutschlands, ein Seeräuberschiff aufzubringen, zu den allgemeinen Regeln des Völkerrechts gemäß Artikel 25 Grundgesetz gehört und somit Bestandteil des Bundesrechts ist und den Gesetzen vorgeht. Der Deutsche Bundestag teilt und unterstützt ebenfalls die Position der Bundesregierung, dass diese Befugnis nicht von irgendeiner konkreten – unmittelbaren oder mittelbaren — Gefahr abhängt.“
Die hier in Bezug genommenen Positionen der Bundesregierung finden sich etwa in der oben erwähnten Antwort auf die kleine Anfrage der FDP-Fraktion (Bundestags-Drucksache 16/9286). Die große Koalition hatte mit ihrem Stimmgewicht schon im Vorfeld dafür gesorgt, dass der Antrag erst am Ende des Sitzungstages, also etwa um 22.00 abends zur Verhandlung vorgesehen war. Der Antrag wurde schließlich mit den Stimmen der großen Koalition abgelehnt – was zeigt, dass mehr als minimale Ansätze zu einem Umdenken eben doch noch nicht vorhanden sind.
Ende Juli gab es aber erstmals ein Signal der Bundesregierung in die richtige Richtung. Die FAZ berichtete am 26. Juli, dass die Bundesregierung ihre grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedenken aufgegeben habe. Unter der Geltung des Völkerrechts seien Einsätze gegen Piraten zulässig. Wenige Tage vorher hatten die Außenminister der Mitgliedstaaten der EU bekanntgegeben, Optionen zum Schutz der Hilfslieferungen für die somalische Bevölkerung zu prüfen. Insbesondere Frankreich drängt auf eine EU-Mission. Der Parlamentarische Staatssekretär im BMVg Kossendey ließ verlauten, dass ein Auftrag an die Marine nach Artikel 24 Grundgesetz auf der Basis eines Beschlusses des Deutschen Bundestages denkbar wäre.
Sicher treibt die Bundesregierung eine konkrete Sorge um: Was tun mit Gefangenen? Man könnte sie der Islamic Court Union übergeben, sie hat in mehreren Urteilen gegen Piraten Augenmaß bewiesen, dass auch vor den Augen der veröffentlichten Meinung in Europa Bestand haben kann. Die Forderung nach Verfassungsänderungen ist in der Unions-Fraktion noch nicht vom Tisch, sie strebt weiter danach, zeitgleich mit neuartigen Einsätzen im Ausland auch den Einsatz der Bundeswehr im Innern der Bundesrepublik im Grundgesetz explizit zu verankern. Durch diese Forderung und die Verknüpfung der Themen „Bundeswehreinsatz im Innern / im Äußeren“ blockierte die Union bisher einen singulären Beschluss zur Hilfeleistung vor Somalia. Ein entsprechender Beschluss des Deutschen Bundestages zur Beauftragung der Deutschen Marine lag bei Redaktionsschluss nicht vor. Erst dieser Beschluss wäre der richtige Schlusspunkt der peinlichen Debatte über eigentlich selbstverständliche Hilfeleistungen.
Es wird Zeit, vor Somalia aktiv zu werden. Wenn die Sicherheit Deutschlands nach Aussage eines ehemaligen Verteidigungsministers auch am Hindukusch oder im Kosovo verteidigt wird, dann muss sie auch dort verteidigt werden, wo deutsche Seeleute oder Urlauber oder die lebenswichtigen Warenströme gefährdet sind. Und Polizeiarbeit leistet die Bundeswehr längst: im Kosovo z.B. und in Afghanistan. Für das Kosovo hat man den Soldaten sogar polizeitypische Ausrüstung – Helm, Schild, Schlagstock – und die Ausbildung zum Auflösen von gewaltsamen Demonstrationen sowie zur Festnahme von Gewalttätern mitgegeben.
Vor allen Dingen sollte man die Diskussion endlich von Nebenschauplätzen in den Kern sicherheitspolitischen Denkens überleiten: Was ist im Sinne der Bundesrepublik als einer Nation, deren Wohlstand weitgehend vom Import und Export über See abhängt politisch geboten, was ist völkerrechtlich erlaubt oder gar geboten, wie und mit welchen Mitteln kann es bewirkt werden? Letztlich gilt auch, dass ein Rechtstaat massiven Rechtsbrüchen nicht zusehen darf.