Dieser Artikel wird mit freundlicher Genehmigung der “MarineForum — Zeitschrift für maritime Fragen” veröffentlicht.
Piraterie 2008 — UN-Resolution 1816
Neue internationale Dimension der Pirateriebekämpfung
(Dr. Michael Stehr ist in der Redaktion des MarineForum zuständig für Fragen des See- und Völkerrechts)
Erstmals existiert eine Resolution des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen (UN-SC), die die seefahrenden Mächte zur Bekämpfung der Piraterie ermächtigt und aufruft. Ziel sind allein die Piraten am Horn von Afrika. Somalia, von dessen Territorium das Übel ausgeht, hat ausdrücklich darum gebeten, dass fremde Mächte auch in seinem Hoheitsgebiet gegen die kriminellen Banden vorgehen. Die verschiedenen somalischen Regionalregime verfügen nicht über maritime Kapazitäten. Der Sicherheitsrat äußert in der Resolution seine Sorge um die Sicherheit des internationalen Seeverkehrs in den Gewässern am Horn von Afrika. Die Resolution wurde einstimmig beschlossen.
Resolution des UN-SC Nr. 1816 vom 2. Juni 2008 :
„The Security Council,
…
Acting under Chapter VII of the Charter of the United Nations,
1. Condemns and deplores all acts of piracy and armed robbery against vessels in territorial waters and the high seas off the coast of Somalia;
2. Urges States whose naval vessels and military aircraft operate on the high seas and airspace off the coast of Somalia to be vigilant to acts of piracy and armed robbery and, in this context, encourages, in particular, States interested in the use of commercial maritime routes off the coast of Somalia, to increase and coordinate their efforts to deter acts of piracy and armed robbery at sea in cooperation with the TFG;
3. Urges all States to cooperate with each other, with the IMO and, as appropriate, with the relevant regional organizations in connection with, and share information about, acts of piracy and armed robbery in the territorial waters and on the high seas off the coast of Somalia, and to render assistance to vessels threatened by or under attack by pirates or armed robbers, in accordance with relevant international law;
…
7. Decides that for a period of six months from the date of this resolution,
States cooperating with the TFG in the fight against piracy and armed robbery at sea off the coast of Somalia, for which advance notification has been provided by the TFG to the Secretary-General, may:
(a) Enter the territorial waters of Somalia for the purpose of repressing acts of piracy and armed robbery at sea, in a manner consistent with such action permitted on the high seas with respect to piracy under relevant international law;
and
(b) Use, within the territorial waters of Somalia, in a manner consistent with action permitted on the high seas with respect to piracy under relevant international law, all necessary means to repress acts of piracy and armed robbery;
…”
Die Handlungsermächtigung der Resolution wird erst verständlich, wenn man die Vorschriften des Seerechtsübereinkommens (SRÜ) mit heranzieht.
Auszug aus dem Seerechtsübereinkommen (SRÜ):
„Artikel 100
Pflicht zur Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der Seeräuberei
Alle Staaten arbeiten in größtmöglichem Maße zusammen, um die Seeräuberei auf Hoher See oder an jedem anderen Ort zu bekämpfen, der keiner staatlichen Hoheitsgewalt untersteht.
Artikel 101
Definition der Seeräuberei
Seeräuberei ist jede der folgenden Handlungen:
a) jede rechtswidrige Gewalttat oder Freiheitsberaubung oder jede Plünderung, welche die Besatzung oder die Fahrgäste eines privaten Schiffes oder Luftfahrzeugs zu privaten Zwecken begehen und die gerichtet ist
i) auf Hoher See gegen ein anderes Schiff oder Luftfahrzeug oder gegen Personen oder Vermögenswerte an Bord dieses Schiffes oder Luftfahrzeugs;
ii) an einem Ort, der keiner staatlichen Hoheitsgewalt untersteht, gegen ein Schiff, ein Luftfahrzeug, Personen oder Vermögenswerte;
b) jede freiwillige Beteiligung am Einsatz eines Schiffes oder Luftfahrzeugs in Kenntnis von Tatsachen, aus denen sich ergibt, daß es ein Seeräuberschiff oder ‑luftfahrzeug ist;
c) jede Anstiftung zu einer unter Buchstabe a oder b bezeichneten Handlung oder jede absichtliche Erleichterung einer solchen Handlung.
Artikel 103
Definition eines Seeräuberschiffs oder ‑luftfahrzeugs
Ein Schiff oder Luftfahrzeug gilt als Seeräuberschiff oder ‑luftfahrzeug, wenn es von den Personen, unter deren tatsächlicher Gewalt es steht, dazu bestimmt ist, zur Begehung einer Handlung nach Artikel 101 benutzt zu werden. Das gleiche gilt für ein Schiff oder Luftfahrzeug, das zur Begehung einer derartigen Handlung benutzt worden ist, solange es unter der Gewalt der Personen verbleibt, die sich dieser Handlung schuldig gemacht haben.
Artikel 105
Aufbringen eines Seeräuberschiffs oder ‑luftfahrzeugs
Jeder Staat kann auf Hoher See oder an jedem anderen Ort, der keiner staatlichen Hoheitsgewalt untersteht, ein Seeräuberschiff oder ‑luftfahrzeug oder ein durch Seeräuberei erbeutetes und in der Gewalt von Seeräubern stehendes Schiff oder Luftfahrzeug aufbringen, die Personen an Bord des Schiffes oder Luftfahrzeugs festnehmen und die dort befindlichen Vermögenswerte beschlagnahmen. Die Gerichte des Staates, der das Schiff oder Luftfahrzeug aufgebracht hat, können über die zu verhängenden Strafen entscheiden sowie die Maßnahmen festlegen, die hinsichtlich des Schiffes, des Luftfahrzeugs oder der Vermögenswerte zu ergreifen sind, vorbehaltlich der Rechte gutgläubiger Dritter.
Artikel 107
Schiffe und Luftfahrzeuge, die zum Aufbringen wegen Seeräuberei berechtigt sind
Ein Aufbringen wegen Seeräuberei darf nur von Kriegsschiffen oder Militärluftfahrzeugen oder von anderen Schiffen oder Luftfahrzeugen vorgenommen werden, die deutlich als im Staatsdienst stehend gekennzeichnet und als solche erkennbar sind und die hierzu befugt sind.
Artikel 111
Recht der Nacheile
(1) Die Nacheile nach einem fremden Schiff kann vorgenommen werden, wenn die zuständigen Behörden des Küstenstaats guten Grund zu der Annahme haben, daß das Schiff gegen die Gesetze und sonstigen Vorschriften dieses Staates verstoßen hat.
…
(5) Das Recht der Nacheile darf nur von Kriegsschiffen oder Militärluftfahrzeugen oder von anderen Schiffen oder Luftfahrzeugen ausgeübt werden, die deutlich als im Staatsdienst stehend gekennzeichnet und als solche erkennbar sind und die hierzu befugt sind.“
Kurz zusammengefasst enthält das SRÜ folgende Befugnisse:
SRÜ Art. 100 befugt und verpflichtet alle Staaten zur größtmöglichen Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der Piraterie.
SRÜ Art. 105 und 111: Seeräuberfahrzeuge dürfen aufgebracht werden, und zwar nicht nur auf frischer Tat oder während der Nacheile nach frischer Tat, sondern auch dann, wenn ein Fahrzeug so verdächtig ist, dass eine (bewaffnete, ggf. gewaltsame) Kontrolle iSd. SRÜ zur Vorbeugung oder Bekämpfung der Piraterie geboten ist.
Diese Befugnisse existieren seit der Inkraftsetzung des SRÜ, einer Resolution bedurfte es dazu nicht. Die Resolution erlaubt nun aber endlich Aktionen auch in somalischen Hoheitsgewässern.
Res. 1816, Nr. 7 lit. a. erlaubt das Eindringen in somalische Hoheitsgewässer zum Zweck der Bekämpfung der Piraterie.
Res. 1816, Nr. 7 lit. b. erstreckt die Befugnisse des SRÜ auch zur Verdachtskontrolle und Nacheile nach SRÜ in somalische Hoheitsgewässer.
Also: Boote und Schiffe sowie deren Besatzung können nach frischer Tat, aber auch bei Verdacht, dass es sich um Piraten handelt, bis an den Strand und in die Häfen Somalias verfolgt, bekämpft und aufgebracht werden, egal, wo sie zuerst angetroffen worden sind. In bilateralen Vereinbarungen hatte insbesondere die Islamic Court Union (ICU), die die nordsomalische Provinz Puntland kontrolliert, solche Aktionen einzelnen Mächten schon zugestanden. Unter der Geltung der Resolution bedarf es nicht mehr des diplomatischen Aufwandes, es sind vielmehr alle Seemächte aufgefordert, zu handeln. Bisher aber verweigerte der Deutsche Bundestag der Deutschen Marine das entsprechende Mandat.
Die deutsche Politik war bisher mehrheitlich der Auffassung, dass das Grundgesetz solchen Aktivitäten entgegenstünde. Pirateriebekämpfung sei Polizeiaufgabe, nicht Sache der Marine. Womit die paradoxe Situation entstand, dass die Grenzpolizei See die Befugnis, aber nicht die Mittel und die örtliche Präsenz hat, und die Marine die Mittel und die örtliche Präsenz, aber nicht die Befugnis. Ein Beispiel dafür, dass sich eine heute bestehende Gefahrensituation mit dem hergebrachten begrifflichen Handwerkszeug der äußeren und inneren Sicherheit, der Polizeiarbeit und Militäraufgabe nicht mehr erfassen lässt.
Man beruft sich dabei gern auch auf geltendes nachgeordnetes Recht: Die behördliche Zuständigkeit für die Strafverfolgung – d.h. Festnahme – von Seeräubern wird im Deutschen Recht geregelt in der „Verordnung zur Bezeichnung der zuständigen Vollzugsbeamten des Bundes für Aufgaben nach der Strafprozessordnung auf dem Gebiet der Seeschifffahrt“ (Zuständigkeitsbezeichnungs-Verordnung See, ZustBV-See) vom 4. März 1994 (BGBl. I, S. 442, siehe auch „ZustBV-See“ unter www.gesetze-im-internet.de). Die Zuständigkeit der Strafverfolgung durch Festnahme liegt auch „seewärts der Begrenzung des deutschen Küstenmeeres“ bei der Bundespolizei-See.
Daraus folgert man eine rechtliche Schranke der Zuständigkeiten für die Deutsche Marine, egal, wo auf dem Globus deren Einheiten gerade operieren. Was allerdings kaum überzeugt, denn mit dem Seegebiet, für das in dieser Vorschrift eine Zuständigkeit ausgewiesen wird, kann sinnvollerweise nur dasjenige Seegebiet jenseits der deutschen Seegrenzen gemeint sein, in dem die Boote der Bundespolizei-See regelmäßig Seeraumüberwachung betreiben. Sehr großzügig ausgelegt sind dies die internationalen Gewässer von Nord- und Ostsee. Der ganze übrige Rest der Weltmeere ist sicher nicht gemeint, weil es keinen politischen Willen geschweige denn eine rechtliche Vorschrift gibt zu einer entsprechenden Ausdehnung des Operationsgebietes der Bundespolizei See. Deshalb ist die ZustBV-See auf Einsätze am Horn von Afrika oder an anderer weit von Deutschlands Küstengewässern entfernter Stelle, nicht anwendbar. Der Ausübung der Befugnisse zur Strafverfolgung durch die Deutsche Marine in entfernten Seegebieten steht nichts entgegen.
Doch Deutschland hat sich durch sein Festhalten an überkommenen Aufgabentrennungskriterien in eine diplomatische und bündnispolitische Zwickmühle manövriert. Es hat das SRÜ ratifiziert. Nach Artikel 59 des Grundgesetzes darf die Bundesrepublik die aus dem SRÜ resultierenden Befugnisse ausüben. Zudem hat sich Deutschland damit in Obligo begeben, zur größtmöglichen internationalen Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der Piraterie zu beizutragen. D.h. Deutschland muss einen Beitrag leisten zur Beendigung der Bedrohung der Schifffahrt vor Somalia durch Piratenbanden. Tut es das nicht, steht nicht allein die Frage der politischen Glaubwürdigkeit im Raum, sondern auch die der Vertragstreue. Verträge bedingen Konsequenzen – auch wenn dies zuweilen unangenehme Entscheidungen verlangt. Andere gehen mit gutem Beispiel voran, wie etwa Dänemark, die Niederland und demnächst auch Schweden.
Allerdings – eine Klarstellung im Grundgesetz, wie sie vom Inspekteur der Marine Ende April gefordert worden ist, ist allein wegen der Klarheit für alle Verantwortung tragenden und handelnden Personen in jedem Fall zu bevorzugen. Wer auf politische Weisung oder auch im Notfall tödliche Gewalt gegen andere Menschen anwenden und dabei Leib und Leben riskieren muss, hat Anspruch auf eine eindeutige rechtliche Aussage über Umfang und Grenzen des Erlaubten. Diese Klarstellung könnte – wie von Admiral Nolting formuliert – in Artikel 87a des Grundgesetzes aufgenommen werden: „Außerhalb der Territorialgewässer (der Bundesrepublik, Anm. des Autors) gilt das Völkerrecht.“ In Frage käme ein neuer Satz 2 im Absatz 2 oder die Einfügung als neuer Absatz 2a.
Dänemark und die Niederlande haben bereits aktiven Geleitschutz für WFP-Schiffe geleistet, ebenso Frankreich, das zudem mehrere der Piraten gefangen genommen hat, die im April die LE PONANT gekapert hatten. Die Marine Schwedens hat am 4. Juni die konkrete Bereitschaft erklärt, im Herbst 2008 drei Monate lang mit Korvetten, einem Unterstützungsschiff und Spezialkräften vor Somalia z.B. als Geleitschutz für WFP-Schiffe zu operieren. Die Finanzierung sei auch schon gesichert. Wann also ringt sich die Berliner Politik zu einem robusten, dem Völkerrecht entsprechenden Mandat durch?
Erste Signale gibt es schon. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages, Polenz (CDU), sprach sich einen Tag nach der Verabschiedung der UN-Resolution 1816 für eine Erweiterung des Bundestagsmandats für die Deutsche Marine aus. Der verteidigungspolitische Sprecher der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag, Arnold, äußerte sich ähnlich. Auch die FDP-Fraktion in Person ihres Mitgliedes Stinner forderte ein aktives Vorgehen gegen die Piraterie am Horn von Afrika.
Die Diskussion ist eine gute Gelegenheit für Deutschlands politische Community, den Umgang mit zeitgemäßem und treffend abgrenzendem sicherheitspolitischem Begriffswerkzeug einzuüben. Wenn die Sicherheit Deutschlands nach Aussage eines ehemaligen Verteidigungsministers auch am Hindukusch oder im Kosovo verteidigt wird – wo die Bundeswehr übrigens u.a. auch exzellente Polizeiarbeit leistet – , dann muss sie auch dort verteidigt werden, wo deutsche Seeleute oder Urlauber auf Kreuzfahrtschiffen oder die lebenswichtigen Warenströme gefährdet sind. Vor allen Dingen sollte man die Diskussion endlich von Nebenschauplätzen in den Kern sicherheitspolitischen Denkens überleiten: Was ist im Sinne der Bundesrepublik geboten, was ist völkerrechtlich erlaubt oder gar geboten, wie und mit welchen Mitteln kann es bewirkt werden?
Die Diskussion um die Piratenbekämpfung in entfernten Seegebieten entwickelt nebenbei auch eine Dynamik im Hinblick auf die Befugnisse der Bundeswehr im Hoheitsgebiet der Bundesrepublik. Vom sicherheitspolitischen Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion Arnold kam Anfang Juni der Vorschlag, in Artikel 35 eine spezielle Amtshilfeklausel einzubauen, die es möglich macht, Einheiten der Bundeswehr mit Sicherungs- und Abwehraufgaben zu betrauen, wenn die Mittel von Bundespolizei und Landespolizeibehörden nicht ausreichen.