Dieser Artikel wird mit freundlicher Genehmigung der “MarineForum — Zeitschrift für maritime Fragen” veröffentlicht.
Piraterie 2009: Wieder Im Aufwind
(Dr. Michael Stehr ist in der Redaktion des MarineForum verantwortlich für den Themenbereich See- und Völkerrecht)Das organisierte Verbrechen in Form der Piraterie wächst global. Schon jetzt ist offensichtlich, dass das Jahr 2009 insbesondere für das Horn von Afrika zum Rekordjahr für die Piratenbranche wird. Die nachfolgend aufgeführten Zahlen sind dem Bericht des International Maritime Bureau (IMB, www.icc-ccs.org) zur weltweiten Piraterie für die ersten drei Quartale 2009 entnommen. 306 versuchte und vollendete Überfälle wurden dem Piracy Reporting Center des IMB bis Ende September gemeldet. Zum Vergleich: Im gesamten Jahr 2008 waren 293 Überfälle gemeldet worden. Den größten Anteil an den Überfällen haben wie im Vorjahr die somalischen Banden.
Dabei hat es von Mitte Mai bis Ende August eine Ruhephase in der somalischen Piraterie gegeben, die zurückzuführen ist auf das in diesen Monaten üblicherweise recht stürmische Wetter. Hoher Wellengang erschwert die Verfolgung von Schiffen mit den von den Piraten bevorzugten offenen Skiffs mit ihrer typischen Länge von 7–14 m (ab einer Dünung von 1,5 m reduziert sich die praktisch durchhaltbare Höchstgeschwindigkeit) oder macht sie ganz unmöglich (der Seegang erreicht in den Sommermonaten im Indischen Ozean häufig Dimensionen von 3–6 m).
Somalische Banden haben bis Ende September 2009 32 Schiffe gekapert. In 2008 wurden dem IMB für das ganze Jahr 45 Entführungen durch somalische Piraten gemeldet, wobei in die ersten drei Quartale 26 und in das vierte Quartal 2008 19 Entführungen fallen. In 2009 wurden bis Ende des dritten Quartals schon 533 Seeleute zu Geiseln. Bei insgesamt 85 Überfällen wurde 2009 auf zivile Schiffe scharf geschossen. Das IMB stellt in seinem Bericht fest, dass die Piraten im Sommer weniger aktiv waren, zugleich aber der Aktionsradius ausgedehnt wurde. So gelang am 12. Juni die Entführung von MV CHARELLE (deutsche Reederei, Flagge Antigua& Barbados) etwa 60 sm südlich des Hafens von Sur (Oman).Ab Ende August nahmen die Aktivitäten der Piraten wieder zu, und gelegentlich konnten Schiffe gekapert werden.
Bis Ende Oktober, also nach Ende des Berichtszeitraums, gab es weitere erfolgreiche Überfälle. Alarmierend ist das Faktum, dass die Piraten dabei immer weiter entfernt vom somalischen Festland operieren.
So haben am 2. Oktober Piraten im Indischen Ozean rund 350 sm östlich der Ostküste Somalias einen spanischen Fischtrawler mit 36 Besatzungsmitgliedern, davon 16 Spanier, entführt. Die ALAKRANA gehört einer baskischen Reederei.
Am 19. Oktober meldete der Live Piracy Report des IMB: »0815 UTC: Posn: 01:53S – 060:05E, around 920 nm East of Mogadishu, Somalia. Pirates attacked and hijacked a bulk carrier underway.« Es handelt sich um den chinesischen Massengutfrachter DEXINHAI mit 25 Seeleuten, der Angriff erfolgte mitten im Indischen Ozean mit zwei Skiffs – und zwar außerhalb des Einsatzgebietes von Atalanta, das exakt bis 60° östlicher Länge (und 11° südlicher Breite) reicht.
Am 22. Oktober wurde das Ro-Ro Schiff MV JOLLY ROSSO (Flagge Italien) 400 sm östlich von Mombasa, Kenia (Position etwa 03S–046E), am frühen Morgen von zwei Skiffs aus beschossen, konnte aber der Kaperung entgehen. Etwa zur selben Zeit, also rund 06:00 Uhr morgens, wurde rund 570 sm östlich von Mogadischu auf der Position 04S–052E der Massengutfrachter MV KHALIQ von zwei Skiffs aus beschossen und gekapert – 26 Besatzungsmitglieder gerieten dabei in die Hand der Piraten, darunter 24 Inder.
Am 27.10. wurde der französische Fischtrawler CAP ST. VINCENT etwa 350 sm östlich von Mogadischu von zwei Skiffs angegriffen. Während auf den Funknotruf hin die Fregatte KARLSRUHE aus 50 sm Entfernung auf den Tatort zulief und den Hubschrauber der spanischen Fregatte CANARIAS dorthin dirigierte, wehrten die eingeschifften französischen Soldaten den Piratenangriff ab. Die 2 Skiffs konnten anschließend gestellt und die Piraten bei der Gegenüberstellung von den französischen Fischern identifiziert werden, sie wurden an Bord der KARLSRUHE festgesetzt. Stunden später stellte die KARLSRUHE auch das Mutterschiff der Piratenbande und versenkte es, die Besatzungsmitglieder, denen man die Tatbeteiligung nicht gerichtsfest nachweisen konnte, mussten mit einem kleinen Boot den Heimweg antreten.
Schon vor diesem erfolgreichen Zugriff hatten u.a. die Fregatte BREMEN, die spanische Fregatte CANARIAS und der französische Versorger SOMME mehrfach verdächtige Fahrzeuge durchsucht; wiederholt fand man ein großes Skiff mit zwei kleinen, ausgerüstet mit je zwei Außenbordmotoren (Fischer können sich solche Motorisierung nicht leisten) und vollgestopft mit Treibstofffässern, Männern und Waffen. Mehr als einmal filmten Bordhubschrauber, wie Waffen über Bord geworfen wurden. In allen diesen Fällen wurden den Verdächtigen Waffen und Treibstoff weggenommen, in einigen Fällen auch Boote versenkt.
Weitere schon länger bekannte Piracy Hotspots zeigen ebenfalls einen Anstieg der Überfallzahlen. Unter anderem wird das Südchinesische Meer wieder gefährlicher, hier waren in den letzten fünf Jahren nur selten Überfälle gemeldet worden, in den ersten drei Quartalen 2009 sind es schon 10 – und alle waren erfolgreich.
Verbesserte Seeraumüberwachung und aktive Suche
Die größeren gut organisierten Banden haben also nicht etwa aufgegeben, sondern ihr Jagdgebiet aus dem Golf von Aden wegverlegt, sie fahren immer weiter raus, was letztlich ihren logistischen Aufwand erhöht. Sie haben nach wie vor Erfolge.
Französische Marine bringt ein Piraten-Mutterboot auf Bildquelle: franz. Marine |
Bemerkenswert ist aber: Die Piraten sind nach dem Sommer deutlich weniger erfolgreich als im Winter und Frühjahr. Das hat seine Ursache in der veränderten Vorgehensweise der internationalen Streitkräfte. In den Weiten des Ozeans vor der Ostküste Somalias und Kenias waren die Piraten bisher sicher, ungestört operieren zu können. Mittlerweile wird aber im Vorfeld mit MPA und Drohnen eine ausgedehnte Seeraumüberwachung betrieben. Werden verdächtige Fahrzeuge entdeckt, entsendet man Fregatten zum Boarding. Frei nach dem Motto »Wer im offenen Boot mehr als 100 sm raus fährt, ist kein Sportfischer« erschwert man den Banden so das Handwerk. In mehreren dieser Fälle wurden in den letzten Monaten Waffen (Ak-47, RPG‑7, Sprengstoff) und größere Mengen Treibstoff beschlagnahmt und die Bootsleute mit einer Treibstoffmenge zurückgelassen, die gerade langt, den nächst erreichbaren Punkt an der somalischen Küste anzusteuern. Verhaftungen sind in der Regel nicht angezeigt, weil man den Bootsleuten keine konkreten Taten nachweisen kann.
Den betroffenen Gangs ist aber erst mal der Zahn gezogen nach solch einer »Interception«. Sie müssen sich in die Heimat durchschlagen (was lange dauern kann, denn der nächst erreichbare Strand ist nicht unbedingt der Herkunftsort) und ihre Ausrüstung neu beschaffen. An der geringen Erfolgsquote der Piratenbanden sieht man aktuell, dass diese Methode funktioniert, sie bedingt aber eine dauerhafte Präsenz von Kampfschiffen und MPA in den Gewässern am Horn von Afrika. Kurz: Auch die aktive Suche nach verdächtigen Fahrzeugen erzeugt keine absolute Sicherheit, aber ohne »Interceptions« wären die Piraten noch weit erfolgreicher.
Neben der Operation der EU Operation Atalanta und diversen nationalen Engagements existiert noch die NATO-Operation »Ocean Shield«. Sie ist aber letztlich eine Nullnummer, denn die RoE bleiben hinter denen von Atalanta zurück; deshalb wurde die Fregatte KARLSRUHE, die Ende August unter der NATO-Fahne ihre Fahrt in den Golf von Aden antrat, bei ihrer Ankunft im Operationsgebiet direkt dem Mandat der EU unterstellt – was schon allein deshalb Sinn macht, weil nur unter dem Mandat Atalanta verhaftete Piraten an Kenia überstellt werden können. Im Beschluss der NATO zur Operation Ocean Shield wird auch postuliert, man wolle die Anrainer im Kampf gegen die Piraten stärken – Ausbildung für Küstenwachen von Jemen oder Kenia wird aber bisher nicht durchgeführt, ebenso wenig wird die nötige Hardware zur Verfügung gestellt (etwa gebrauchte Patrouillenboote), ganz zu schweigen von einer wirksamen Unterstützung der Regierung in Mogadischu – Regierung von Somalia möchte man sie ja schon gar nicht mehr nennen.
Alle bisher praktizierten Vorgehensweisen bedingen eine ständige Aufrechterhaltung des Drucks und damit eine länger andauernde Präsenz von Seestreitkräften am Horn von Afrika. Dementsprechend hat der Ministerrat der Europäischen Union das EU-Mandat Atalanta schon am 15. Juni um genau ein Jahr verlängert, es gilt jetzt bis Dezember 2010. Der frühzeitige Verlängerungsbeschluss soll die Planungen für die »Truppensteller« unter den EU-Mitgliedstaaten erleichtern. Das Mandat des Deutschen Bundestages für die Deutsche Marine läuft am 15. Dezember dieses Jahres aus. Aus dem Deutschen Bundestag verlautete im August, dass die Fortsetzung von Atalanta für weitere zwei Jahre ins Auge gefasst werden müsse. Beschlüsse wurden vor der Bundestagswahl nicht gefasst.
Konkrete Äußerungen zur Entscheidung über die Verlängerung von Atalanta hatte es bis zum Redaktionsschluss nicht gegeben. Im Koalitionsvertrag heißt es aber unter der Überschrift »Internationale Einsätze und Instrumente deutscher Sicherheitspolitik«: »Im Zusammenhang mit der Piraterie- und Terrorismusbekämpfung am Horn von Afrika werden wir die Bemühungen um eine bessere Koordinierung der Einsätze fortsetzen und eine kritische Überprüfung der Vielzahl der Mandate mit dem Ziel der Reduzierung vornehmen. Vor dem Hintergrund der globalen Bedrohung durch die Piraterie streben wir die Errichtung einer Kammer zur Verfolgung von Piraterie beim Internationalen Strafgerichtshof an.«
Verbesserter Selbstschutz der zivilen Seeschifffahrt
Piratenattacken lassen sich nicht vollständig ausschließen, schon gar nicht in dem ausgedehnten Seegebiet zwischen Madagaskar und Oman und zwischen Ostafrika und Indien, dass regelmäßig von Dhaus und anderen Kleinfahrzeugen befahren wird. Im Golf von Aden ist die Nutzung Internationally Recommended Transit Corridor (IRTC) nicht zwingende Pflicht, aber faktisch unerlässlich, will man eine verlässliche Sicherheit für sein Schiff erreichen. Ansonsten bleibt theoretisch das Umfahren besonders gefährdeter Gebiete, also etwa der Gewässer nahe der Küste Somalias, was aber immer weniger Sicherheit bedeutet, weil die Somalis ihren Operationsradius ausdehnen.
Kampfschiffe sind nicht immer nah genug, um im Angriffsfall Hilfe zu leisten. Die Reeder stehen daher in der Pflicht, den Selbstschutz ihrer Schiffe zu optimieren: Die ständige Wachsamkeit der Seeleute ist gefordert, der Gebrauch der Möglichkeiten eines zivilen Seeschiffs (Ausweichmanöver, Druckwasserschlauch, ggf. technische Abwehrmittel) muss trainiert werden. Manche Schiffsentführung der letzen 18 Monate hätte sicher durch bessere Vorbereitung der Reise verhindert werden können. Die im gefährdeten Seegebiet operierenden Seestreitkräfte sind über die Kommunikationsschnittstellen in Bahrain und London erreichbar, schon bei der Routenplanung lässt sich der Aspekt der Nähe zu operierenden Einheiten zumindest für bestimmte Abschnitte einer Fahrtroute mit einbeziehen, wenn Reeder frühzeitig die Kommunikation mit den militärischen Stellen suchen.
Die Kosten steigen dadurch für die Reedereien – angesichts der enormen Belastungen durch real gewordene Entführungsfälle ist anzuraten, diesen Kostenanstieg bewusst zu akzeptieren. Enge Kommunikation und Kooperation von Reedern mit den Kontaktstellen der für Sicherheit sorgenden Seestreitkräfte wäre am Horn von Afrika ein praktischer Schritt hin zur vernetzten Seesicherheit in der Region. Sie könnte zum Vorbild werden für ein umfassendes Netzwerk der Seesicherheit, in das zivile Protagonisten ebenso eingebunden werden müssen wie Polizei und Seestreitkräfte – und das über allen stark befahrenen Seegebieten auf dem Globus gespannt werden sollte.